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Оглавление11. Mein Held
30. Juni/1. Juli 1940
Elisabeth lief zu der kleinen Bank am Waldrand und setzte sich. Unzählige Male hatte sie seine Zeilen in den letzten Tagen gelesen. Bevor sie den Brief herausnahm, roch sie am Papier. Nahm sie tatsächlich nach wie vor Walters Duft wahr oder bildete sie sich das ein? Mit geschlossenen Augen schob sie ihre Nase in den Umschlag, sog erneut tief die Luft ein. Fast war es, als spürte sie seine liebevollen Hände auf ihrer Haut, als streichelte er ihre Wange, küsste ihre Stirn, hielte sie in den Armen.
»Wo du jetzt wohl bist?«, fragte sie und betrachtete den Brief, als könnte er ihr antworten. Sie wiegte das Papier in der Hand, las Walters Zeilen erneut und versuchte, sich vorzustellen, wie weit er nun von ihr entfernt war. Nach Maßweiler zu den Verwandten waren es zwei Stunden mit dem Fahrrad. Wie viele Stunden es zu Walter sein würden? Doch so sehr sie sich auch bemühte: Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Entfernung zwischen ihnen beiden lag.
Am Abend zog sie sich in ihre Stube zurück, legte Papier und den Füllhalter bereit und begann zu schreiben.
Lieber Walter,
Wo bist du jetzt, während ich dir schreibe? Ich mache mir viele Gedanken um dich. Vater sagt, der Führer hat einen Plan. So schnell haben die Belgier und Luxemburger aufgegeben. Und die Holländer waren ebenfalls keine Gefahr. Sicher haltet ihr auch die Franzosen in Schach, meint Vater. Wird er recht behalten und du kehrst bald siegreich nach Hause zurück? Dennoch, es ist keine leichte Zeit. Ich wünschte, du wärst da. Aber ich weiß, du bist im Dienst für Führer, Volk und Vaterland, und wenn du wiederkehrst, habe ich einen Helden an meiner Seite.
Bei uns in der Arbeit ist alles beim Alten. Der Chef lässt sich immer noch von mir seine Hinterlassenschaften wegbringen. Das bin ich langsam leid. Ich bin keine Dienstmagd. Vielleicht komme ich ja bald nach Kaiserslautern. Die brauchen Helfer. Jeder Fabrikant muss Arbeiterinnen abstellen. Dann müsste ich endlich keinen Nachttopf mehr umhertragen. Ach, ich weiß auch nicht, was gut ist. Gut ist, wenn du da bist.
Die Milch schmeckt nicht mehr so süß ohne dich. Der Weg zum Bauern ist so leer, wenn niemand unterwegs wartet. Jedes Mal denke ich an dich und wünschte, du wärst da.
Sind die alten Kameraden noch bei dir? Anni fragt oft nach euch.
Für heute will ich schließen.
Ein Kuss
Elisabeth
Auf dem Umschlag notierte sie seinen Namen und die Feldpostnummer. Drei Mal kontrollierte sie, um keinen Fehler zu machen. Dann schob sie den Brief unter ihr Kopfkissen. Morgen würde sie ihn mitnehmen und zum Postamt bringen.
Der Chef hatte sie zu sich bestellt und sah sie mit besorgter Miene an. »Lisbeth, es ist so weit. Du gehörst zu denen, die nach Kaiserslautern gehen.«
Sie war also dabei.
»Morgen hast du dich an der Bahnstation Waldfischbach einzufinden. Von dort fahrt ihr mit der Bahn nach Kaiserslautern.«
»Morgen schon?«
Er nickte. »Es ist ja nicht für immer. Sobald die kriegswichtigen Dienste erledigt sind, kommst du wieder zu uns.« Herr Kolb erhob sich von seinem Stuhl, schritt um den wuchtigen Schreibtisch und schob sie an der Schulter aus seinem Büro. Wie ein Eisklotz fühlte sich seine Hand an.
Unsicherheit kletterte in Elisabeth hoch. Ihre Knie wurden weich und sie hielt sich an der Wand fest, um nicht umzukippen. Die ganze Zeit hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl wäre, endlich hier wegzukommen. Aber jetzt? Kein Feierabend mehr mit Anni. Keine Mittagspause daheim. Was Walter wohl zu alledem sagte? Und wie die Mutter das fand, dass sie jetzt jeden Tag nach Kaiserslautern fahren musste?
