Читать книгу An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt - Страница 9
ОглавлениеKriminalkommissar Anders Knutas entdeckte zu seiner Verärgerung, dass sich unter seinen Armen bereits Schweißflecken ausgebreitet hatten, als er seinen altehrwürdigen Mercedes vor dem Polizeidezernat parkte. Es war einer der seltenen Tage im Jahr, wo es sich quälend bemerkbar machte, dass der alte Wagen keine Klimaanlage hatte, und das war Wasser auf die Mühlen seiner Frau Line, die für die Anschaffung eines neuen Autos plädierte.
Normalerweise wäre er nicht auf die Idee gekommen, zur Arbeit zu fahren, denn sein Haus lag direkt vor der Söderport, nur wenige Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt. Knutas arbeitete seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei von Visby, und die Tage, an denen er nicht zu Fuß zum Dienst gegangen war, waren leicht zu zählen. Er machte oft beim Solbergabad Halt und schwamm dort einen oder zwei Kilometer. Im August würde er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern und in den letzten Jahren spürte er, wenn er sich nicht genügend bewegte. Er war sein Leben lang ziemlich schlank gewesen, und das sollte auch so bleiben. Nur verlangte das jetzt eben ein wenig Anstrengung. Das Schwimmen hielt ihn in Form und half ihm beim Denken. Je komplizierter der Fall war, an dem er arbeitete, umso häufiger suchte Knutas die Schwimmhalle auf. Der letzte Besuch lag jetzt allerdings schon einige Zeit zurück. Er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.
An diesem letzen Tag im Juni wollte die Familie zum Ferienhaus in Lickershamn fahren, um dort den Rasen zu mähen und zu gießen. Knutas hatte vor, früh Feierabend zu machen, um seine Frau nach Ende ihrer Schicht auf der Station im Krankenhaus abzuholen. Petra und Nils, die fast dreizehn Jahre alten Zwillinge, wollten überraschend ebenfalls mitkommen, obwohl sie derzeit zumeist die Gesellschaft ihrer Clique vorzogen.
Als er die Eingangstür durchschritt, empfing Knutas kühle Luft. Auf dem Gang des Kriminaldezernats herrschte Schweigen. Die Ferien hatten begonnen, und das spürte man.
Knutas’ engste Mitarbeiterin, die Kriminalinspektorin Karin Jacobsson, telefonierte, als er an ihrem Zimmer vorbeilief. Knutas und Karin arbeiteten seit fünfzehn Jahren zusammen und kannten einander auf professioneller Ebene gut. Wenn es um ihr Privatleben ging, war Karin allerdings umso verschwiegener.
Sie war achtunddreißig Jahre alt und lebte allein, Knutas hatte auch nie von einem Freund gehört. Sie wohnte mit ihrem Kakadu in einer Wohnung in Visby und widmete ihre Freizeit vor allem dem Fußball. Jetzt gestikulierte sie mit den Armen und redete mit lauter, eifriger Stimme. Sie war dunkelhaarig und nicht besonders groß, ihre braunen Augen blickten warm und wach, und sie hatte eine markante Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ihre Laune konnte sehr schnell umschlagen, und sie gab sich keine sonderliche Mühe, ihr heftiges Temperament zu zügeln. Sie war ein Farbtupfer in seiner Abteilung und ein Energiebündel, und ihre energischen Gesten bildeten einen scharfen Kontrast zu der eher tristen Umgebung aus herabgelassenen Jalousien und grau angestrichenen Bücherregalen.
Knutas ließ sich in seinen Sessel sinken und begann, die in den letzten Tagen liegen gebliebene Post durchzusehen. Unter den anonymen Behördenmitteilungen fand er eine bunte Ansichtskarte aus Griechenland. Das Bild zeigte eine typisch griechische Mahlzeit: Ein gegrillter Geflügelspieß stand mit einer Schale Tsatsiki und einer Flasche Wein auf einem runden Restauranttisch. Im Hintergrund war der Sonnenuntergang zu ahnen, und eins der beiden Weingläser auf dem blauen Tisch funkelte.
