Читать книгу Da, wo du bist ... - Marion Bischoff - Страница 6
Оглавление1. Schuhfertigung – von wegen!
August 1939
»Ach, Lisbethchen, da bist du ja endlich.«
Elisabeth machte einen Knicks und presste die Lippen zusammen. Wie sie das hasste! Diese anbiedernde Freundlichkeit, die nicht ernst gemeint sein konnte. »Morgen«, nuschelte sie und vermied es, ihren Chef anzusehen.
»Ist das nicht ein wunderschöner Tag heute? Die Sonne strahlt, die Vögel zwitschern«, säuselte er, drehte sich mit einer ausladenden Armbewegung um seine füllige Achse und blieb erst stehen, als seine Hand das hölzerne Treppengeländer berührte. Er strich sich durch das von Pomade glänzende Haar und trommelte mit seinen Wurstfingern auf dem Knauf des Geländers, das mit den feinen Schnitzereien besser in ein Schloss als in eine Schuhfabrik gepasst hätte.
Elisabeth antwortete nicht. Sie legte die Hände aufeinander und harrte auf seine Anweisungen, die unweigerlich folgen würden.
Herr Kolb schob sich an ihr vorbei und betrat die Fabrikräume. »Du weißt, was zu tun ist?« Die Fettwulst unter seinem Kinn wabbelte, als er mit dem Kopf die Stufen hinauf deutete. Elisabeth nickte. Ihr Magen krampfte sich zusammen und allein beim Gedanken daran, die nächtlichen Hinterlassenschaften ihres Vorgesetzten und seiner Familie zu entsorgen, würgte es sie. Dass dies zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, obwohl sie keine Hausangestellte war, sondern in der Fabrik arbeitete, war ihr von Anfang an unmissverständlich klargemacht worden. Als Jüngste der Angestellten war sie selbstredend auch für diese hauswirtschaftlichen Dienste verantwortlich.
Mit jeder Stufe, die sie den Schlafstuben des Fabrikanten näherkam, fühlten sich die Beine bleierner an. Auf dem Podest hielt sie einen Augenblick inne, lauschte und wusste, alle Familienmitglieder waren ausgeflogen. »Das ekelhafteste zuerst«, murmelte sie und öffnete die Tür zum Eltern-Schlafzimmer. Sofort stach ihr der Geruch von abgestandenem Urin in die Nase. Reflexartig hielt sie sich eine Hand vors Gesicht. Im Dämmerlicht schob sie einen Fuß vor den anderen. Seit sie einmal in den Nachttopf getreten war, ließ sie besondere Vorsicht walten. Zugleich kochte sie vor Zorn, weil die Familie es nicht für nötig hielt, wenigstens die Vorhänge zu öffnen und das Tageslicht hereinzulassen. Das elektrische Licht anzuknipsen, wagte sie nicht in Erinnerung an den Tobsuchtsanfall ihres Vorgesetzten vor einigen Wochen. Damals hatte sie sich erlaubt, den Lichtschalter zu betätigen.
Endlich konnte sie den Vorhangstoff fühlen. Sie schob die Gardine auf und öffnete das Fenster ganz weit, beugte sich über den Sims und atmete tief durch. Dann drehte sie sich um. Vor dem Bett stand der Nachttopf. Ein weißes Emaillegefäß mit blauem Blümchenmuster und voll gelber Brühe. Noch schlimmer empfand sie allerdings die Ränder auf dem Holzfußboden. Ob er das extra macht?, fragte sie sich wie so oft und stellte sich den Dicken vor, wie er breitbeinig über dem Nachttopf stand und es plätschern ließ. Oder sollte er beim Aufstehen dagegen gestoßen sein und seine Hinterlassenschaften waren übergeschwappt?
Elisabeth griff das Gefäß und trug es bedächtig die Treppe hinunter. Dabei atmete sie so flach es ging.
Der Urin brach sich in kleinen Wellen an der Emaillewand des Nachttopfes.
Unten im Hof leerte sie die Brühe auf den Misthaufen und beeilte sich, wieder ins Haus zu kommen. Sie wusch den Nachttopf in der Putzkammer aus, holte Eimer und Bürste, füllte heißes Wasser ein und gab einen kräftigen Schuss Schmierseife hinzu.
Dann lief sie zurück ins Schlafzimmer. Dort zerrte sie die schweren Bettdecken der Kolbs heraus und hängte sie ins offene Fenster. Die Kopfkissen legte sie obendrauf.