Wortlos verließ sie das Büro ihres Chefs und setzte sich an ihren Arbeitsplatz. Ihren letzten Tag in der Fabrik wollte sie ordentlich zu Ende bringen. Während sie die Arbeitszeit damit zubrachte, die Sohlen mit dem stinkenden Kleber zu bestreichen, wanderten ihre Gedanken immer wieder in die Zukunft.
»Mädel, pass auf dich auf«, mahnte der Vater, als Elisabeth sich in aller Frühe zu Fuß auf den Weg machte.
Sie nickte und winkte ab. »Wird schon alles gut gehen.«
»Du bist kriegswichtig. Das ist eine Ehre.« Stolz schwang in Vaters Worten mit und in Elisabeths Ohren klang das wie ein Lob.
Sie hatte erfahren, dass auch zwei junge Frauen aus dem Nachbarort für den Kriegsdienst ausgewählt worden waren. In der Hoffnung, die beiden irgendwo zu treffen, eilte sie zum Waldrand. Der kürzeste Weg zum Waldfischbacher Bahnhof führte hier entlang. Die Luft war feucht vom nächtlichen Tau und kühlte Elisabeths Wangen. In der Morgendämmerung lief sie mit großen Schritten zwischen den Bäumen hindurch. Zum Glück ging es bergab, so konnte sie zwischendurch rennen. Bald sah sie die ersten Häuser im Tal und atmete erleichtert auf. Jetzt war es nicht mehr weit. Was war das? Frauenstimmen. Schon erkannte sie die Silhouetten der beiden Frauen. Sie ging direkt auf die beiden zu, nickte kurz und scherte dann vor ihnen ein.
»Bist du allein?«
»Ja. Ich muss nach Waldfischbach. Kriegsdienst. In Kaiserslautern.«
»Wir auch!«, antworteten die beiden wie aus einem Mund.
»Ich weiß. Und ich bin übrigens die Lisbeth.«
»Christa«, stellte sich die Größere der beiden mit den langen blonden Zöpfen vor.
»Marlene«, sagte die andere, die einen Rock trug, der dem Sonntagsgewand von Elisabeths Mutter ähnelte. Zur Begrüßung hielt sie Elisabeth die Hand entgegen. »Da werden wir künftig wohl öfter gemeinsam unterwegs sein.«
Am Bahnhof herrschte bereits reges Treiben. Bestimmt zwanzig junge Frauen, die Elisabeth alle etwa in ihrem Alter schätzte, standen beieinander und sahen sich erwartungsvoll um. Einige redeten leise. Die Anspannung war ihnen anzumerken. Auch Elisabeths Herzschlag beschleunigte sich.
Aus dem Bahnhofsgebäude trat ein stattlicher Mann in Wehrmachtsuniform. Die Kappe schob er auf das pomadengeschmierte Haar. Dann reckte er den Arm zum deutschen Gruß.
Elisabeth stimmte in den Antwortchor der Frauen ein.
»Meine Damen, Sie leisten vom heutigen Tage an kriegswichtige Dienste. Wir fahren nach Kaiserslautern. Das Reich braucht flinke und zarte Finger.«
Ungläubig betrachtete Elisabeth ihre Hände. »Du und deine Wurstfinger«, hatte die Mutter schon so oft gesagt, wenn Elisabeth beim Sticken oder Stricken wieder einmal nicht zurechtkam. Von wegen zart. Wenn das mal gut geht, dachte sie bei sich. Sie ließ sich auf einer der Holzbänke im Wartebereich nieder. Es war ein merkwürdiger Gedanke: Sie sollte für den Führer dienen. Für das Reich. Genau wie Walter. Aber was sollte sie tun? Er hatte zwar schon einige Briefe geschickt. Doch daraus wurde sie nicht schlau und konnte sich nicht vorstellen, was genau er in Frankreich tat.
Die eintreffende Dampflok malte dunkle Wolken in den morgendlichen Himmel. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen. Der Boden schien unter der Last des Stahlkolosses zu vibrieren. Das war bestimmt ein leises Zittern vor dem, was sie erwartete.
Schweigend bestieg Elisabeth den Zug, und als dieser sich in Bewegung setzte, verstummte auch das letzte aufgeregte Geschnatter der anderen jungen Frauen.
Insekten surrten durch die Luft und am Horizont färbte sich der Himmel orangerot. Mit lautem Quietschen bremste der Zug im Kaiserslauterer Bahnhofsgelände und in stillem Gleichklang verließen die Frauen die Abteile. Auf dem Bahnsteig standen zwei uniformierte Männer.