Auf der Karte stand:
»Das hier ist doch etwas anderes als gebratener Schafskopf mit Rübenpüree, nicht wahr, Knutte? Bin für zwei Wochen zum Faulenzen auf Naxos. Mach’s gut, vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.
Martin.«
Knutas musste einfach lachen. Typisch Martin Kihlgård, eine Ansichtskarte mit einem Essmotiv zu schicken. Der Ermittler vom Landeskriminalamt war die verfressenste Person, die Knutas jemals über den Weg gelaufen war – er aß ununterbrochen. Sie hatten einige Male bei Mordfällen zusammengearbeitet, wenn Verstärkung vom Landeskriminalamt angerückt war.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Gleich darauf wurde die Tür von seinem über zwanzig Jahre jüngeren Kollegen Thomas Wittberg geöffnet. Wittberg weigerte sich, seinen blonden Schopf zu schneiden, obwohl die Kollegen sich immer wieder darüber lustig machten. Das enge weiße T-Shirt betonte seinen sonnengebräunten Oberkörper, der regelmäßig im polizeieigenen Fitnesscenter trainiert wurde. Wittberg war ein Charmeur, und das wusste er sich bei den Touristinnen zunutze zu machen, sowie die Saison begonnen hatte. Der junge Inspektor witzelte über seinen Plan, Verhältnisse mit Frauen aus jeder Region Schwedens zu haben. Knutas bezweifelte nicht eine Sekunde, dass der Kollege dieses Ziel erreichen würde. Wittberg hatte, soviel Knutas wusste, noch nie eine Beziehung gehabt, die länger als einige Wochen gedauert hatte. Jeden Sommer wurde er auf der Wache von Frauen angerufen, und manche tauchten ohne Voranmeldung auf, um ihn zu treffen.
Auch bei der Arbeit nutzte er seinen Erfolg bei Frauen – und damit hatte er bei vielen Ermittlungen die Sache weitergebracht. Thomas Wittberg war rasch von der Ordnungspolizei über die Abteilung für Gewaltprävention zur Kriminalpolizei aufgestiegen, und seit einigen Jahren gehörte er selbstverständlich zu Knutas’ Kerntruppe. Jetzt zeigte der Ausdruck seiner intensiven blauen Augen, dass etwas Unvorhergesehenes passiert war.
»Stell dir vor«, sagte er und ließ sich, mit einem Papier in der Hand, in Knutas’ Besuchersessel sinken. Knutas konnte noch rasch sehen, dass der Zettel in Wittbergs unleserlicher Handschrift voll gekritzelt war.
»Auf einer Weide draußen in Petesviken ist ein Pferd enthauptet worden. Zwei kleine Mädchen haben das heute Morgen entdeckt.«
»Ja, um Himmels willen!«
»Gegen neun Uhr, als sie mit dem Rad zum Morgenbad zum Strand fahren wollten, haben die Mädchen entdeckt, dass ein Pferd fehlte. Und das fanden sie dann kopflos auf der Koppel.«
»Bist du sicher, dass sie sich das alles nicht nur ausgedacht haben?«
»Ihr Großvater, der Besitzer des Pferdes, hat sich schon davon überzeugt. Sie haben eben erst angerufen.«
»Was ist das für ein Pferd und wem gehört es?«
»Ein ganz normaler Gotlandsrusse. Der Besitzer ist ein Bauer, Jörgen Larsson. Er hat vier Pferde, die die Familie als Reitpferde nutzt, die anderen drei standen noch auf der Koppel.«
»Und sie sind unversehrt?«
»Sieht so aus.«
Knutas schüttelte den Kopf.
»Klingt ja komisch.«
»Und noch etwas«, sagte Wittberg.
