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Kapitel 10


Reitan ratlos.

Es war mittlerweile kurz nach 15 Uhr. Reitan hatte sich nun schon mehrere Stunden ununterbrochen in seinem Büro aufgehalten, hatte die Wand angestarrt, war hin und her gegangen, hatte seinen Zigarrenvorrat mittlerweile ziemlich dezimiert, immer weiter getrunken, sogar seine Notdurft hatte er in den Topf seiner gigantischen Yuccapalme verrichtet, um den Raum nicht verlassen zu müssen.

Was sollte er nur tun?

Er hatte ein Großunternehmen in finanziellen Schwierigkeiten, eine ruinierte Ehe, eine Großbetriebsprüfung und nun auch noch eine dubiose russische Waffe am Hals - von seinem vorerst gescheiterten Selbstmordversuch ganz zu schweigen. Er war mittlerweile von Whisky zu französischem Cognac übergegangen und saß wieder an der gleichen Stelle, an der dieser Morgen seinen Ausgang genommen hatte - seinem Schreibtisch.

Reitan zündete sich eine weitere Zigarre an und blickte, während er paffte, durch den Rauch. Sein Blick fiel auf die immer noch auf dem zu seiner Besprechungsecke gehörigen Glastisch unter einem halbvollen Whiskyglas liegenden russischen Dokumente, die er aus der ominösen Kiste in Halle 6 entnommen hatte.

Er stand auf, ging zu dem Tisch hinüber, entfernte das Glas, griff sich die Dokumente und kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Er ließ sich wieder in den Drehstuhl fallen. Die endlose Grübelei hatte ihn weder zu einer Erkenntnis oder Lösung der verfahrenen Situation geführt, noch hatte sie bis jetzt einen wie auch immer gearteten Entschluss Reitans zur Folge gehabt.

Die Grübelei führte zu nichts. Er brauchte Ablenkung.

Reitan legte die Dokumente auf den Schreibtisch und blätterte sie durch. Es waren lediglich fünf Seiten, eindeutig in russischer Sprache, wie er aufgrund seiner bisherigen Erfahrung mit russischen Schriftstücken feststellen konnte. Da er ohnehin nichts Sinnvolleres zu tun hatte, konnte er auch ein Rätsel lösen.

Was habt ihr Papiere mir zu sagen? Was steht da in meiner Halle?

Er versuchte, den noch immer feuchten Glasrand, der durch Reitans unachtsames Abstellen des Whiskys auf der obersten Seite prangte, mit dem Ärmel seiner schwarzen Anzugjacke trockenzuwischen, was ihm nur mittelmäßig gelang.

Anschließend steckte er die Seiten in den Papiereinzug der Drucker-Scanner-Kopierer-Fax- Kombination, die sich zu seiner Rechten befand und aktivierte die Scanfunktion.

Der Scanner zog die Seiten eine nach der anderen ein und zeigte das Scanergebnis auf dem Flachbildschirm auf Reitans Schreibtisch an. Nachdem er alle fünf Seiten in Seitenansicht auf seinem Bildschirm sah, aktivierte er ein OCR Texterkennungsprogramm und ließ die Seiten durch die Texterkennung laufen.

„Umwandlung in Textdatei abgeschlossen.“, meldete der Computer.

Ein Hoch dem technischen Fortschritt!, dachte Reitan.

Reitan International Freight Forwarders hatte zahlreiche Kunden aus Osteuropa, deren Fremdsprachenkenntnisse zum Teil sehr bescheiden waren, daher verfügte das Unternehmen über Softwareprogramme, die EDV-gestützte Übersetzungen nahezu aller osteuropäischer Sprachen erlaubten - Russisch zählte als die dominante Sprache der Region selbstredend dazu.

Er aktivierte das Übersetzungsprogramm und fügte den Text per Copy & Paste aus dem OCR Programm in das entsprechende Feld der Übersetzungssoftware ein.

Reitan aktivierte die Übersetzung.

Nach einigen Sekunden wurde die Übersetzung auf Reitans Bildschirm angezeigt:

Streng geheim!

Nur für den Dienstgebrauch!

