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Caius vor dem Hohen Rat
Jahr 2019 nach der Erleuchtung, 3. Monat

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An einem Tag, vor nicht allzu langer Zeit, betrachtete Caius Lingdao sich im Spiegel. Dabei brachte er, so wie er es gewohnt war, mit einem Brenneisen seine Augenbrauen in Form. Es war noch eine Stunde Zeit bis zu seinem großen Auftritt vor dem Hohen Rat. Er brauchte dafür nicht zu reisen, sondern würde sich im Wohnzimmer des Gemaches vor die große Regalwand mit antiken Schriftrollen und Büchern aus dem ersten Jahrtausend nach der Entdeckung des elektrischen Stroms setzen. Für den Erwerb dieser Schätze war er im Laufe der letzten zwanzig Jahre in alle Teile von Terranova gereist.

Gleich würde er den Sphärengenerator einschalten und auf den Anruf der Kanzlerin warten, bevor er und ein Teil seiner Umgebung als holographisches Abbild im Saal des Hohen Rates im fernen Rom erscheinen würden. Eine Reise dorthin war zum letzten Mal vor 5 Monaten nötig gewesen, als man ihm für seine Leistungen persönlich den saphirblauen Adler am Bande überreicht hatte. Diese Auszeichnung bewahrte er in einer Schatulle auf und hatte sie noch nie getragen. Er hatte das Gefühl, dass diese Bauchpinselei nur dem einen Zweck diente, ihn in Selbstgefälligkeit bequem und gefügig zu machen.

Zwischen den Terminen, an denen sein holographisches Bild zur Beratschlagung vor den Hohen Rat zitiert wurde, recherchierte er und wertete geheimdienstliche Informationen aus. Diese gewann er aus den unermesslichen Datenströmen des gesamten Terranova, auf deren versteckteste Bereiche er durch die Sonderrechte Zugriff hatte, die nur Mitgliedern und hohen Beratern des Rates eingeräumt wurden. Diese Macht war etwas, das ihn selbst mit einer Furcht erfüllte und ihn zu einem noch selbstkritischeren Menschen gemacht hatte. Seine Stärke, die der Hohe Rat früher einmal sehr geschätzt hatte, lag aber in der hohen Sensibilität, jedes Anzeichen für Unruhe und Unfrieden auf dem Planeten erkennen zu können und Schlüsse daraus zu ziehen, auf denen dann auch seine Ratschläge beruhten. Er hielt das, was er tat, im Grunde seiner Überzeugungen für falsch, rechtfertigte es aber damit, dass es sonst jemand anders tun würde, der vielleicht die falschen Schlüsse ziehen würde. Mehrmals wöchentlich stand er per Implantatverbindung mit dem Minister für Freiheit und Sicherheit in Verbindung und konnte so unmittelbar Einfluss auf die Geschicke von Terranova nehmen.

In letzter Zeit war er mit seinen Einschätzungen immer öfter auf erheblichen Widerstand gestoßen. Früher hatte er eindeutig kriminelle Aktivitäten versprengter Grüppchen aus dem Untergrund aufgedeckt. Wenn er sich dann mit den Ministerien beratschlagt hatte, gab ihm das immer das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Heute war er gezwungen, gegen Widerstandsgruppen zu ermitteln, deren Motive er mehr und mehr nachvollziehen konnte. Als er einmal einen Vorstoß gewagt und diejenigen angeklagt hatte, die das Recht der einfachen Arbeiter beugten und Profitmaximierung über alles stellten, spürte er, dass die Feinde des alten Terranova bereits gewonnen hatten.

Seine Frau Ailan hatte ihn immer belächelt, wenn er feierlich seine Tunika aus dem Kleidermagazin des Habitats entnahm. Dies tat er auch vor dem heutigen Termin. Nachdem er im Menü des Holospiegels das Kleidungsstück ausgewählt hatte, das nach dem Vorbild der Tuniken geschneidert war, die schon die Würdenträger der Antike getragen hatten, stand er noch immer fast nackt im Zimmer. Er sah dabei aber bereits in der bekleideten holographischen Kopie seiner selbst, welch stattliche Figur er mit der Tunika abgeben würde. Er bestätigte die Auswahl und fand wenige Augenblicke später das gewünschte Gewand im Schacht des Kleidermagazins. Mit wenigen Handgriffen streifte er es sich über und befestigte es mit einer rubinbesetzten goldenen Fibel, die einen Habicht darstellte, das Clansymbol der Lingdaos. Am Bauch spannte die Tunika bereits ein wenig. Er würde bald etwas dagegen unternehmen müssen.

