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Lao und Ailan
Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

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Lao wollte mit seinem Vater sprechen. Er hatte es sich fest vorgenommen, schob es aber vor sich her, weil er Angst vor den Konsequenzen hatte. Sein Entschluss stand aber fest. Er hatte sogar seine Bewerbung für eine Stelle in der Sternenstadt bereits abgeschickt.

Während er im letzten Licht der untergehenden Sonne auf dem Bett in seinem Schlafgemach saß, legte er sich Worte für das Gespräch zurecht. Er liebte seine Eltern beide und wollte ihnen nicht wehtun. Während er darüber nachdachte, wie er die Wogen würde glätten können, hörte er den Summer der Tür. Er wollte niemanden einlassen, konnte aber seiner Mutter nicht den Zutritt verweigern.

Ailan Lingdao trug noch die Robe, die ihr vor Gericht Autorität verlieh. Lao erkannte zuerst nur ihre Silhouette, weil er nach draußen in das letzte Licht des Tages geblickt hatte und im Zimmer keine Beleuchtung eingeschaltet war.

Vielleicht war es aber auch gut so, dass seine Mutter in diesem Moment zu ihm kam, dachte er. Vielleicht sollte er sich zuerst ihr anvertrauen, um sich Mut für das Gespräch mit dem Vater zu holen. Seine Mutter war eine große und stolze Frau, die den Namen Lingdao mit Würde trug. Er hatte so viel von ihr gelernt. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte sie meist auf seiner Seite gestanden, wenn es um die Erfüllung seiner Wünsche gegangen war.

Mit ihr verband ihm auch noch etwas. Sie war seine spirituelle Mentorin gewesen. Er war mit ihr als Kind oft im Tempel des Konfuzius gewesen, wo er das Paradoxon erlebt hatte, dass gerade die Wahrnehmung des Transzendenten den Blick auf die Kostbarkeit des Lebens freistellte. Auch das hatte ihm immer Kraft gegeben. Vielleicht würde er seine Mutter überreden können, vor seinem Aufbruch noch einmal in den Tempel zu gehen, damit sie gemeinsam ihre spirituelle Verbindung erneuern könnten. In der Ferne würde ihm die physische Trennung von seiner Mutter leichter fallen, wenn er wüsste, dass sie ihm spirituell nahe war.

Seine Mutter war eine anmutige Frau, deren Schönheit nicht oberflächlich war, sondern in für Lao unbegreifliche Weise mit ihrer Kraft zusammenhing. Diese Kraft schöpfte sie eben auch aus dem Glauben, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte und der bis auf Zeiten vor der Erleuchtung zurückging, als das Feuer noch die einzige Lichtquelle in der Nacht war. Laotse und später Konfuzius waren in diesen Zeiten in Fleisch und Blut durch Täler gewandert und auf Berge gestiegen.

Durch Täler und auf Berge. Das schoss Lao durch den Kopf, als seine Mutter eintrat. Er würde auch durch Täler gehen müssen, bevor er die Aussicht vom Gipfel seines Erfolgs würde genießen können. Das würde seine Mutter verstehen.

Ailan legte die Hand auf die Schulter ihres Sohnes. „Lao, ich habe eine großartige Neuigkeit für Dich. Ich habe heute mit dem Stabschef des Transportkonsortiums von Tsingtau gesprochen, der ein alter Bekannter von mir ist. Er könnte dich in seinem Stab aufnehmen. Du würdest dann direkt dem Ministerium für Transportwesen in Rom zuarbeiten und müsstest nicht einmal hier wegziehen.“

Laos Blick verfinsterte sich. Er ahnte, dass es doch schwerer werden würde, seine Mutter mit seinem Plan zu versöhnen. Doch es hatte keinen Sinn, es weiter für sich zu behalten. Er musste es ihr erzählen.