Anleitung für die manuelle Einleitung der Zündsequenz des RS-12M2 Atomsprengkopfes bei einem Einsatz ohne Trägersystem.

Zur manuellen Einleitung der Zündsequenz mittels des Zündmoduls ZXT7 muss folgende Vorgehensweise strikt eingehalten werden:

[…]“

Reitan stockte der Atem.

Lag da wirklich eine Atomwaffe in Halle 6?

Er aktivierte den Webbrowser und googlete den Begriff „RS-12M2“.

Das erste angezeigte Suchergebnis war ein Treffer auf Wikipedia. Er klickte auf den Link.

Er landete bei einem Artikel mit der Überschrift „Topol-M“.

Der Artikel setzte ihn darüber in Kenntnis, dass es sich bei der RS-12M2 um eine mobile ballistische Interkontinentalrakete aus russischer Produktion mit einer Sprengkraft von geschätzten 550 bis 800 Kilotonnen TNT-Äquivalent handelt.

Das in der Halle scheint wohl nur der Sprengkopf zu sein. Verdammte Scheiße. Warum haben die sich keine andere Firma ausgesucht, sondern ausgerechnet meine?

Die Gedanken rasten durch sein Bewusstsein.

Angenommen, das Objekt in Halle 6 war tatsächlich der Sprengkopf einer russischen Interkontinentalrakete - in was für eine Situation brachte ihn dies?

Erste Entscheidungsmöglichkeit: Die Behörden einschalten.

Folge: Die Behörden würden sein Unternehmen sofort vorläufig schließen; Polizei, Geheimdienst und wer weiß noch würden wie Heuschrecken über das Firmengelände herfallen; er und seine leitenden Mitarbeiter würden - zumindest vorläufig - festgenommen und verhört werden. Wenn man ihn einer Mittäterschaft verdächtigte und diese Möglichkeit war in Anbetracht der wirtschaftlichen Probleme der Firma durchaus denkbar, würde er einer langen Untersuchungshaft und einem riesigen Strafprozess mit ungewissem Ausgang entgegensehen. In diesem Falle hätte sich auch sein geplanter Suizid wohl oder übel erledigt.

Im Gefängnis wird man Tag und Nacht überwacht und selbst wenn unter derartigen Bedingungen ein Suizid gelänge, würde dieser wie ein Schuldgeständnis aussehen. Wollte er der Nachwelt als Helfer von Waffenschiebern in Erinnerung bleiben? Eher nicht.

Zweite Entscheidungsmöglichkeit: Die Entdeckung der Atomwaffe ignorieren, die Kiste vernageln lassen und weitertransportieren.

Folge: In einer idealen Welt könnte man darauf hoffen, der Zoll würde schon seine Arbeit machen, die gefährliche Sendung würde entdeckt und beschlagnahmt werden. Doch die Welt war alles andere als ideal und die Sendung sollte nach Neapel gehen - der Hafen von Neapel war nahezu total unter der Kontrolle der neapolitanischen Camorra und der Zoll so korrupt wie kaum an einem anderen Ort in Europa, wie Reitan sehr wohl wusste.

Also konnte man annehmen, dass die Sendung wohl ihren Bestimmungsort problemlos erreichen würde. Man kaufte eine derartige Waffe wohl kaum derart subversiv, um sie irgendwo als letzte Rückversicherung zu lagern - wenn man ein derartiges Risiko einging, wollte man die Bombe auch einsetzen. Reitan schätzte, dass die Sprengkraft der Bombe wohl ausreichen würde, um eine Großstadt in ihrer Gesamtheit auszulöschen.

Wollte er am Tod von vielleicht hunderttausenden Menschen mitschuldig werden? Sicher nicht.

Dritte Entscheidungsmöglichkeit: Weder die Behörden informieren, noch die Sendung weitertransportieren.

