Читать книгу Da, wo du bist ... - Marion Bischoff - Страница 14
Оглавление9. Deine Adresse
11. März 1940
Wochen und Monate vergingen, in denen Walter und seine Kameraden Tag für Tag ihren Dienst entlang des Westwalls antraten. Es hatte ein paar Scharmützel mit den Franzosen gegeben. Kleinere Übergriffe auf deutsche Stellungen. Doch nach dem Führerbefehl, keinesfalls selbst anzugreifen und noch viel weniger die Grenze zu überschreiten, gab es nur ganz selten Schüsse zu hören. Stattdessen befanden sich die beiden Parteien im Sitzkrieg.
Wenn Walter davon erzählte, musste Elisabeth immer grinsen. Ein Krieg, bei dem man sich gegenübersaß. Das hörte sich gut an. Mit jedem weiteren Tag verringerten sich auch ihre anfänglichen Sorgen um ihn. Und sie genoss die Momente, in denen sie ihn traf. Das taten sie inzwischen in jeder freien Minute. Heimlich natürlich, denn die Mutter hätte kein Verständnis dafür gehabt. Bereits die Tatsache, dass er nicht von hier war, würde reichen, ihn nicht zu akzeptieren. Zudem erwähnte sie ständig, dass Elisabeth viel zu jung sei für eine Heirat. Wenn überhaupt, müsste es irgendwann einmal ein reicher, stattlicher Mann sein.
Manchmal hatte sie den Eindruck, die Mutter ahnte etwas und versuchte, ihr Walter auszureden. Wann immer sie sie darauf ansprach, wich Elisabeth aus, denn sie wollte nicht lügen. Zugleich durfte sie die wertvolle Zeit mit Walter nicht gefährden. Wer wusste schon, was es an Verboten hageln würde, wenn … Nein nicht daran denken, wurde ihr zur Devise. Viel lieber wollte sie sich auf das nächste heimliche Treffen freuen.
Oft stand Walter am Straßenrand, wenn Elisabeth vom Milch holen oder von der Arbeit kam. Dann redeten sie kurz. Manchmal guckte er sich verlegen um, und wenn niemand zu sehen war, berührte er für einen Augenblick ihre Hand. Dann sausten die Schmetterlinge durch ihren Bauch und sie wäre ihm am liebsten in die Arme gefallen. Doch das traute sie sich nicht. Vielmehr hielt sie den Atem an und hoffte, dadurch dieses angenehme Kribbeln festhalten zu können.
Zu Weihnachten hatte er ihr ein Sternchen aus Silbermetall geschenkt, das er selbst angefertigt hatte. Seither trug sie es bei sich. Bei Gelegenheit wollte sie sich eine Öse anbringen lassen. Doch vorerst steckte sie es in ihren Büstenhalter, denn da war sie sicher, dass niemand es zu sehen bekam. Und sie konnte Walter immer ganz nah an ihrem Herzen spüren.
Als das neue Jahr anbrach, hatte sich die Gelegenheit ergeben, Walter in der alten Scheune zu treffen. Ihre Mutter war mit Karl unterwegs gewesen und der Vater bei der Arbeit. In Windeseile machte Elisabeth sich auf den Weg. Die hereinbrechende Dunkelheit half ihr, nicht gesehen zu werden.
In der Scheune roch es nach trockenem Heu. Walter zündete die kleine Kerze an, die er mitgebracht hatte. Er tropfte etwas Wachs auf einen Stein und drückte den Kerzenstummel darauf. Den Stein stellte er auf den Boden. In sicherer Entfernung zur Kerze schob er einen Heuhaufen zusammen, setzte sich hinein und streckte seine Hand nach Elisabeth aus. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Da konnte auch die kühle Luft in der Scheune nichts dran ändern. Unsicher lächelte sie ihn an, ließ sich von seiner Hand einfangen und rutschte an seinem Oberkörper entlang auf seinen Schoß. Sein Atem streichelte ihre Stirn, seine Lippen berührten ihre Wange und schließlich vereinigten sie sich mit ihren zu einem Kuss. Elisabeth schloss die Augen und alles um sie schien sich zu drehen. Walters Hände streichelten sacht ihren Rücken. Seine muskulösen Arme umschlossen sie. Noch nie im Leben hatte Elisabeth sich so sicher und geborgen gefühlt wie in diesem Moment.
So genau wusste sie auch nach seinen vielen Schilderungen nicht, worin seine Arbeit eigentlich bestand. Seit Monaten erzählte er davon, dass sich die Situation an der Westfront nicht verändere. Alle paar Tage sehe er einen Franzosen beim Rundgang. Doch die waren fast immer friedlich. Bisher hatte es nur wenige Zwischenfälle gegeben, bei denen ein paar Übermütige versucht hatten, in die deutschen Linien zu gelangen. Einmal hatte Walter von einem Angriff erzählt, bei dem ein Kamerad ziemlich schwer verletzt worden war. Doch meistens redete er nur davon, dass alles recht friedlich sei und er gar nicht wusste, wie lange das noch so weitergehen sollte. Doch im Grunde war er zufrieden, besonders, was seinen Sold betraf, und sagte, es sei eine gute Arbeit. Irgendwann sprach er davon, es könnte möglicherweise doch einen Angriff auf Frankreich geben. Er hätte da so was läuten hören.
