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Оглавление6. Grenzsicherung
10. September 1939
Schon bei Tagesanbruch waren Walter und seine Kameraden aufgebrochen. Von Clausen aus erreichten sie Waldfischbach nach wenigen Kilometern Fahrtstrecke. Dort fanden sie sich jeden Morgen ein, um neue Befehle aufzunehmen. Da er mit seinem Feldwebel fuhr, gehörte er immer zu denen, die früh wussten, was zu tun war. Dann ging es wieder Richtung Westwall. Dort standen schon die Kameraden aller Einheiten des M10 Bataillons bereit. In Windeseile reihten sich die Männer ein und erwarteten die Kommandos. Heute stand sogar der Spieß vor ihnen und dirigierte irgendwelche Schreiben hin und her. Offenbar gab es neue Anweisungen. Immerhin hatten die Franzosen und die Engländer Deutschland den Krieg erklärt. Niemand wusste, was sie vorhatten. Diese Unklarheit verstärkte Walters Zweifel. Denn auch wenn die Propaganda stets darstellte, wie gut die deutschen Truppen aufgestellt seien: Er erlebte es täglich anders. Sie waren längst nicht genug Soldaten, um die Grenzsicherung sinnvoll zu gestalten. Als er gestern ein Gespräch von Kameraden mitgehört hatte, die in einem Bunker ihren Dienst absolvierten, der noch gar nicht fertig gebaut war, hatte er kalte Hände bekommen.
»Wenn da was drauffliegt, ists vorbei mit uns«, hatte einer der Männer gesagt.
Walter fröstelte. Er reckte den Hals, um den Spieß noch besser sehen zu können.
»Bischoff, Jahnen, Keller: Ihr sichert die Brücke am Laufersbach. Aufgepasst! Die Franzmänner lauern überall. Und ihr seid ganz nah an der Grenze. Es gibt keine Kompromisse. Der Befehl lautet: uneingeschränkte Grenzsicherung. Zugleich wisst ihr, dass wir nicht zuerst schießen.«
Walter schulterte sein Gewehr und beobachtete die Kameraden dabei, wie sie sich marschbereit machten.
Hans streckte den Arm und knallte die Stiefel gegeneinander. »Zu Befehl!«
Im Vorbeigehen klopfte Schmittchen Walter auf die Schulter. »Passt auf euch auf. Derzeit ist alles unberechenbar.«
Walter zwinkerte seinem Truppführer zu. »Wir sind doch deutsche Soldaten.«
Vor der Kaserne stand schon ein Militärfahrzeug für sie bereit. Walter nahm das Gewehr ab und rutschte auf den Sozius-Sitz. Hans, der sich tags zuvor seine dunklen Haare hatte kurz scheren lassen, setzte sich hinters Steuer. Seine Kappe verdeckte die kahlen Stellen über dem Ohr nur unzureichend.
»Mit Kurts Friseurkünsten ist es nicht weit her«, sagte Walter grinsend.
»Wohl wahr«, antwortete Hans. »Warte nur, wenn ich mich für den Schnitt revanchiere.« Er drehte den Zündschlüssel des neuen 901er Horch, einem bequemen und vor allem geländegängigen Wagen, der die Pferde überflüssig machte. »Dann wollen wir mal.«
Sie fuhren durch Pirmasens, vorbei an den leer stehenden Häusern, in denen noch vor wenigen Tagen Leben geherrscht hatte. Die Straßenbahnschienen lagen verwaist vor ihnen und hätte Hans nicht vor sich hingesummt, wäre außer dem Motorengebrumm nichts zu hören gewesen.
»Gespenstisch ist das«, murmelte Walter und schüttelte den Kopf. »Ob das nötig war?«
»Was?«
»Die Menschen hier alle wegzuschicken.«
Hans zuckte die Achseln.
Keller tippte Walter von hinten auf die Schulter. »Besser eine leere Stadt als eine tote Stadt.«
Walters Gedanken wanderten zu seinen Eltern. Wo sie wohl sein mochten? Vor seinem inneren Auge tauchte Mutters angsterfülltes Gesicht auf, als sie damals von seiner Einberufung erfahren hatte. Er schüttelte den Kopf. Es war alles gut so wie es gekommen war. Endlich verdiente er sein eigenes Geld und hatte eine Aufgabe. Nicht immer nur Vaters Vieh versorgen und Milch ausfahren. So gern er seinem alten Herrn geholfen hatte. Noch viel lieber hätte er in der Fabrik gearbeitet oder als Schreiner. Er erinnerte sich gut daran, wie sein ältester Bruder Jakob ihn immer gelobt hatte, weil er so geschickt mit dem Holz hantierte. Das Schnitzmesser, das ein Geschenk Jakobs an ihn war, hielt er seit seinem zwölften Geburtstag in Ehren.
Jetzt jedoch war es wichtig, dem Land zu dienen. Genau wie seine Brüder. Emil war voller Begeisterung eingerückt. Ernst wollte nicht. Doch all seine erfundenen Zipperlein hatten nichts geholfen. Jetzt war er irgendwo im Reichsinnern. Und Albrecht hatte sich aus Polen gemeldet, dass er nicht direkt an der Front diente. Das war eine Erleichterung. Friedrich, der stets besonnene und zurückhaltende unter den sechs Brüdern hatte ernsthaft überlegt, sich zu verstecken. Doch dann konnten ihn die anderen überzeugen, den Dienst fürs Vaterland anzutreten. Nur Jakob war nicht eingezogen worden. Mit seinen einundvierzig Jahren war er zu alt. Außerdem hatte er ein Kriegsleiden von 1916 und wurde schon deshalb nicht mehr gebraucht.