»Heil Hitler!«, rief der Dürre mit der spitzen Nase.
Elisabeth reckte den Arm und unterstützte gehorsam die Antwortsalve der Gruppe.
Nun meldete sich der zweite Soldat zu Wort. »Es ist schön, dass ihr alle gekommen seid. Die wichtigen Aufgaben für das Reich liegen nun auch in euren Händen.« Er deutete den Frauen an, ihm zu folgen und Elisabeth setzte sich mit der Gruppe in Bewegung. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit und sie fragte sich, ob das Stolz oder Angst war, was sie verspürte.
Bald erreichte der Tross das große Gelände der Firma Pfaff. Elisabeth erinnerte sich, dass ihr Chef von den Nähmaschinenwerken gesprochen hatte. Aber was sollte man in einem solchen Werk Kriegswichtiges arbeiten können?
Ein schriller Pfiff riss sie aus ihren Gedanken. Auf einem Podest stand ein Mann mit dunklem Vollbart und glatt gekämmtem Seitenscheitel. Er trug einen grauen Anzug und eine gestreifte Krawatte. Obwohl sie einige Meter entfernt zwischen vielen anderen Frauen stand, spürte sie seine Kraft und die Souveränität, die er ausstrahlte.
»Meine Damen, wir werden Sie jetzt in Gruppen aufteilen und zu den Arbeitsstationen bringen. Es ist wichtig, dass Sie äußerst akkurat arbeiten und Ihr Fingerspitzengefühl walten lassen. Nur wenn Sie hier ordentliche Arbeit abliefern, können wir unsere Soldaten an der Front gut versorgen. Und Sie wollen ja nicht, dass Ihr Bruder, Ehemann oder Vater mit Rohrkrepierern zu kämpfen hat, oder?«
Gemurmel drang an Elisabeths Ohr. Was hatte der gesagt? Was würde es sein, das sie hier zu tun bekam? Sie faltete die feucht gewordenen Hände und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Denn sofort sah sie Walter vor sich, wie er sein Gewehr in den Anschlag legte, abdrückte und … Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie schloss für einen Moment die Augen. »Hör auf, so was zu denken!«, befahl sie sich selbst und wandte sich den anderen Frauen zu. Aus den vorderen Reihen setzten sich mehrere kleine Gruppen in Bewegung. Männliche Stimmen brüllten durcheinander.
»Hierher!«
»Kommen Sie!«
»Dort in die Halle.«
Der Platz leerte sich zusehends und schließlich kam ein Mann, gelehnt auf einen Stock mit einer viel zu weiten Hose, hinkend näher. Er deutete auf sie und auf verschiedene Frauen, die um sie standen. »Ihr geht mit mir.«
Elisabeths Hals war trocken. Sie hüstelte, doch das raue Gefühl wurde sie dadurch nicht los.
»Wir gehen in die hintere Werkshalle«, erklärte der Blonde mit dem Hinkebein.
Elisabeth beobachtete ihn. Sein rechtes Bein schien steif zu sein. Durch den Stock und seinen schweren Gang wirkte er viel älter, als er tatsächlich sein konnte.
»Bestimmt Kinderlähmung«, murmelte eine Frauenstimme hinter ihr.
Sie drehte sich kurz um.
Da blieb der Mann plötzlich stehen, der dies offensichtlich gehört hatte. »Bevor ihr jetzt sinniert, was ich hier mache, warum ich hinke und wieso ich euch was zu sagen habe, will ich euch das gern mitteilen. Es war eine Granate aus 1918. Die habe ich beim Spielen gefunden. Zack zerfetzt.« Mit dem Stock klopfte er gegen sein kaputtes Bein. »Als Krüppel darf man nicht an die Front. Aber ich will mein Land, den Führer, unterstützen. Ich will dazugehören, wenn wir bald sagen dürfen, dass uns die ganze Welt gehört.« Er riss den Arm empor und als sein »Heil Hitler!« mit gewaltiger Stimme über das Gelände hallte, stockte Elisabeth der Atem. Doch dann durchfuhr sie ein besonders wohliges Gefühl. Das, was er gesagt hatte, leuchtete ihr ein. Dass sie auch ein Teil des Erfolges sein würde, klang wunderbar.
Die Produktionshalle roch durchdringend nach Motorenöl und kaltem Schweiß. Elisabeth rümpfte die Nase. An Fließbändern standen unzählige Frauen. Ein ohrenbetäubender Lärm erfüllte den Raum, was den Eindruck erweckte, der Boden unter ihren Füßen bebte.