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3. Teil

Ragnar Lodbrok
Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 5. Monat

Auf den Tag genau drei Wochen zuvor strichen in einem weit entfernten Distrikt eisige Winde über die Ebenen und trieben den Schnee in die Schluchten zwischen den schwarzen säulenförmigen Strukturen, die wie Stalagmiten aus dem Boden emporgewachsen zu sein schienen. Das Material stammte von einer extraterrestrischen Mine und spiegelte wie polierter Bergkristall seine Umgebung wider. Eine Gestalt, eingehüllt in schweren Stoff, kämpfte sich durch das Schneegestöber und erreichte mit Mühe das Portal des Bauwerks. Es gab keine Gondelverbindungen in diesen abgelegenen Teil des Distrikts Gotenburg, den nur einige Einsiedler als ihre Heimat empfanden.

Unter diesen Einsiedlern war auch Ragnar Lodbrok, der seine zehnjährige Tochter Freya in den Schlaf sang. Das gelang ihm nur mit Schwierigkeiten, da er sich unablässig an der frischen Narbe kratzen musste, unter der sein neues Implantat angebracht war. Das alte war entfernt worden, da es keinen ausreichenden Schutz vor Fremdzugriffen mehr geboten hatte und Ragnar keine Spione in seinem Kopf dulden konnte. Auf das Implantat verzichten konnte er hingegen auch nicht, da Kommunikation und Informationen für sein Metier das nötige Schmiermittel waren, ohne das die Maschinerie nicht funktionieren würde. Die Maschinerie war in diesem Fall eine Organisation, die von außen nur als der Widerstand bezeichnet wurde, in Wirklichkeit aber noch ein zersplittertes Gebilde von kleinen und ein paar größeren Gruppen war. Sie hatten unterschiedliche Interessen und waren über ganz Terranova versprengt.

Ragnar war in diesem nördlichsten Teil des nördlichsten noch bewohnten Distrikts der Mittelsmann für die größte Widerstandsgruppe. Der Kopf dieser Gruppe war genau dort, wo auch das Zentrum der Macht über ganz Terranova seinen Sitz hatte, in Rom. Von dort aus war bereits von langer Hand geplant worden, den noch recht losen Verbund von Gruppen zu einen. Hinter diesem Bestreben stand eine bemerkenswerte Frau, die den Decknamen Dalila trug.

Kurz nachdem Freya mit einem leichten Seufzen auf ihren halb geöffneten Lippen in das Reich süßer Kinderträume entglitten war, ertönte von weit unten der tiefe Klang des Gongs, der den Besucher ankündigte, der vor dem Portal bald zu erfrieren drohte. Ragnar eilte die Wendeltreppe hinunter, die vom Turmzimmer seiner Tochter in die hohe Eingangshalle führte. In den schwarzen Wänden spiegelten sich tausend Lichter, die im Raum zu schweben schienen. Die große Tür öffnete sich lautlos durch die bloße Kraft von Ragnars Gedanken. Die Gestalt trat ein und sprach kein Wort, sondern hielt Ragnar bloß einen Brief entgegen, der auf Papier gedruckt war. Dieses Material war in Zeiten der Implantatkommunikation fast in Vergessenheit geraten. Der Widerstand bediente sich nur dann eines Boten, wenn der Inhalt einer Botschaft von äußerster Brisanz war. Der Widerstand wusste, dass der Hohe Rat begonnen hatte, ihm mit Spionen aufzulauern.

Ragnar dankte dem Boten und bat ihn, seine schwere Kleidung abzulegen und sich am Kamin im großen Salon aufzuwärmen. Dort brannten immer ein paar Holzscheite. Ragnars Frau Vara würde ihm gerne auch eine warme Suppe servieren. Währenddessen zog Ragnar sich in sein Zimmer zurück, das ebenfalls in einem hohen Turm lag, der sich aber am anderen Ende des Anwesens befand. Dort breitete er den Brief auf einem alten, schweren Holztisch mit kunstvollen Schnitzereien aus und las den Inhalt.


