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10. Antreten!

10./11. Mai 1940

Walter erschrak, stellte sich aufrecht hin, schob den Helm zurecht, schlug die Hacken der Stiefel zusammen. Mit ausgestrecktem Arm grüßte er zackig: »Zu Befehl!«

»Die MG in Anschlag und feuern!«, befahl der Leutnant im Vorbeigehen. Erst seit wenigen Tagen war er mit dem MG Bataillon 10 unterwegs. Unzählige Male hatten sie in den vergangenen Tagen diese Übungen gemacht. Walter, der als Gefreiter schon seit einiger Zeit am Maschinengewehr ausgebildet wurde, brachte auch jetzt seine Waffe in Position. Er feuerte auf die in den Boden gesteckten Holzstäbe, die er durch das Zielfernrohr sah. Jede dieser Gewehrsalven ließ ihn beben, doch es dauerte nicht lange, da bildete sein Körper eine Einheit mit der Waffe. Ihm war klar, dass er bald auf lebendige Ziele, auf Menschen schießen würde. Vor seinem inneren Auge blickte er ins Gesicht eines Franzosen. Oder war es ein Engländer? Auf jeden Fall war es ein Feind.

Nach einer Weile ohrenbetäubenden Kugelhagels wurde es langsam leiser. Schmittchen, der nach wie vor Walters Trupp führte, übernahm wieder das Kommando und gab mit einem Handzeichen zu verstehen, dass die Übung beendet war. Er winkte Hans heran. Der kroch aus dem provisorischen Schützengraben, den sie extra für das Manöver ausgehoben hatten.

Der Kamerad zog Hans und Walter näher zu sich. »Heute Nacht geht es los. Wir holen uns Frankreich«, murmelte er verschwörerisch.

Walter war mulmig zumute. Seit sie vorgestern damit begonnen hatten, die Fahrzeuge zu beladen, fühlte er sich schon so. Jetzt, wo es endgültig losging, wuchsen seine Zweifel erneut.

»Wir werden sie überraschen.« Schmittchen zwinkerte den beiden zu. »Die werden schon sehen, was es heißt, sich mit uns anzulegen.«

Den Worten seines Vorgesetzten, der ihm neben Hans zum Freund geworden war, entnahm Walter die große Zuversicht eines schnellen Sieges und ließ sich davon anstecken. Alles wird gut. Unzählige Male wiederholte er gedanklich diesen Satz. Dann dachte er an Elisabeth. Ob man daheim vom bevorstehenden Angriff wusste? Ob sie stolz auf mich ist, wenn sie davon erfährt, grübelte er und verspürte einen unbändigen Drang, ihr zu schreiben.

»Was ist? Du guckst so bedröppelt.« Hans schubste ihn an.

»Ich habe nur gerade gedacht, dass ich heute noch einmal einen Brief schreiben werde.«

»Mein lieber Freund. Dieses Mädel hat dir ordentlich den Kopf verdreht.«

Ein Lächeln breitete sich auf Walters Gesicht aus. Er holte einen Bleistift und das Papier, das er sich von seinem Sold gekauft hatte, zog sich auf einen Baumstumpf zurück und begann zu schreiben.

Liebe Elisabeth

Nun sind schon einige Wochen vergangen, seit ich dich zuletzt gesehen habe. Wenn ich die Augen schließe, fühle ich deine weichen Lippen, deine zarte Wange und ja, ich kann dich riechen.

Bei uns geht es nun bald weiter. Raus aus dem Übungsfeld, raus aus dem Vaterland in unbekanntes Gebiet. Wir sind gut vorbereitet. Bald schon werde ich wieder bei dir sein. Das verspreche ich. Denn am liebsten bin ich da, wo du bist. Bitte schreibe mir, wie es dir in der Zwischenzeit ergangen ist. Was macht die Arbeit? Wie ist das Wetter daheim? Und was spricht dein Herz?

Ich umarme dich, ich küsse dich.

Dein Walter

Noch einmal las er seine Worte, stellte sich vor, wie Elisabeth den Brief öffnete, während er ihn akkurat zusammenfaltete. Den Umschlag beschriftete er mit ihrer Adresse. Dabei sah er ihr Gesicht vor sich. Das entlockte ihm ein wohliges Gefühl von Wärme und Geborgenheit.