Ohne Umschweife und fest entschlossen begann er zu sprechen. „Mutter, ich habe mich bereits entschieden. Meine Bewerbung für die Sternenstadt habe ich vor ein paar Tagen verschickt.“

Lao hielt daraufhin den Blick starr durch das Fenster auf einen fernen Punkt am Horizont gerichtet und wartete auf die erste Reaktion seiner Mutter.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Ailans Stimmung war von euphorisch auf wutentbrannt umgeschlagen. „Die Sternenstadt? Weißt du, dass die Xian dahinterstecken? Weißt du, dass es dabei nur um Geld und Macht für einen Clan geht, an dessen unmoralischem Handeln Terranova gerade zugrunde geht? Das kannst du nicht ernst meinen. Lao, komm zur Vernunft.“

Lao blickte weiterhin durch das Fenster, hinter dem die Gebäude, hängenden Gärten und Wasserfälle im Abendrot lagen und ihm alles so friedlich und vertraut erschien. Das würde er hinter sich lassen.

„Mutter, ich weiß, was es bedeutet. Ich werde, wenn man mich nimmt, all das hier verlassen und aufbrechen, vielleicht sogar fortgehen von dieser Welt in ein unbekanntes Leben irgendwo da draußen. Aber es wird nicht umsonst geschehen. Ich werde glücklich sein, was ich nie könnte, wenn ich sehen müsste, dass andere genau das tun, wovon ich schon als Kind geträumt habe. Ich habe die Chance, die nur wenigen vergönnt ist, meinem Traum zu folgen.“ Die Tragweite dessen, was er aussprach, wurde ihm erst in diesen Momenten bewusst und es fühlte sich dennoch richtig an.

Ailan sprach mit einer von Wut verzerrten Stimme, die Lao von seiner Mutter nicht kannte. „Ich verstehe dich nicht. Es ist nicht nur, dass du irgendwelche Traditionen damit brichst oder anders bist als deine Vorfahren oder deine Neffen und Nichten, die fast alle ihren eigenen Weg gegangen sind. Ich gebe nichts auf Zwang und Sippenhaft, sondern würde jedem dazu raten, seinen eigenen Weg zu suchen. Es macht mich nur wütend, dass dein Weg, für den du dich offenkundig entschieden hast, dich von uns wegführt - nicht nur physisch, sondern in allem, was uns ausmacht und was uns heilig ist. Es wird auch deinen Vater umbringen, verstehst du das?“

„Mutter, ich gehe nicht, weil ich euch verlassen möchte. Ich kann mir keine besseren Eltern vorstellen. Ihr habt mir immer gegeben, was ich gebraucht habe. Ich habe mich immer von euch geliebt gefühlt. Und, wenn du es so sehen willst, habt ihr mir auch das gegeben, was mich jetzt scheinbar von euch entfernen wird, nämlich den Glauben an mich selbst und daran, dass meine Träume wahr werden können. Ihr habt mir Grenzen gezeigt, aber habt mich doch so geliebt, dass ihr mein Verlangen danach, diese Grenzen zu überwinden, nicht genommen habt, weil ihr wusstet, dass ihr mich damit verlieren würdet. Ich konnte immer frei zu euch sprechen. Dafür liebe ich euch. Ich werde nie einem Menschen näher sein, egal wie weit weg ich bin.“

„Lao, wir beide lieben dich, aber diese Grenzen, die wir dir gezeigt haben, haben wir dir nicht ohne Grund gezeigt. Vor allem dein Vater.“ Die Mutter unterbrach sich und schüttelte den Kopf. „Die Grenzen habe ich nie so starr ausgelegt und habe immer beschwichtigende Worte gefunden, wenn dein Vater wütend wurde und dich auf den rechten Pfad, wie er sich ausdrückte, bringen wollte. Es mag dir immer so vorgekommen sein, dass er eingeknickt ist und dir zuliebe die Grenzen aufgeweicht hat, aber dieser Eindruck ist falsch. Er hat es mir zuliebe getan und weil er selbst zwischen den Kulturen steht und sich seiner dadurch oft nicht sicher war. Es war meine Milde, die gegen seine Härte stand. Es waren aber immer Fälle, die in ihrer Bedeutung gering waren gegen das, was du für dein zukünftiges Leben beschlossen hast. Es wird nicht wieder so sein, dass ich deinen Vater umstimmen kann. Nicht diesmal, weil ich selbst es nicht zulassen kann, was du vorhast.“