Es war alles vorbereitet. Caius nahm seinen Platz an der großen hölzernen Tafel ein und richtete den Ausschnitt, den der Sphärengenerator erfassen würde, auf sich und das Regal im Hintergrund. Er hatte, um Eindruck zu schinden, einen besonderen Coup geplant, für den er das Regal und seinen Inhalt noch brauchen würde. Vor ihm war eine leere Fläche. Er brauchte keine Aufzeichnungen, kein weiteres Gerät, das ihm Informationen bereitstellen würde. Er würde sich nicht einmal seines Implantats bedienen müssen, da er alles in seinem Kopf gespeichert hatte. Eine Rede zu halten, so hatte er früh gelernt, erfordert die Fähigkeit, durch seinen sprühenden Geist überzeugen zu können. Dieser geriete in einen Schlafmodus, würde er nur Worte reproduzieren, die zuvor im Implantat gespeichert worden waren. Caius war gefasst und innerlich ruhig, als der Anruf kam und kurz darauf die Kanzlerin vor ihm erschien. Er deutete mit dem Kopf eine Verneigung an und hörte die Worte, die im fernen Rom gesprochen wurden.

„Ehrenwerter Caius Lingdao,“ hob die Kanzlerin an, „wir haben sie dazu eingeladen, vor dem Hohen Rat zu sprechen, da wir alle gerne erführen, ob beunruhigende Neuigkeiten in der Luft liegen, die den Frieden und Wohlstand von Terranova gefährden könnten. Besonders möchte ich um eine Einschätzung zu der jüngsten Häufung von Aktivitäten des Widerstands bitten.“

Caius war auf dieses Ansinnen des Rates vorbereitet und begann mit seiner Rede. „Verehrte Kanzlerin, ich danke für die Gelegenheit, meine Sicht dem Hohen Rat darlegen zu dürfen. Es wird jedem von Ihnen bekannt sein, dass der Hohe Rat in der letzten Zeit Beschlüsse gefasst hat, die von Teilen des Volkes als Verrat an den alten Werten von Terranova aufgefasst werden können. Es wurden den reichen Clans so weitreichende Zugeständnisse gemacht, dass dies als Kapitulation des Hohen Rates vor dem Kapital und dem Machtgebaren einer kleinen Oberschicht gewertet werden könnte. Ich möchte nur ein paar Beispiele nennen. Die Akademie der Wissenschaften des Distrikts Ostia wurde privatisiert und steht nun unter der Ägide der Ramses-Dynastie. Was dort gelehrt wird, bestimmt fortan nicht mehr der autonome Wissenschaftler, sondern der reichste Clan des Vorderen Orients. Den Xian wurden exklusive Schürfrechte für Bodenschätze auf dem Saturn übertragen. Die Antracis dürfen im Gegenzug den Mars ausbeuten. Wissen Sie, was die Unterbindung jeglichen Wettbewerbs für die Rohstoffpreise bedeuten wird? Haben Sie eine Ahnung, was das für den Wohlstand von Terranova bedeuten wird? Doch damit nicht genug. Der Hohe Rat hat die Eugenik-Gesetze geändert, die uns seit dem Skandal im letzten Jahrhundert davor geschützt hatten, dass die reichen Clans bald ihre Vorstellungen vom Übermenschen oder auch vom willenlosen Arbeiter realisieren können.“

Caius unterbrach sich, da Stimmen des Protests laut wurden.

„Es waren Beschlüsse des Rates aus der letzten Zeit, die ein Erstarken unterschiedlicher Widerstandsbewegungen zur Folge hatte.“

Der Protest wurde lauter.

„Offenbar teilen nicht alle meine Auffassung, dass der Rat selbst diesen Widerstand provoziert hat.“ Er wartete ab, bis das Raunen sich gelegt hat.

„Alle Evidenzen sprechen auch dafür, dass die Entscheidungen des Rates die Balance von Sicherheit und Freiheit in den letzten Jahren ins Wanken gebracht haben. Es hat viele Verhaftungen gegeben, die nur aufgrund solchen Wissens geschehen konnten, das die Sicherheitsbehörden sich durch das Erfassen der Datenströme aus Implantaten angeeignet haben. Dies mag vom Standpunkt der beschlussfassenden Richter eine Notwendigkeit zur Verbrechensbekämpfung gewesen sein. Dennoch verstößt es gegen die Werte und damit auch gegen die Grundfesten unseres Rechtssystems. Eine Behörde bedient sich damit an dem Privatesten, was der Mensch besitzt, nämlich seinen Gedanken. Es wurden Menschen für etwas bestraft, was sie noch gar nicht getan hatten. Diese vielen Brüche eines Vertrauens, dass die Regierung innerhalb der letzten tausendfünfhundert Jahre bei seinem Volk geschaffen hatte, hat viele Menschen beunruhigt, weil niemand sich mehr vor dem Zugriff des Staates sicher fühlt und sich die Position breitmacht, der Hohe Rat stünde auf der falschen Seite.“

Die Kanzlerin unterbrach und wies Caius an, den Redebeitrag eines Ratsmitglieds anzuhören.

Es erschien Marcus Secundus, eine schmächtige Gestalt in moderner Kleidung, die er sich morgens von einem der in fast jedem Haushalt befindlichen Kleidungsautomaten an den Leib hat drucken lassen. Damit alleine schon, so dachte Caius, war ein Statement verbunden, dass eine Abkehr vom Traditions- und Wertebewusstsein darstellte, das den Hohen Rat von je her ausgezeichnet hatte.

