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Оглавление3. Feierabend
1. September 1939
Die schrille Glocke läutete den Feierabend ein. Elisabeth ließ den Karton mit Schuhteilen an der Wand entlang zu Boden rutschen. Ihr Rücken schmerzte. In der Stepperei im Nebenraum wurden Stühle gerückt. Alle Arbeiterinnen hatten es jetzt eilig, nach Hause zu kommen. Elisabeth trat aus dem Lagerraum heraus, in dem sie den ganzen Nachmittag Kisten gepackt und beschriftet hatte. Einige Frauen ächzten beim Aufstehen. Wenn ich nur mal hätte sitzen dürfen, dachte Elisabeth bei sich. An der vordersten Steppmaschine reckte Anni die Arme in die Luft. Mit ihr, die ebenso alt war wie Elisabeth und ganz in ihrer Nähe wohnte, hatte sie sich angefreundet.
Sie griff nach der Liste, die auf dem kleinen Tischchen neben der Tür lag, und notierte die Anzahl der Schuhe, die sie verpackt hatte. Dann eilte sie zum Büro ihres Chefs.
Herr Kolb lehnte am Schreibtisch, den Blick nach draußen gerichtet. Erst als Elisabeth die Tür aufschob, drehte er sich zu ihr um und fixierte sie.
Sie legte die Liste vor ihm ab und lächelte ihn kurz an. »Schönen Abend noch«, presste sie hervor, versuchte allerdings seinem Blick auszuweichen.
»Gleichfalls«, gab er freundlich zurück. Als sie den Raum schon wieder verlassen hatte, rief er ihr hinterher: »Gute Arbeit, Elisabeth!«
Sie sprang die letzten beiden Stufen des Backsteinbaus hinunter. Es staubte, als sie auf der Straße landete. Anni, die auf sie wartete, grinste schelmisch. »Du kannst es nicht lassen, gell?«
Ausgelassen hakte Elisabeth sich bei ihrer Freundin unter. »Feierabend. Da werde ich wieder munter.«
Obwohl es schon später Nachmittag war, brannte die Sonne noch vom wolkenlosen Himmel.
»Jetzt freue ich mich auf ein kaltes Pfefferminzwasser.« Elisabeth malte mit dem Zeigefinger ein Glas in die flirrende Luft.
»Pfefferminzwasser. Prost!« Anni löste sich aus ihrem Arm und stob mit dem Fuß eine Staubwolke auf.
»Hör auf, sonst sehen wir aus wie die Feldarbeiter.« Elisabeth schubste ihre Freundin in die Seite. Beide beschleunigten ihre Schritte, winkten den Frauen zu, die in ihren Gärten arbeiteten, beobachteten den alten Höffner, der seinen Zaun reparierte, und hatten bereits die Dorfmitte passiert, als sie ein Knattern vernahm, das immer lauter wurde. Sie sah sich um, konnte aber nichts erkennen. Mit gerunzelter Stirn musterte sie die hinter ihnen liegende Straße.
»Das werden die Soldaten sein.« Anni hielt inne, drehte sich auch um. »Die wohnen doch jetzt hier. Bei Buckels im Gasthaus.«
»Soldaten?« Elisabeth zog die Stirn kraus. »Du spinnst ja. Was sollen denn wir hier im Dorf mit Soldaten?« Doch irgendwie machte sich ein Gefühl von Unsicherheit in ihr breit, das sie nicht erklären konnte. So war sie froh, als das Motorengeräusch verstummte, ohne dass sie etwas gesehen hatte. Was auch immer das für ein Fahrzeug gewesen sein mochte, es war nicht mehr zu hören und das war gut so.
Zu Hause ließ Elisabeth das kalte Wasser in Vaters Schoppenglas laufen und gab drei Tropfen von dem Essigwasser hinzu, das ihre Mutter mit Pfefferminze angereichert hatte. Sie nahm ein paar kräftige Schlucke von dem kühlen Getränk und stellte dann prustend das Glas ab.
In diesem Moment betrat ihre Mutter mit rotem Kopf die kleine Küche unter der Dachschräge. Vor Kurzem hatte Elisabeth mit ihren Eltern die viel zu enge Zwei-Zimmer Wohnung in Clausen bezogen. Mit ihrem achtjährigen Bruder Karl teilte sie sich ein Zimmer, das durch die beiden Betten und eine kleine Kommode komplett ausgefüllt war. Jetzt glühten die Räume unter der Spätsommersonne. Die Luft war stickig.
Mutter hievte den großen Weidenkorb mit der nassen Wäsche auf den Küchentisch.
»Warum hast du mich nicht gerufen? Ich hätte dir doch geholfen.« Elisabeth sah ihre Mutter verständnislos an.
»Hab dich nicht kommen hören«, gab die knapp zurück.
Elisabeth zog den Korb zu sich, wollte gerade nach der Hose ihres kleinen Bruders greifen, da hielt ihre Mutter sie zurück. »Geh lieber Milch holen.« Sie drückte Elisabeth die Kanne in die Hand.
Elisabeths Schultern sackten nach vorn. Da war sie froh, endlich zu Hause zu sein, und jetzt sollte sie noch mal durchs Dorf. Unwillkürlich fiel ihr wieder das komische Motorengeräusch ein und dass Anni erzählt hatte, es wohnten Soldaten im Gasthaus. Mit denen wollte sie nichts zu tun haben. Aber um zum Becker-Bauern zu gelangen, musste sie dort vorbei. Sie wusste, wenn ihr die Mutter etwas auftrug, gab es keine Widerrede. Also eilte sie die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg. Diesen Gang wollte sie so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Nun gelangte das Dach des Gasthauses in ihr Blickfeld. Ob da wirklich Soldaten einquartiert waren? Das machte ihr Angst. In Gedanken summte sie vor sich hin. Doch nicht einmal damit gewann sie ihre Leichtigkeit zurück.
Sie war nur noch ein paar Schritte von dem großen Gedenkkreuz in der Dorfmitte entfernt, da entdeckte sie tatsächlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Männer, die Uniformen trugen.
Anni hatte recht, dachte sie. So oft hatten ihre Eltern in den vergangenen Wochen von der Ruhe vor dem Sturm gesprochen. Wann immer der Vater vom Kriegswinter 1917 von seiner Gefangenschaft in Belgien und den ewigklammen Klamotten auf dem Leib berichtete, schauderte es Elisabeth jedes Mal. Was würde die jungen Burschen erwarten, die jetzt dort drüben standen? Sollten auch sie gegen übermächtige Gegner antreten müssen? Oder wenn gar der Vater nochmals in einen Krieg ziehen müsste? Was sollte dann aus ihnen werden?
Ihre Hände wurden feucht und sie krallte die Finger fester um den hölzernen Griff der Milchkanne. Nur nicht hinüberschauen, befahl sie sich selbst und beschleunigte ihren Schritt.
Gemurmel drang herüber. Die Soldaten schienen sich angeregt zu unterhalten. Jetzt pfiff einer anerkennend und Elisabeth stieg die Hitze ins Gesicht. Sie zwang sich, auf den Boden zu schauen und war froh, als sie an der Kirche vorbei und um die Kurve gebogen war.