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Niobe
Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 4. Monat

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Niobe stand am Fenster und ließ den Blick schweifen über die Kuppeln, die Biosphäre und die hängenden Gärten zwischen den Habitaten Tsingtaos. Der Abend war gekommen und tünchte alles in den roten Schimmer der untergehenden Sonne, die als große Scheibe am Himmel über den flachen Bauten hing. Einzig ein Bauwerk ragte weit in die Lüfte empor. Es war ein Protzbau des Clans der Xian, für den ein Teich hatte weichen müssen, auf dem früher immer der Lotus geblüht hatte.

Hinter Niobe lagen die Gemächer, die sie in dem großen Habitat des Clans der Lingdao bewohnte. Als sie in die Stille lauschte, wurde sie der Anwesenheit einer weiteren Person gewahr. Ihr Bruder Lao hatte beinahe lautlos das Zimmer betreten und kam zu ihr ans Fenster.

Niobe wollte die Stimmung nicht zerstören und sprach daher im Flüsterton. „Lao, sieh nur wie schön alles ist in diesem Licht. Die Kirschbäume wirken wie entflammt von einem magischen Feuer.“ Im Glas sah sie das Spiegelbild von Laos Gesicht, das die Farbe des Himmels angenommen hatte.

„Verzeih, dass ich mich angeschlichen habe, aber ich wollte dich nicht stören. Ich möchte bloß ein wenig bei dir sein.“ Lao sah schemenhaft Niobes Gesicht im Glas und bemerkte die Anmut, die darin lag. „Sieh nur, der Abendstern steht schon am Himmel.“

Niobe sah den Stern und sprach, noch immer flüsternd. „Überall ist Schönheit, hier unten und dort oben. Wir ergänzen uns gut darin, uns gegenseitig zu zeigen, dass wir von Schönheit umgeben sind. Du öffnest mir die Augen für die Blüten, die am Himmel blühen und ich zeige dir die Ebenbilder der Sterne hier unten.“ Hier machte Niobe eine Pause und Lao sah den Schatten, der über ihr Gesicht huschte. „Aber, ich habe Angst“, fuhr sie mit leiser Stimme fort, „dass die Schönheit verblasst. Überall verändern sich die Dinge so rasch, dass es mir den Atem raubt.“

„Ja, die Schönheit hier unten ist vergänglich und sie ist bedroht. Alles, was wir am Firmament sehen und von dessen Schönheit nur ein schwacher Abglanz zu uns strahlt, überdauert Jahrmillionen. Nur ist es so unerreichbar fern und wir wissen so wenig darüber. Dort gibt es noch so vieles zu entdecken und zu lernen.“ Niobe hörte auch im Flüstern, welche Sehnsucht in den Worten ihres Bruders mitschwang.

„Zu viel zu wissen kann der Schönheit ihr Geheimnis und damit auch ihren Zauber nehmen. Sieh noch einmal hinab auf die Kirschblüten. Ginge ich hinunter, um sie mir aus der Nähe zu betrachten und würde ich damit beginnen, die Blütenstände zu untersuchen, dann verlöre sich die Schönheit.“

„Aber, du hast die Botanik studiert und nimmst die Schönheit doch noch wahr, obwohl du das Geheimnis dahinter kennst, so wie auch ein Medicus jeden Knochen des menschlichen Körpers kennt. Was hat dich angetrieben, mehr über das zu erfahren, was das Auge nicht sieht? Doch das Gleiche, was mich angetrieben hat, als ich das All von hier unten aus studiert habe und zur Akademie gegangen bin, um alles über die noch so unvollkommene Weltraumtechnik zu lernen.“ Lao sah, dass Niobe jetzt ein wenig lächelte.

„Lao, du hast ein unausstehliches Talent, meine eigenen Argumente gegen mich zu verkehren. Du hast recht, Wissen und Empfinden sind nicht immer im Widerstreit zueinander und vielleicht ist dort oben auch tatsächlich noch viel Schönheit, die nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Ich habe nur Angst, dass es uns entzweien könnte, wenn du die Schönheit dort oben suchst und ich hier unten. Dann ist es so, als würden das ewige Yin und das ewige Yang voneinander getrennt.“

Niobe und Lao standen noch so lange am Fenster, bis sie sich nicht mehr sahen und alles um sie herum dunkel geworden war. Dann schlich Lao sich aus dem Gemach seiner Schwester und ging in sein eigenes.


Niobe

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