Seine Berichte von den metzelnden Franzosen, die ihm sein Bein zerschossen hatten, jagten Walter immer wieder Schauer über den Rücken. Die Schweinehunde! Man musste sich vor ihnen in Acht nehmen, das wusste er. Doch dann verdrängte er die trüben Gedanken und rief sich die Wiesenfeste in Erinnerung, in denen sie daheim hinterm Haus saßen und Mutters Erbsensuppe schlürften. Das war immer eine Freude. Und die Gespräche mit Ernst, der ihn als Einziger nie spüren ließ, dass er der Jüngste war. Die Geschwister fehlten ihm. Er nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Briefe an alle zu schreiben.
»Männer haltet die Augen auf«, mahnte Hans und deutete auf die ersten Bäume des Waldstückes, dem sie sich näherten.
Walter richtete sich auf und auch Keller auf der Rückbank rührte sich.
Er umklammerte den Schaft seiner Waffe, ließ den Blick schweifen. Sonnenstrahlen drangen durch die kahl werdenden Bäume und warfen helle Streifen auf den Weg. Sie erreichten eine Schneise, die von Hecken umgeben war.
Hans bremste. Seine kräftige Hand, unter der Walters sich locker verstecken konnte, umklammerte den Schalthebel. Zum ersten Mal wirkte auch Hans angespannt. Kein lockerer Spruch, die Augen zusammengekniffen. »Ab hier gehen wir besser zu Fuß«, flüsterte er, ohne seinen Blick vom Waldrand zu wenden.
Der Motor verstummte, Hans zog den Schlüssel ab und öffnete die Wagentür. Sogleich brachte er die Waffe in den Anschlag.
»Ist was?«, fragte Keller, dessen Aufregung deutlich zu hören war.
»Nein.« Hans sprang aus dem Auto. »Die scheißen sich doch vor uns in die Hose.« Er drehte sich um und grinste. »Wenn die Herren aber nun endlich auch aussteigen würden.«
Das Laub raschelte unter Walters Füßen. Er atmete flach, trotzdem rauschte ihm das Blut in den Ohren. Die beiden Kameraden waren ein ganzes Stück entfernt. Ihnen sollte er Deckung geben. Jetzt galt es, alles, was er gelernt hatte, umzusetzen. Den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, schlich er weiter. Seine Aufmerksamkeit galt Hans, der sich mit seiner katzengleichen Art von Baum zu Baum vorwärtsbewegte. Walters Zeigefinger lag auf dem Abzug. Die Muskeln waren zum Platzen angespannt. Da! Was war das? Schlagartig ging er in die Knie, legte die Waffe an. Das Auge am Zielfernrohr visierte er die gegenüberliegenden Büsche an, die etwa dreißig Meter von ihm entfernt waren. Regte sich dort wahrhaftig ein Franzose? Blitzte da ein Gewehrkolben im Sonnenlicht? Flugs robbte Walter hinter einen dicken Kiefernstamm. Zwischen den herausragenden Wurzeln fühlte er sich sicherer.
Plötzlich fiel ein Schuss. Gefolgt von einem kurzen Aufschrei. Hans? Walter presste die Lippen aufeinander. Von dort, wo er seine Kameraden gerade noch gesehen hatte, hörte er jetzt das Kommando: »Haben wir euch! Los! Rauskommen!«
Wieder raschelte Laub, bewegten sich Büsche und dann erkannte er sie. Seine beiden Kameraden trieben zwei französische Soldaten vor sich her. Er richtete sich auf. Der Blick eines der Franzosen ging an Walter vorbei. Plötzlich drehte der Kerl sich um.
Walter legte die Waffe an, entsicherte. »Rauskommen! Sofort!», brüllte er.
Keller schoss in die Luft. Im gleichen Moment knallte eine Kugel in den Baumstamm neben Walter. Er drückte ab. Ein kurzes Aufjaulen. »Rauskommen!« Seine Stimme überschlug sich.
Hans hatte ihm den Rücken zugedreht und Walter sah, dass der Kamerad einem seiner Gefangenen den Gewehrlauf ins Genick hielt. »Euer Kamerad stirbt!«, brüllte er.
Jetzt rührte sich etwas in der Hecke. Drei Franzosen traten aus dem Dickicht heraus. Einer hielt sich den Arm. Habe ich den getroffen?, schoss es Walter durch den Kopf. Dann war das die Vergeltung für Jakob.
Die anderen beiden reckten jeder eine Hand in die Höhe. In der anderen hielten sie ihre Waffen.
»Hinlegen!«, befahl Keller und deutete auf die feindlichen Waffen.
Die olivgrüne Uniformjacke des Ersten stand offen. Als er sein Gewehr zu Boden warf, erkannte Walter ein großes Wundmal auf dessen Brust. Kurz darauf fiel auch die zweite Waffe. Keller nahm sie an sich. Den fünf Gefangenen banden sie die Hände zusammen.
»Schluss ists mit Krieg spielen gegen die deutsche Übermacht.« Walter dirigierte die Männer zum Wagen. Einer brabbelte irgendwas von Kindern in gebrochenem Deutsch. Die anderen schwiegen.
Die Franzosen wurden in den Wagen gedrängt. Wie Ölsardinen zusammengepfercht lagen die fünf Kerle hinten.
Hans setzte sich ans Steuer und Walter neben ihn. Keller, der Haudegen, gewann seine Sicherheit zurück. Er stellte sich auf den Türrahmen neben Walter und hielt die Beifahrertür fest. »Los gehts!«