Folge: Der Adressat der Sendung würde bald bemerken, dass seine Bestellung nicht wirklich so geliefert wurde wie gewünscht, sich mit dem Verkäufer in Verbindung setzen und Zeter und Mordio schreien, da er annehmen musste, betrogen worden zu sein. Der Verkäufer würde das wohl weit von sich weisen und eine Lösung des Problems in Aussicht stellen - denn wer will sich schon ernsthaft mit Leuten anlegen, die versuchen in den Besitz einer Atombombe zu gelangen? Andererseits: Welche Art von Menschen verkaufen Atomwaffen? Egal. Entweder die Verkäufer- oder die Käuferseite, würde nach der Bombe suchen. Das hieße, er bekäme in Kürze entweder russischen oder mutmaßlich arabischen Besuch. Dann stünde er wiederum vor der Entscheidung, den Verbleib der Bombe aufzuklären - oder nicht. Im zweiten Fall würden sie ihn wohl foltern, bis er die Information doch preisgab und dann beseitigen. Im ersten Fall würden sie ihn als Zeugen wohl nur beseitigen.

Die Idee einer schnellen Erschießung schreckte ihn aufgrund seiner besonderen Umstände kaum, die Vorstellung irgendeinem psychopathischen Folterknecht in die Hände zu fallen, schon eher.

Er zog an seiner Zigarre.

Das war ein Alptraum. Nein, es war ein Alptraum in einem Alptraum.

Vierte Entscheidungsmöglichkeit: Er erschoss sich wie geplant und ließ die Bombe Bombe sein.

Folge: Man würde seine Leiche finden; Matthias würde die Behörden über seine Entdeckung informieren; würde zu Protokoll geben, er habe Reitan mit der Vorhaltung konfrontiert, sein alter Freund habe sich auf illegale Geschäfte mit den Russen eingelassen; daraufhin habe sich Reitan dann erschossen.

Im Endergebnis würde er wiederum als unmoralischer Helfer von Waffenschiebern in seinem Grab liegen und man würde lebenslang auf alle mit dem Finger zeigen, die mit ihm näher zu tun hatten.

Jedoch jetzt einfach weiterzuleben und auf den großen Crash, auf den Zusammenbruch seines Lebens zu warten, kam auch nicht in Frage.

Er suchte nach einem Ausweg in einer ausweglosen Situation, nach der Quadratur des Kreises.

Er zog ein weiteres Mal an seiner Zigarre, seine Augen wanderten ziellos umher, während er rauchte und nachdachte.

Sein Blick verweilte auf den morgendlichen Zeitungen.

Der Gedanke manifestierte sich plötzlich wie von selbst in seinem Bewusstsein.

Fünfte Entscheidungsmöglichkeit: Er behielt die Bombe.

Doch was sollte er damit anstellen? Sollte er sich mittels der Bombe umbringen? Der bombastischste Suizid der Menschheitsgeschichte? Und Unschuldige mit ins Grab reißen? Halb Mitteleuropa verstrahlen? Und als größter Egozentriker der Menschheitsgeschichte in die Annalen eingehen?

Nein.

Ihm kam ein Zeitungsartikel in den Sinn, den er vor geraumer Zeit gelesen hatte. Der Artikel hatte sich mit einer Studie der University of Southern California zum Thema „suicide by cop“ beschäftigt. Eine wohl zumindest in den USA ziemlich verbreitete Methode des Selbstmords.

Das wäre doch ein möglicher Ansatzpunkt.

Sein Blick fiel wieder auf eine vor ihm liegende Zeitung.

Genau betrachtet, bin ich derzeit die einzige private Atommacht der Welt, dachte er.

Und als Atommacht besitzt man Gewicht, man kann Forderungen stellen. Was für Forderungen auch immer.

Ich könnte sogar einen Staat mit dieser Waffe unter Druck setzten.

Keine Regierung der Welt konnte sich einfach einer Erpressung beugen. Sie würden um jeden Preis versuchen, den Erpresser auszuschalten. Und da die Bedrohung mit einer Nuklearwaffe derartig ernst war, würden sie alles in ihrer Macht stehende tun, ihren gesamten Apparat in Bewegung setzen, um den Erpresser zu töten, bevor er die Waffe einsetzen konnte.

Suicide by State.

Reitan zog an der Zigarre.

Das klang doch nach einem Plan.

Auf einer Schlagzeile blieb nun sein Blick hängen:

Vorbereitungen zu UN Klimagipfel in Valencia laufen auf Hochtouren.“

Normale Verrückte

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