»Was denn?«
»Der Kopf ist nicht nur abgetrennt worden. Er ist verschwunden. Der Bauer hat alles abgesucht, kann ihn aber nicht finden. Jedenfalls liegt er nicht in der Nähe des Pferdes.«
»Du meinst, dass der Täter den Kopf mitgenommen hat?«
»Das sollte man annehmen.«
»Hast du selbst mit dem Bauern gesprochen?«
»Nein, der Kollege, der gerade Telefondienst hat.«
»Hoffentlich zerstört der Bauer nicht jede Menge Spuren«, murmelte Knutas und streckte die Hand nach seiner Jacke aus. »Wir fahren sofort hin.«
Einige Minuten darauf waren Knutas, Wittberg und der Kriminaltechniker Erik Sohlman mit einem Streifenwagen auf dem Weg nach Süden. Sohlman gehörte zu den Mitarbeitern, die Knutas neben Karin am meisten schätzte. Temperament und Fußballbegeisterung hatten sie beide, doch Sohlman war verheiratet und hatte zwei Kinder.
»Was für eine Geschichte«, sagte der Techniker. Er strich sich die roten Locken aus der Stirn. »Das klingt nach einem geisteskranken Tierquäler.«
Knutas murmelte etwas Unverständliches.
»Erinnert ihr euch an den Traber, der bei einem Rennen in Skrubbs in Panik geraten und von der Bahn gerannt ist?« Wittberg beugte sich auf dem Rücksitz vor. »Der Kutscher fiel aus dem Sulky, und das Pferd lief davon. Ich glaube, wir haben eine Woche suchen müssen.«
»Genau, und es wurde im Wald bei Fallingbo tot aufgefunden«, fügte Knutas hinzu. »Der Wagen war zwischen zwei Bäumen stecken geblieben, und das Pferd war verdurstet.«
»Verdammt«, Sohlman schüttelte sich, »das war kein schöner Anblick.«
Sie fuhren weiter über die Küstenstraße und passierten schweigend Klintehamn, Fröjel und den kleinen Ort Sproge mit seiner schönen weißen Kirche. Dann bogen sie auf einen Kiesweg ab, eine lange gerade Strecke zum Meer, gesäumt von niedrigem Nadelgehölz. Bald hatten sie Petesviken erreicht. Hier lagen einige Höfe mit Blick aufs Meer nebeneinander. Hinter den Gattern weidete Vieh, und alles sah ungeheuer harmonisch und friedlich aus.
Vor Jörgen Larssons Hof stand ein Lastwagen neben einem neueren Opel auf dem mit Kies bestreuten Platz. Mehrere Kaninchengehege standen auf dem Rasen, und sie wurden von einem fröhlich mit dem Schwanz wedelnden Beagle empfangen. Ein Mann in Blaumann und Schirmmütze trat aus der Scheune, als der Wagen auf den Hofplatz fuhr. Der Mann nahm auf altmodische Weise die Mütze ab, als er die drei Polizisten begrüßte.
»Jörgen Larsson. Am besten fangen wir gleich an. Ja, das ist doch der reine Wahnsinn, man kann es nicht fassen, und die Tochter ist einfach außer sich. Es war ihr Pony, und wir wissen doch, wie das mit Mädchen in diesem Alter und ihren Pferden ist. Man kann ja nicht begreifen, wie jemand so etwas tun kann, es ist einfach unvorstellbar.«
Ein Redeschwall sprudelte aus ihm heraus, und keiner der Polizisten kam zu Wort, als der Bauer auch schon über den Hof auf die Koppel zulief.