Schließlich kniete sie sich auf den Fußboden, tauchte die Bürste in den Eimer und schrubbte über die hässlichen Ränder auf den Dielen. Nach und nach färbte sich das Holz dunkel. Elisabeths Oberarme schmerzten, doch sie feuerte sich selbst an, um möglichst schnell fertig zu werden.
Nachdem der Boden rundum feucht war, klopfte sie das erste Kissen am Fenster aus, brachte es zurück zum Bett und zurrte das Leintuch glatt. Bedächtig legte sie das Kissen auf seinen Platz zurück und strich mehrfach über den Stoff, um nur ja keine Falten zu hinterlassen. Genauso akribisch ging sie beim zweiten Kissen und den Bettdecken vor.
Zum Schluss kippte sie das Fenster und zog die Tagesgardine zu.
Ehe sie den Raum verließ, drehte sie sich noch einmal um und betrachtete zufrieden ihr Werk.
Die Kinderzimmer waren schnell erledigt und dann konnte sie sich endlich der Beschäftigung widmen, die ihr wirklich Spaß machte: In der Schuhfabrik arbeiten.
Die älteren Arbeiterinnen hatten ihr bereits einiges beigebracht, seit sie im Juni mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder Karl nach Clausen gezogen war. Wenn Herr Kolb wüsste, dass sie mit Marie gesteppt hatte … Elisabeth grinste bei der Vorstellung seines empörten rotfleckigen Gesichtes.
Nähmaschinengeratter drang ihr entgegen, als sie durch die breite Tür mit der milchigen Scheibe in den Fabrikraum trat. In Dreierreihen saßen die Frauen hier in der weitläufigen Fertigungshalle und erledigten ihre Arbeit.
»Lisbeth, wo bleibst du denn so lange? Ich brauche neues Futter«, echauffierte sich Erna im Befehlston und deutete mit dem Ellbogen in Richtung der Lagerräume.
Sie biss die Zähne aufeinander. Es war immer das Gleiche. Einige der älteren Frauen führten sich auf, als hätten sie was zu sagen. Dabei war Erna auch nur eine einfache Fabrikarbeiterin, wie die anderen. Elisabeth nickte und zwang sich, ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Räum du doch den Dreck vom alten Kolb weg, dann brauchst du nicht so lange auf mich zu warten, fluchte sie in Gedanken, eilte ins Lager, packte dort so viel von dem benötigten Futter auf den Arm, wie sie tragen konnte und lief zurück zu ihrer Kollegin.
»Geht doch«, murmelte Erna, ohne sie anzuschauen.
Da winkte ihr eine Frau aus der mittleren Reihe zu. Die fünfundzwanzigjährige Marie, die immer besonders nett Unterstützung anbot, konnte ihr gerade nicht zur Seite stehen. Sie war in ein Gespräch mit dem Bruder des Chefs vertieft. Elisabeth hatte den Eindruck, dass Justus Kolb seinen Bruder genauso wenig mochte wie sie. Kein Wunder, wenn der Alte ihn ständig wie einen Lakaien behandelte. Nur weil Justus viele Jahre jünger war, hatte der Dicke die Firma übernommen. Obwohl er keine Ahnung von dieser Arbeit hier hatte. Das konnte sie den Gesprächen der Frauen entnehmen, wenn der Kolb wieder einmal irgendwelche seltsamen Arbeitsaufträge verteilte.
Justus hingegen konnte sogar steppen. Erst vergangene Woche war er auf einmal neben ihnen aufgetaucht, als an Maries Maschine eine Nadel auszutauschen war. Mit flinken Fingern half er ihr und steppte anschließend den Schuhschaft fertig. Augenzwinkernd stand er auf. »Wenigstens mal wieder kurz an der Maschine«, hatte er geflüstert und war gleich wieder im Lager verschwunden.
Der ist bestimmt auch nicht mehr lange hier, dachte Elisabeth. Denn viele junge Männer aus dem Ort waren mittlerweile zum Wehrdienst eingezogen worden.
Wenn ich etwas erbitten dürfte, würde ich mir den Justus hier in die Fabrik wünschen und den Dicken sonst wo hin. Aber diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder. Auf jeden Fall war Justus ein netter junger Mann. Dazu auch noch gut aussehend mit seinen kurzen braunen Haaren, den strahlend blauen Augen und dem muskulösen Körper. Sobald er die Arme hob und sich der Ärmelstoff seines Hemdes spannte, dachte Elisabeth daran, wie hart Justus arbeitete. Ganz anders als sein älterer Bruder.