Stockdunkel war es, als die Soldaten ihre Marschverpflegung in die Taschen packten und die Gewehre schulterten. Die Panzertrupps waren bereits vorausgefahren. Jetzt dröhnten die Motoren der näherkommenden Geländefahrzeuge und Lkws. Eine Handvoll Schützenpanzerwagen konnte er erkennen. Walter hoffte, auf einem der Fahrzeuge Platz zu finden und nicht zur Fußtruppe eingeteilt zu werden. Langsam rollten die Lkws mit der Marschverpflegung an ihnen vorbei. Auf dem Übungsgelände reihten sie sich auf, um hinter den Truppen herzufahren und Munition und Proviant zu transportieren.

Walter richtete den Gurt seines Maschinengewehres, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. »Es geht los«, flüsterte er und verdrängte das leise Grummeln in der Magengrube.

Der Befehl eines Kompaniechefs hallte durch die kühle Nachtluft. »Männer auf die Fahrzeuge.«

Schon fuhren die Mannschaftswagen vor und Walter stellte sich in die Reihe der aufsteigenden Soldaten. Neben ihm kletterte Hans auf die Ladefläche eines Lastwagens und ließ sich auf einen Sitz fallen. Walter rutschte neben ihn. Sogleich setzte sich der Tross in Bewegung.

»Hast du gehört? In Belgien geht es über die Grenze. Wir nehmen die Maginotlinie von Norden«, flüsterte einer der anderen Männer, dessen Namen Walter gerade nicht einfiel. Belgien? Was redete der denn? Walter zuckte mit den Schultern und gab sich dem Schweigen hin. Die Achsen des LKW quietschten, als die Fahrzeugkolonne über die Hügel der Hunsrückhöhenstraße holperte.

Die Nacht deckte das Leben zu und Walter konnte sich überhaupt nicht orientieren. Simmern, wo sie in den vergangenen Wochen ihre letzten Ausbildungsinhalte gelernt hatten, lag im Schlaf. Irgendwie hatte er den Eindruck, sie fuhren wahrhaftig nicht in südlicher Richtung, also offenbar nicht direkt nach Frankreich hinein. Während er den Gesprächen der Kameraden lauschte und dabei auf der holprigen Strecke ordentlich durchgeschüttelt wurde, hörte er, wie einer vehement erklärte, dass man dem Befehl Erich von Mansteins folgen und die Franzosen über die Niederlande und Belgien angreifen würde. Der Name war ihm geläufig, man sagte über den Generalmajor, er sei ein operativer Stratege und Heeresplaner.

»Ja, aber …«, warf einer ein, den Walter im Dunkel nur schemenhaft erkennen konnte. »Sind die Belgier nicht neutral?«

»Haha! Nicht mehr lange. Dann sind sie nämlich in deutscher Hand.«

Walters Muskeln verkrampften sich. Ob das alles so richtig war? Was, wenn die Belgier mit einem Angriff rechneten und sie längst erwarteten? Hatte nicht Elisabeth von der Gefangenschaft ihres Vaters erzählt? Von den grauenhaften Zuständen und ihrer Angst, so etwas könnte erneut passieren. Auf gar keinen Fall wollte er den belgischen Umgang mit den deutschen Soldaten kennenlernen. Mit einem Räuspern machte er auf sich aufmerksam. »Vielleicht ist das alles nur eine Finte. Wahrscheinlich nutzen wir nur die belgischen Straßen und Wege, um zu unserem Hauptziel zu kommen.«

In der gegenüberliegenden Sitzreihe ertönte Gemurmel. Einer tippte sich gegen die Stirn.

Hans, der bislang stillschweigend neben ihm gesessen hatte, mischte sich ein: »Hört doch auf mit euren Spinnereien. Es kommt, wie es kommt. Was haben wir denn schon zu bestimmen? Wir gehen dahin, wohin der Befehl uns schickt.«

Der Mond glitzerte im Moselwasser, als sie den Fluss überquerten und sich damit bereits in Luxemburg befanden. Stunden später fuhren sie über die belgische Grenze. In der Morgendämmerung erreichte die Kolonne ein menschenleer erscheinendes Dörfchen. Waren sie etwa schon in Frankreich? Doch die Franzosen würden sie gewiss nicht kampflos empfangen. Alles wirkte ruhig. Ob sich die Menschen aus Angst vor ihnen verschanzt hatten? Walter beobachtete die Häuserreihen aus zusammengekniffenen Augen. Er stellte sich vor, was geschehen würde, wenn vielleicht doch plötzlich jemand angriff. Was wäre, wenn die Franzosen Lunte gerochen hatten und hier überall auf sie warteten? Er schüttelte den Kopf, um die wirren Gedanken zu verdrängen. So ganz gelang es ihm nicht. Ein Blick in die Gesichter seiner Kameraden verriet, dass auch einige von ihnen sich unwohl fühlten.