Sie erinnerte sich noch genau, wie sie ihn erschrocken angeschaut und er sie gleich wieder beruhigt hatte. An einem anderen Tag meinte er, er könnte bald nach Hause gehen, weil die Franzosen offenbar Schiss hätten, die deutsche schlagkräftige Übermacht anzugreifen. »Die haben wohl kapiert, dass es ihnen wie den Polen ergeht, wenn sie sich mit uns einlassen. Außerdem haben wir die am Westwall das Fürchten gelehrt.
Und so ersehnte sie jeden Tag, Walter zu sehen und nicht irgendwann von der Kunde überrascht zu werden, dass er nach Hause gehen wollte. Ja, sie hoffte gar, sein Dienst zur Grenzsicherung möge ewig dauern.
Als sich der Winter verabschiedete und einem nasskalten Frühjahr Platz machte, war Walter weiterhin in Clausen. Elisabeth freute sich, dass seine Einschätzung nicht richtig gewesen war, denn offenbar war die Gefahr durch die Franzosen doch noch nicht gebannt. Welch ein Glück. Wer wusste, was sonst aus ihnen geworden wäre. So freute sie sich über jeden neuen Tag, an dem zumindest die Möglichkeit gegeben war, ihn zu sehen.
An diesem Tag im März nahm sie wieder einmal die Milchkanne und nickte ihrer Mutter zu.
»Zieh dir was an, damit du keinen nassen Kopf bekommst.«
Elisabeth knöpfte ihren Wintermantel zu, band sich gehorsam den Wollschal um den Kopf und verließ das Haus. Es dämmerte bereits und in der Regen-Nebel-Suppe wirkte ohnehin alles düster. Hoffentlich ist Walter da, dachte sie und ein warmer Schauer durchfloss sie beim Gedanken an seine zärtlichen Hände.
Mit immer ausladenderen Schritten lief sie die Straße entlang, umrundete gekonnt die Pfützen. Sogar die sonst so eifrig scharrenden Hühner hatten sich ob des regnerischen Wetters in die Höfe zurückgezogen. Hier und da war ein leises Gackern zu hören. Sonst war es still.
Gleich würde sie den Gasthof erreichen. Ihr Herzschlag ging schneller. Da! Walter! Jetzt rannte sie.
Er sah sich kurz um, breitete die Arme aus und fing sie auf. Seine Uniform war nass. Doch es störte sie nicht, dass ihre Wangen die Regentropfen von dem kratzenden Stoff aufsammelten. Sie ließ die Milchkanne fallen, umfasste Walters Taille und schmiegte ihren Kopf an seine Brust.
»Komm mit.« Walter schob sie in den Hof hinter einen Bretterverschlag. Er lächelte, seine Augen glänzten und seine Lippen näherten sich ihren. Wie ein Blitzschlag durchfuhr es sie, als sie sich berührten, seine weichen Lippen die ihren verschlossen und sie in ihm versank.
Alles um sie herum war fern von Zeit und Raum. Sie fühlte sich der Unendlichkeit geschenkt. Doch da richtete Walter sich auf, schob sie ein Stückchen von sich, strich über seine Uniformjacke. »Ich muss dir was sagen.«
»Was ist los?« Elisabeths Muskeln verkrampften sich.
Er druckste. »Ich muss weg.«
»Weg?«
Mit einem kaum erkennbaren Nicken bestätigte er seine Aussage.
»Wohin?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Schulterzuckend senkte er den Kopf, schob mit den Stiefeln die nasse Erde zu einem Häufchen zusammen.
»Polen?« Ein eiskalter Schauer jagte über ihren Körper, denn sie wusste, dass die Familie Müller ein paar Häuser weiter ihren Sohn in Polen verloren hatte.
Als Walter den Kopf schüttelte, atmete sie auf.
»Ich denke, es geht gen Westen. Aber noch ist alles geheim. Wir haben nur den Stellungsbefehl bekommen. Zunächst einmal fahren wir nach Nackenheim am Rhein. Zur Ausbildung.«
»Wann?« Obwohl sie geahnt hatte, dass dieser Tag kommen musste, fühlte sie sich mit einem Mal schrecklich leer. Wie einsam würden die Tage erst sein, wenn er nicht mehr in ihrer Nähe war?
»Bald.« Hörbar sog er die Luft ein. »Morgen.«
»Das heißt …« Die Tränen stiegen ihr in die Augen. Der Versuch, ihren Schmerz hinunterzuschlucken, misslang. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, streckte sich und legte den Kopf in seine Halsbeuge. Tief atmete sie seinen Geruch ein. Den wollte sie sich bewahren. Leise Tränen rannen über ihre Wangen und benetzten Walters Haut. Seine Hand ruhte zwischen ihren Schulterblättern. Jedes Mal, wenn sie schluchzte, erhöhte er den Druck seiner Handfläche.
»Sei nicht traurig. Ich komme bald wieder. Und ich schreibe dir.«
Sie nickte.
»Gibst du mir deine Adresse?« Er nestelte einen Zettel und einen Bleistiftstummel aus der Tasche.
Mit zitternden Fingern schrieb sie ihre Adresse auf das Papier, drückte es ihm in die Hand. Noch einmal versank sie in seinen wunderschönen dunklen Augen, in denen sie ebenfalls Tränen blitzen sah. Dann grapschte sie nach der am Boden liegenden Milchkanne und lief los. Sie drehte sich nicht mehr um. Diesen Schmerz konnte sie nicht ertragen.