Die Lippen des Mannes begannen sich zu bewegen, während seine Stimme noch im All war. Mit Verzögerung hörte Caius ihn sprechen. „Die Auswüchse des Terrors, der um sich greift, begründen Sie mit dem Fehlverhalten des Hohen Rates. Das ist allerhand. Es sind andere Zeiten angebrochen. Wir müssen als die eine Regierung von Terranova, die die Interessen aller vertritt, hart durchgreifen. Wenn der eine oder andere es nicht versteht, dass die reichen Clans die Stützpfeiler unserer Welt sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass er es verstehen lernt. Ihre Kritik an der Privatisierung der Akademie ist unbegründet. Es wird sich zeigen, dass dort endlich Dinge gelehrt werden, die dem Fortkommen unserer Gesellschaft nützen. Außerdem haben wir dadurch viel Geld eingenommen, das wir für die längst überfällige Schaffung einer weltweit operierenden Polizeibehörde gut gebrauchen können. Die Verteilung von Schürfrechten war nach Jahren des Stillstands ebenfalls dringend nötig. Das hat auch viel Geld in die Staatskassen gespült, wovon wir Gefängnisse modernisieren und von mir aus auch ein paar Schulen bauen können. Wir müssen darauf achten, dass die wenigen Aufrührer, die alles aufs Spiel setzen wollen, nicht am Ende obsiegen. Wir müssen hart durchgreifen, müssen die Informationen nutzen, an die wir herankommen können, und müssen zeigen, wer Herr auf Terranova ist.“

Caius unterbrach an dieser Stelle. „Am Ende kommt dann heraus, dass tatsächlich der Clan der Xian über ganz Terranova herrscht, und seine wirtschaftlichen Interessen über alles stellt. Er wird noch so mächtig werden, dass er dem Hohen Rat diktieren kann, was er zu tun und zu lassen hat.“

Erneut wurde ein Raunen, begleitet von einigen lauten Protestrufen, vernehmbar.

Secundus machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es sind die Separatisten und Widerständler, die sich von Terranova und damit von der besten aller Welten lossagen, um eine vermeintlich noch bessere Welt für sich zu schaffen. Sie erzeugen das Chaos, dass wir ein für alle Mal beendet zu haben glaubten. Wenn nur ein einziger Flecken Erde mit einer Gruppe von Separatisten darauf aus dem engen Bund heraustritt, den die gesamte Menschheit geschlossen hat, dann sind wir alle gescheitert und fallen zurück in ein Zeitalter der großen Kriege.“

Das war der Zeitpunkt für den dramaturgischen Kniff, den Caius sich für diesen und ähnliche Fälle zurechtgelegt hatte. Er griff hinter sich in das Regal und zog ein offensichtlich sehr altes, in Leder eingebundenes Buch hervor.

Caius las. „Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren gegen den Feind, der in unseren eigenen Reihen, in unserer Mitte lebt und nur darüber nachsinnt, wie er uns schaden kann. Wir müssen alles über ihn wissen und dafür unsere eigene Freiheit für einen Moment opfern, um am Ende freier zu sein als jemals zuvor.“ Caius sah auf und blickte seinem Gegenüber ins Gesicht.

„Welche Weisheit aus vergangenen Tagen“, sagte Secundus.

„Sie scheinen nicht zu wissen, von wem diese Worte stammen. Sie sind vor mehr als tausendfünfhundert Jahren von einem Unmenschen gesprochen worden, der die Welt in dem Blut seines eigenen Volkes getränkt hat. Es war Marcus Valerius, dessen Namen und Schandtaten wir nie vergessen sollten.“

Den Rest seiner Rede konnte Caius ungestört halten, da niemand es mehr wagte, ihm die Stirn zu bieten und womöglich auch auf so peinliche Weise bloßgestellt zu werden. Caius appellierte mit aller Macht gegen eine Fortführung der Politik, die er für alle Missstände verantwortlich sah. Alles, was dadurch erreicht würde, sei nur eine Aufwiegelung weiterer Aufstände und eine Unzufriedenheit mit der Regierung, die auch in der breiten Masse ankommen könnte und bald schon nicht mehr nur einige wenige zu Taten drängen würde. Die tradierten Werte von Terranova seien wieder stärker in den Fokus zu rücken. Die größtmögliche Freiheit des Einzelnen schüfe demnach im Großen eine Kontinuität von Wohlstand und Frieden. Diese Werte waren vor langer Zeit einmal in dem für alle Menschen verbindlichen Buch der Ethik festgeschrieben worden, dass Caius den Ratsmitgliedern als Nachtlektüre empfahl. Den Abschluss seiner Rede bildete ein Plädoyer für mehr kollektive Demut, die dem Größenwahn Einzelner für immer Einhalt gebieten müsste.

Bevor das Wohngemach wieder zum Wohngemach wurde und nicht mehr Projektionsfläche der hohen Politik von Terranova war, nahm Caius den förmlichen Dank der Ratsvorsitzenden entgegen und hörte den verhaltenen Applaus einiger weniger Ratsmitglieder und die empörten Rufe der anderen, die in seinen Ohren noch eine Weile nachhalten, als es wieder still geworden war.


Niobe

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