»Ja, die Frau und die Kinder sind schrecklich traurig, es ist ein einziges Chaos. Sie stehen total unter Schock.«
»Klar«, sagte Knutas. »Ich verstehe.«
»Der Pontus, wissen Sie, der war was ganz Besonderes«, sagte Jörgen Larsson. »Die Kinder konnten problemlos auf ihm reiten, und sie konnten wirklich machen, was sie wollen. Nach einem lieberen Gaul müsste man lange suchen, er war so lieb, dass es schon an Dummheit grenzte, verstehen Sie, sie haben ihn gequält, als sie noch klein waren, haben ihn am Schwanz und an der Mähne gezogen, und er hat es sich gefallen lassen, verstehen Sie. Ja, er war ja nicht mehr der Jüngste, fünfzehn Jahre, früher oder später hätten wir ihn zum Schlachthof schicken müssen, aber ein paar Jahre hätte man ihm doch noch gegönnt, statt dass es so ein Ende nimmt. Das hätte man sich doch nie im Leben vorstellen können.«
»Nein«, unterbrach Knutas teilnahmsvoll, »wissen Sie ...«
»Ja, ich habe das Pferd gekauft, als wir den ersten Jungen bekamen, dachte, es wäre doch nett für ihn, reiten zu können, wissen Sie. Wir haben hier auf dem Land ja nicht viel anderes als die Tiere, und einen Hund haben wir natürlich, eine Hündin, die gerade Junge hat, und kleine Katzen haben wir fast ununterbrochen – diese Katze wirft an die vier-, fünfmal pro Jahr, und da müssen wir ja wohl zulangen und sie unschädlich machen, ja, Sie verstehen, was ich meine. Wir haben uns auch Kaninchen zugelegt, und auch die haben Junge. Ja, die Kinder haben doch sonst nicht viele Beschäftigungen, und es interessiert sie auch, und sie möchten gerne bei den Kühen und den Kälbern helfen, und dafür muss man natürlich dankbar sein. Für ihr Interesse.«
»Aber ...«, versuchte Knutas erneut.
Der Bauer achtete nicht auf ihn, sondern redete weiter.
»Der älteste Junge ist sechzehn und arbeitet schon wie ein ganzer Mann, wenn er aus der Schule nach Hause kommt. Jeden Tag, wissen Sie, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Wir haben vierzig Milchkühe und fünfundzwanzig Kälber. Mein Bruder und seine Frau arbeiten auch auf dem Hof, er gehört uns allen, sie wohnen in der anderen Richtung, hinter der Wegkreuzung. Sie machen gerade Urlaub, auf Mallorca, aber sie kommen morgen zurück, und ich habe sie noch nicht angerufen, um zu erzählen, was hier Schreckliches passiert ist. Das würde sie nur unnötig beunruhigen, da kann ich auch warten. Aber das ist wirklich ein starkes Stück, wissen Sie, so etwas habe ich noch nie erlebt.«
Knutas starrte Jörgen Larsson an, der kaum Atem holte, ehe auch schon der nächste Redeschwall losbrach. Sie hatten das Tor erreicht, und der Bauer deutete mit seinem groben Finger zu dem Wäldchen hinüber.
»Da liegt das Pferd ohne Kopf. Ja, so etwas Schreckliches habe ich noch nie gesehen. Dieser Mistkerl muss doch eine Menge Arbeit damit gehabt haben, den Kopf abzukriegen, ich weiß nicht, ob er ihn abgesägt oder abgehackt hat oder was auch immer.«
»Wo sind die anderen Pferde?«, ging Knutas lautstark dazwischen, um das ausschweifende Gerede des Bauern zum Verstummen zu bringen.
»Ja, die haben wir in den Stall geholt. Vielleicht will er denen ja auch etwas tun, das kann man doch nicht wissen. Aber sie scheinen unversehrt zu sein. Die Schafe lassen wir draußen«, sagte Jörgen Larsson und schien sich dafür entschuldigen zu wollen, »denen scheint das nicht so viel auszumachen.«
Knutas hatte den Versuch aufgegeben, dem Bauern irgendeine Frage zu stellen, er schwieg. Das hatte Zeit bis später.
Jörgen Larsson öffnete das Tor und verscheuchte die Schafe, die sich um seine Beine drängten. Knutas, Wittberg und Sohlman versuchten, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Über dem Pferdekadaver kreiste eine große Krähenschar.
Mitten in der idyllischen Sommerszenerie aus Pferdekoppeln, grünem, zum Meer hin abfallendem Hang und funkelnder Bucht lag ein muskulöses Pony mit rundem Bauch und buschigem Schwanz, dessen Hals in einer einzigen großen, blutigen Wunde endete.
»Wer zum Teufel macht so etwas?«, entfuhr es Knutas.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fehlten dem Bauern die Worte.