Читать книгу An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 19
FREITAG 2. JULI
ОглавлениеDie Propellermaschine landete kurz nach drei Uhr nachmittags auf dem Inlandsflughafen Bromma bei Stockholm. Der Mann mit der dunkelblauen Sporttasche erhob sich, sowie das Flugzeug zum Stillstand gekommen war. Er trug eine getönte Brille und hatte seine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Glücklicherweise hatte er allein in seiner Reihe gesessen, und so hatte niemand den Versuch machen können, ihn ins Gespräch zu ziehen. Die Flugbegleiterin hatte seine Ablehnung offenbar gespürt, sie hatte nur einmal diskret Kaffee angeboten und ihn danach in Ruhe gelassen. Als das Taxi sich der Innenstadt näherte, stieß er einen tiefen, erwartungsvollen Seufzer aus. Er freute sich auf das Treffen.
Er bat den Taxifahrer, einige Blocks von seinem Ziel entfernt zu halten. Er wollte keine Spuren hinterlassen. Stockholm zitterte in der Hochsommerhitze, und die Straßencafés, wo die Menschen einen Caffè latte oder ein Glas Wein genossen, waren überfüllt. Das Wasser unten beim Strandväg glitzerte, Motorboote und Passagierfähren waren ununterbrochen unterwegs, um Einheimische und Touristen zu den Schären zu bringen.
Er hatte sich in der Hauptstadt noch nie wohl gefühlt, aber an einem solchen Tag brachte sogar er ein gewisses Verständnis für alle auf, die Stockholm liebten. Die Menschen des Stadtteils, in dem er sich befand, waren gut angezogen, und er sah kaum jemanden ohne Sonnenbrille. Er lächelte belustigt – typisch Stadtbewohner. Als müssten sie sich beim geringsten Erleben von Natur schützen, mit irgendetwas ausrüsten.
In der Stadt war er ein Fremder, einer, der nicht zur Herde gehörte. Es war schwer, zu verstehen, dass die gut gekleideten Menschen, die zielstrebig um ihn herum über die Straßen eilten, wirklich seine Landsleute waren. Hier wussten alle, wohin es ging.
Das Tempo machte ihn nervös, alles musste schnell, schnell gehen. Als er bei einem Kiosk stehen blieb, um sich eine Dose Kautabak zu kaufen, und dabei nach Kleingeld suchte, spürte er die Ungeduld der Verkäuferin und der sich hinter ihm ansammelnden Schlange.
Das Haus hatte eine der vornehmsten Adressen der Stadt, und die Bäume am Straßenrand lieferten einen prachtvollen Rahmen. Er hatte sich den Türcode eingeprägt, und das massive Eichenportal glitt mit einer Geschmeidigkeit auf, die ihn überraschte. Im Treppenhaus war alles still. Ein Kristallleuchter hing unter der Decke, auf dem Boden lag ein dicker roter Teppich, der sich die ganze Treppe hochzog. Die Deckenhöhe war beeindruckend. Die strenge Vornehmheit und die tiefe Stille ließen ihn unsicher werden. Er blieb stehen und starrte die Namen auf der eleganten Tafel an der Wand an: von Rosen, Gyllenstierna, Bauerbusch.
Plötzlich kam er sich vor wie ein verschüchterter Junge. Ein Gefühl von Unterlegenheit und Minderwertigkeit überkam ihn, das er aus seiner Jugend kannte. Er gehörte hier nicht hin, er war eine Katze unter Hermelinen, er taugte nichts, er war nicht fein genug, um sich in diesem mit Marmor verkleideten Treppenhaus unter den vornehmen Menschen aufzuhalten, die hinter den dunklen Türen hausten. Eine Weile stand er da und rang mit sich. Er konnte jetzt nicht wieder auf die Straße hinausgehen, wo er so weit gekommen war. Er musste sich zusammenreißen, die Zähne zusammenbeißen. Es wäre nicht das erste Mal. Er setzte sich auf die unterste Treppenstufe, stützte den Kopf in die Hände und kniff die Augen zu. Konzentrierte sich und hatte zugleich Angst, jemand könne das Haus betreten. Schließlich konnte er wieder aufstehen.
Er beschloss, die vier Treppen zu Fuß hochzusteigen, obwohl es einen Fahrstuhl gab. Fahrstühle hatte er noch nie ertragen können. Vor der Tür blieb er stehen, um Atem zu holen. Sein Blick haftete an dem blanken Messingschild mit den verschnörkelten Buchstaben. Wieder wurde er unsicher. Natürlich hatten sie sich auch schon früher getroffen, aber nicht hier. Sie kannten einander ja kaum. Was, wenn der Mann, der ihn erwartete, nicht allein war? Mit zitternden Fingern zog er ein Taschentuch hervor. Aus den Nachbarwohnungen war kein Laut zu hören. Es gab keinerlei Lebenszeichen.
Wieder überkam ihn der Widerwille und wurde rasch stärker, vor seinen Augen wogte alles. Nicht schon wieder, dachte er.
Die nüchternen Wände, die ihn umgaben, schrumpften, kamen näher. Die Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf. Er würde das nicht schaffen, er musste kehrtmachen. Die Türen waren seine Feinde, sie bildeten Mauern, die ihn aussperrten, sie wollten ihn hier nicht haben. Der Porzellankrug im Fenster mit den prachtvollen weißen Azaleen schien ihn höhnisch anzugrinsen: Du hast hier nichts zu suchen, scher dich zurück in deinen Hinterhof.
Er stand da wie gelähmt und konzentrierte sich auf das Atmen, versuchte, sein Herz regelmäßiger schlagen zu lassen. An diesen Panikanfällen litt er schon, soweit er sich zurückerinnern konnte. Er würde gehen, jetzt hatte er sich entschieden. Er musste nur vorher noch Kräfte sammeln, sich darauf konzentrieren, nicht in Ohnmacht zu fallen. Das wäre doch dann reizend. Hier gefunden zu werden, bewusstlos auf dem Steinboden. Was für ein Anblick!
Tief unter sich hörte er, wie das Portal geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er wartete gespannt. Im Haus gab es fünf Stockwerke, und er stand im vierten. Wenn er Pech hatte, war jetzt jemand in die oberste Etage unterwegs.
Dann hörte er Schritte, die die Treppe hochkamen. Wenn jemand in den vierten Stock oder nach ganz oben wollte, würden sie sich unvermeidlich begegnen. Die Schritte waren jetzt deutlicher zu hören, irgendwer würde in der nächsten Sekunde auf der Treppe auftauchen, und er wollte es doch um jeden Preis vermeiden, hier gesehen zu werden. Rasch wischte er sich den ärgsten Schweiß aus der Stirn und holte tief Atem. Er musste jetzt hineingehen, musste sich zwingen, sich normal zu verhalten. Energisch drückte er auf den Klingelknopf.