Der Brief von Dalila

Verehrter Ragnar,

dieser Brief wird Dich am Ende eines Tages erreichen, der für uns einen Wendepunkt darstellt. Der Hohe Rat hat heute früh unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit einen Beschluss gefasst, mit dem er, wieder einmal, einen Verrat an den Werten des Kanons und somit an seinen eigenen Werten begangen hat. Erst kürzlich wurden zahlreiche einst angesehene Akademien an Höchstbietende verkauft. Dann wurden Gesetze zur Eugenik neu gefasst und es wurde im Namen der Sicherheit die Einrichtung einer Gedankenpolizei beschlossen, die in unsere Implantate eindringen wird. Von all dem weißt du bereits. Der neueste Verrat an den Werten von Terranova verdient aber unsere besondere Aufmerksamkeit. Das Gerücht, von dem Du bereits durch mich gehört hast, ist wahr. Der Bau der Sternenstadt findet statt. Einige Ratsmitglieder schienen ahnungslos zu sein, wie weit die Pläne bereits gediehen waren. Andere, die den kanonischen Werten von Terranova weniger zugetan sind und wieder andere, die leicht durch die entsprechende Menge an Denaren zu manipulieren sind, wurden offenbar schon früher eingeweiht und haben in einer geheimen Kommission bereits alles beschlossen, was dem Hohen Rat heute vorgelegt wurde. Die Abstimmung soll eine reine Farce gewesen sein. Das Ergebnis stand im Vorhinein schon fest. Es soll sehr viel Geld geflossen sein, mit dem der Hohe Rat den Polizeistaat ausbauen will. Der Hohe Rat ist zum Spielball der mächtigen Clans, allen voran der Xian, geworden. Wir müssen uns vereinen und handeln. Wenn wir mit politischen Mitteln keine Wirkung erzielen, dann müssen wir zu anderen Mitteln greifen, ohne dabei unsere Maxime des friedlichen Widerstands aufzugeben.

Ich habe auch den Kontaktpersonen der Gruppen in den anderen Distrikten geschrieben und alle zu einer Zusammenkunft in Scotia gebeten, wo wir unsere Thingstätte einrichten werden. Ich schreibe bewusst von der Widerstandsbewegung, denn ich bin davon überzeugt, dass wir unsere gemeinsamen Ziele finden werden und uns zu einer einzigen großen Bewegung mit neuer Schlagkraft formieren können. Uns alle verbindet, dass wir uns eine Regierung wünschen, die nicht den Interessen der Mächtigen folgt. Es darf nicht länger sein, dass die Regierung das Volk drangsaliert und die Sicherheit einzelner gegen die Freiheit der vielen gegeneinander ausspielt. Dort, wo Macht und Reichtum zuhause sind, wachsen die Bauten mit ihren Wasserfällen und paradiesischen Biosphären in den Himmel, während immer mehr Menschen an Hunger leiden. Wir müssen gegen solche Entwicklungen angehen, die auf Terranova Jahrhunderte lang als überwunden galten und deren trauriger Höhepunkt in einem Projekt zu erkennen ist, das von überall her die fähigsten Leute abzieht und die Vormachtstellung der Xian ausbauen wird.

Jede Gruppe des Widerstands hat ihre eigenen Möglichkeiten, den friedlichen Kampf dagegen zu unterstützen.

Frieden in Freiheit

Dalila


Ragnar Lodbrok und die Bibliothek des Lebens

Ragnar führte als leitender Botaniker eine einzigartige Bibliothek des Lebens, in der von jedem bekannten Lebewesen, sei es Tier oder Pflanze, eine sehr große Menge an Eiern oder Samenzellen tief unten im Permafrost verwahrt wurden, die für jede Art ein breites Spektrum genetischen Codes repräsentierte. Seine Frau, die eine ausgebildete Biochemikerin war, sowie ein kleines Team von fünf Wissenschaftlern und gelegentlich ein paar Gastwissenschaftler standen ihm dabei zur Seite. Sie hatten lange recht gut davon gelebt, weil der Hohe Rat von Terranova das Projekt für die Erhaltung der Artenvielfalt mit großzügigen Mitteln bedacht hatte. Seit einigen Jahren verebbte der Zufluss öffentlicher Denare jedoch, weil überall nur noch die Sorten, die in den Biosphären bereits vorhanden waren, schon vorort repliziert wurden. Der Hohe Rat sah keinen Sinn mehr darin, die Finanzierung des Erhalts der anderen Millionen von Arten zu garantieren, die man in den urbanen Naherholungsbieten nicht brauchte. Das eingesparte Geld machte den Hohen Rat blind für die Erkenntnis, dass eine Artenarmut und eine Armut an Genom in den Biosphären langfristig verheerende Folgen haben würde. Die fehlenden Mittel musste Ragnar vermehrt durch Privatleute ausgleichen, denen er vor zwei Jahren erstmals den Zugriff auf seine Datenbanken gewährt hatte. Reiche Bürger, darunter auch die Lingdaos, zahlten teilweise hohe Summen dafür, in ihren privaten Biosphären Sorten pflanzen zu können, die es nirgendwo anders gab.

Niobe

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