Ob die Alliierten etwas ahnten vom deutschen Vordringen? Unwillkürlich griff Walter nach dem Maschinengewehr, das er zwischen den Beinen eingeklemmt hatte. Allein die Hand an der Waffe zu haben, beruhigte ihn. Auf einmal bremste der Fahrer.

»Los Männer! Die Häuser durchsuchen. Jeder, der sich wehrt, wird festgenommen. Zeigt den Belgiern, dass die deutsche Übermacht hier ist.« Das war ein Befehl.

Walter sprang mit den Kameraden aus dem Wagen. In Windeseile bildeten sie Drei-Mann-Gruppen und stürmten die umliegenden Gebäude. Einer drückte das Gartentor auf und dann polterte er gegen die Eingangstür. Bevor jemand auf das Klopfen reagierte, schob er die Tür auf. Die genagelten Stiefelsohlen klackerten auf dem Holzboden des Hauses. Walter brachte seine Waffe in Anschlag, einer der anderen öffnete die erste Zimmertür.

»Herauskommen!«, rief er und betrat den Raum mit ebenfalls erhobener Waffe. Walter gab seinen Kameraden Deckung, drehte sich zwischendurch immer wieder um, weil er den Eindruck hatte, er wurde beobachtet. Doch er konnte nichts erkennen. Einen Raum nach dem anderen suchten sie ab. Es war kein Mensch zu finden. Durch den Hinterausgang betraten sie den idyllischen Garten. Neben einem Rosenbusch, dessen Knospen schon am Aufspringen waren, stand ein alter Mann, der Walter auf den ersten Blick an seinen Großvater erinnerte. Der Grauhaarige mit den tiefen Falten auf der Wange zitterte und sein Gesicht war fahl.

»Los los, Alter. Wo sind die anderen?«, brüllte Walters Kamerad.

Der Greis zuckte die Achseln.

»Wo sind sie?« Die Stimme des Soldaten klang rasiermesserscharf.

»Vielleicht ist er allein«, warf Walter ein.

»Allein? In so einem großen Haus?« Der Kamerad schubste den Alten an.

»Lass ihn doch. Er hat die Lektion verstanden.« Walter beschwichtigte. Der alte Mann tat ihm leid.

»Ihr seid besiegt!«, plärrte der Kamerad und stieß den Gewehrkolben gegen das Bein des Mannes.

Dann zog er ab und zerrte auch den dritten Mann im Bunde mit sich. Walter folgte den beiden, drehte sich aber noch einmal zu dem Hausbewohner um und nickte ihm freundlich zu.

Auch aus den anderen Häusern kehrten die Soldaten wieder zurück.

Schmittchen schob einen Gefangenen vor sich her. »Der hat sich zur Wehr gesetzt!«

Zwischen den Fahrzeugen stand der Zivilist umringt von deutschen Soldaten.

Wieder ergriff Herbert Schmitt das Wort: »Hast du uns was zu sagen?«

Der Belgier schüttelte den Kopf. »Isch möschte nur …«

»Was ihr möchtet bestimmen jetzt wir! Ihr habt verloren! Belgien ist deutsch.« Aus den Reihen der Soldaten erklang diese Stimme und alle johlten. Walter grinste. Das war eine ordentliche Ansage für den Aufmüpfigen.

Schließlich ließen sie den Mann wieder laufen. Aus einigen Fenstern wehten ihnen weiße Stofflappen entgegen. Menschen standen vor ihren Häusern und klatschten.

»Seht ihr, die freuen sich, dass wir da sind«, rief einer.

So kann es weitergehen, dachte Walter, der wieder auf dem Lkw saß. Er beugte sich vornüber, um den Staub von seinen Stiefeln zu wischen.

Wenig später setzten sie ihre Fahrt ohne weitere Komplikationen fort. Jetzt war auch das Ziel klar: hinter den Panzern her durch die Ardennen zur Maas und dann nach Frankreich. Paris einnehmen. Das ganze Land besetzen. Wahrhaft ein kluger Schachzug vom Führer, dachte Walter und rieb sich die Hände. Damit rechneten die Franzosen gewiss nicht.

Da, wo du bist ...

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