„Mein Entschluss kommt doch keineswegs so plötzlich und unerwartet. Ich weiß, dass mein Vater schon die Wahl meines Studienfachs missbilligt hatte, weil ich damit mit der Tradition des Clans gebrochen habe, ein öffentliches Amt mit Würde und Ansehen anzustreben. Dies, so musste ich täglich auf die eine oder andere Art erfahren, sei der nobelste Weg, den Geist und Willen in den Dienst des Kanons zu stellen, auf den sich die Verfassung von Terranova beruft. Ich respektierte meinen Vater und war es leid, mit ihm zu streiten, weshalb ich es immer darauf beruhen ließ, ihm in den Glauben zu lassen, dass alles, was er sagte, richtig sei. Meine Träume vom Weltall und mein Verlangen danach, im Denken ganz frei zu sein, verschwieg ich euch beiden. Aber, ich will nicht immer an den Ketten eurer Werte und Denkweisen hängen. Ich will nicht alles beim Status Quo halten, um ja nicht die Geister einer schrecklichen Vergangenheit heraufzubeschwören. Nicht verheimlicht habe ich euch aber mein Interesse für Technik und Wissenschaft, das Vater spätestens seit der Wahl meines Studiums nicht mehr als jugendliche Verirrungen abtun konnte.“

„Lao, Vater hat sich längst damit abgefunden, dass sein Sohn seinen eigenen Weg finden würde. Du musst aber verstehen, dass der Plan der Xian in seinen Augen und auch in meinen eine Monstrosität ist und du mit deiner Teilhabe daran alles verrätst, woran wir immer geglaubt haben. Du hast sicher eine Idee davon, welche Interessen die Xian mit ihren Plänen wirklich verfolgen. Und trotzdem willst du dorthin. Ich verstehe dich nicht.“

„Ja, ich weiß, dass die Xian nach Reichtum und Macht streben. Ich weiß auch, dass dieser Clan nicht für die Werte des alten Terranova steht.“

Ailan verdrehte die Augen und sprach nun wieder energischer zu ihrem Sohn. „Die Werte des alten Terranova sagst du? Das klingt so abfällig. Es sind die Werte, die tausendfünfhundert Jahre lang für einen annähernd gleichbleibenden Wohlstand und vor allem für Frieden gesorgt haben, bis sich einige Clans von diesen Werten freigemacht haben.“

„Aber die Werte haben auch für Stillstand gesorgt“, warf Lao ein.

„Wir haben fast alle Krankheiten ausgerottet, wir können innerhalb weniger Stunden an jeden Punkt des Planeten reisen, ja sogar an Orte, die außerhalb des Planeten liegen. Wir haben jederzeit durch die Kraft unserer Gedanken Zugriff auf fast das gesamte Wissen der Menschheit. Armut, die vor der Gründung von Terranova und auch in den ersten hundert Jahren noch den meisten Menschen ein unwürdiges Leben beschert hatte, war fast ein Randphänomen geworden, bevor Macht- und Geldgier wieder das Regiment übernommen haben. Es musste niemand mehr hungern und jeder hatte Aufstiegschancen und selbst wer nicht arbeitete, war von einem engmaschigen Netz aufgefangen worden. Gut, es war dann kein Leben im Luxus, aber erzähl mir nicht, dass wir hier auf Terranova nicht gut gelebt haben. Was willst du denn mehr? Warum aufbrechen in ein großes unbekanntes Leben in der kargen Einöde des Alls? Kämpfe lieber für das, was Terranova einst ausgemacht hat.“

„Mutter, ich weiß, dass es für dich schwer zu verstehen ist. Dort draußen ist ein Raum, der unermesslich groß ist und wo überall Entdeckungen auf uns warten. Wir aber stecken hier fest und stehen uns mit unseren Werten und Direktiven selbst im Weg. Gut, für viele mag das ein Leben sein, vielleicht auch das Leben, was die meisten Menschen sich wünschen. Für mich ist es das aber nicht. Ich weiß auch, dass es den Xian um Macht und Denare geht, vielleicht auch um so etwas wie die Vorherrschaft über das All, auch wenn ich nicht daran glaube, dass der hohe Rat es jemals soweit kommen lassen wird. Die Xian und die anderen reichen Clans sind aber die einzigen, die die Mittel dazu haben und es wagen können, ein so gigantisches Projekt anzustoßen. Ich glaube, dass sie zwar die Vorreiter sein werden, dass es aber irgendwann normal sein wird, in Alpha Centauri oder auf dem PK27 zu leben, genauso, wie das Leben hier auf Terranova weitergehen wird. Es werden andere Clans folgen und die Macht wird sich verteilen. Das All ist unendlich groß. Das kann nicht von einem Clan beherrscht werden.“

Ailan schüttelte den Kopf, bevor sie weitersprach. Es war draußen mittlerweile fast stockfinster geworden und Lao hatte mit einer Anweisung durch sein Implantat den Raum in ein gedimmtes Licht getüncht, das direkt aus den Wänden zu kommen schien. Die Decke des Raumes schien sich zu öffnen und den Blick auf einen Sternenhimmel freizulegen, von dem Lao und Ailan kurz darauf von allen Seiten umgeben waren, als würden sie durch das All schweben. Tatsächlich war dies nur eine Projektion, die Lao sich oft vor dem Einschlafen ansah.

„Lao“, fuhr die Mutter fort, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen sanfteren Ton zu geben, um Lao vielleicht doch noch umstimmen zu können. „Ich kann dir deine Träume nicht nehmen. Was aber die Xian und auch die Antracis angeht, so unterschätzt du sie. Beide Clans stehen für eine menschenverachtende Behandlung ihrer Arbeiter und für Gesetzesverstöße, die nicht oder kaum geahndet werden. Viele Millionen Menschen arbeiten in den Minen und Werken der Clans unter menschenunwürdigen Bedingungen. Ich selbst war schon an mehreren Scheinverfahren gegen die Xian beteiligt, weil sie auch hier in Tsingtao durch ihr werteverachtendes Verhalten aufgefallen sind. Auch wenn wir ein paar kleinere Prozesse gewonnen haben, standen wir letztendlich auf verlorenem Posten, weil sie ihre Macht überall ausspielen können und jeder Distriktvertreter irgendwann einknickt, wenn der Bau eines großen Werkes auf der Kippe steht. Schau dir den Distrikt Beijing an. Dort sind ganze Straßenzüge gesäumt von Bannern der Xian. Genauso haben in Scotia oder Transilvania die Antracis überall ihre Hände drin.“

Ailan spürte, dass ihre Worte nichts bewirkten. Sie sprach nun wieder energischer. „Außerdem, was ist mit Niobe? Wie kannst du ihr das antun?“

Sie hielt inne, als sie sah, das Lao ihr offenbar kaum mehr zuhörte, sondern den virtuellen Sternenstaub durch seine Finger gleiten ließ und in seinen Augen das Licht eines grün leuchtenden Gasriesen funkelte.

Lao wirkte abwesend, als er wieder zu sprechen begann. Er wollte den Schmerz nicht an sich heranlassen, den das Unverständnis seiner Mutter in ihm auslöste. Auch spürte er eine Taubheit dort, wo der Gedanke an den Verlust seiner Schwester ihm vor kurzem noch größte Schmerzen verursacht hätte.

„Mutter, ich habe Niobe gefragt, ob sie mich begleiten will. Sie hat abgelehnt, aber ich werde sie wieder fragen und am Ende werden wir gemeinsam gehen.“

Ailan sprach mit großer Bitterkeit in ihrer Stimme. „Lao, das wirst du nicht tun. Ich kann dich offenbar nicht belehren und nichts auf Terranova wird dich wohl davon abhalten können. Verdammt, also lassen wir das. Dass du jetzt auch noch Niobe mitnehmen willst, ist selbstsüchtig von dir. Das darfst du nicht tun. Denke auch an das Glück von Niobe. Sie wäre dort in einem Distrikt, in dem alles nach anderen Regeln verläuft. Niobe ist hier zuhause und sie ist glücklich, wenn sie mit den Kindern des Clans spielt oder wenn sie die Pflanzen in der Biosphäre pflegt. Sie weiß mehr über Botanik als alle anderen hier in unserem Habitat, vielleicht sogar in ganz Tsingtao. Was soll sie in der Wüste mit sich anfangen. Lao, lass es. Wenn du schon gehen musst, dann lass Niobe aus dem Spiel. Geh einfach, ja, verschwinde, wenn du unsere Werte so sehr missbilligst.“

„Ja, das werde ich tun. Ich werde gehen.“

Lao blieb stumm inmitten des Sternenhimmels zurück, während sich ein heller Spalt darin öffnete und das Licht aus dem Flur einfiel, in dem seine Mutter kurz darauf verschwand.

Niobe

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