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Lao und Niobe
Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat
ОглавлениеLao war immer da gewesen. So sehr sie sich auch bemühte, konnte sie sich keine Erinnerung an eine Zeit wachrufen, in der er ihr nicht nahe gewesen wäre. Wollte sie ihm etwas zeigen, so musste sie ihn nur rufen und er kam, sah es an und kommentierte es auf seine unverwechselbare Art. Hatte sie wegen etwas Gewissensbisse oder litt sie, weil ihr Ziehvater auf sie geschimpft hatte, dann kam Lao und nahm ihr etwas von ihrer Last. Das war nicht selten geschehen, da Caius sie liebte und besorgt um sie war. Lao liebte er nicht weniger, doch ließ er ihn öfter das tun, was er wollte. Wahrscheinlich erinnerte sein Sohn Caius mehr an den eigenen rebellischen Geist seiner Jugendtage und er wusste ja, was sich daraus entwickelt hatte. Zu ihr, das wusste Niobe, hatte Caius eine besondere Beziehung, da sie ihn mit ihren großen dunklen Augen an die Augen seiner eigenen Mutter erinnerte, von der er so wenig gehabt hatte. Mit ihrer honigfarbenen Haut erinnerte sie ihn an die Erde seiner Heimat. Ihr braungelocktes Haar ließ ihn an die Wogen des Mare Nostrum denken. Ihre Gestalt war weniger zierlich als die der jungen Mädchen von Tsingtao, doch sie war hochgewachsen und in ihren Proportionen erkannte Caius das Ebenmaß wieder, an dem Marcus Vitruvius Pollio sich in seiner Proportionenlehre orientiert hatte, die in Rom seit mehr als zwei Jahrtausenden in der Architektur hochgehalten wurde. Niobe war nicht unglücklich. Sie liebte ihren Ziehvater. Dennoch spürte sie immer seine Präsenz und bisweilen auch einen Drang, von zuhause fortzugehen. Doch sie war darin weit mehr im Widerstreit mit sich selbst als Lao, der schon früh davon gesprochen hatte, einmal in weite Ferne aufbrechen zu wollen. Niobe fühlte auch in sich einen unbestimmten Forscherdrang. Hier aber hatte sie Heimatgefühle, die sie nur in den sanften Hügeln Tsingtaos empfand, die den einst so lieblichen, heute aber zunehmend verkommenden Ort am sachte wogenden Meer umkränzten. Was sie hier hielt, war aber vor allem die Liebe zu ihren Angehörigen. Wenn sie darüber nachdachte, was ihr hier das Wertvollste war, dessen Verlust für sie am schmerzlichsten wäre, dann dachte sie zuerst an Lao und dann an ihre Zieheltern. Was würde aus ihren Heimatgefühlen werden, wenn einer von ihnen nicht mehr hier wäre? Sie hatte Angst, dass Lao, der sich einmal mit einem Vogel mit gestutzten Flügeln in einem goldenen Käfig verglichen hatte, etwas Dummes tun würde, nur um aus diesem Käfig auszubrechen. Sie wusste, dass es immer sein Traum gewesen war, ins All aufzubrechen und sie wusste auch, dass er dafür vieles aufzugeben bereit war.
Lao war tief in Gedanken, als Niobe auf das Dach des Bauwerks kam, das der reiche Clan der Lingdaos sich mit niemandem teilen musste. Lao sah an ihrer Gangart und dann in ihren Augen, dass etwas sie bedrückte. Sein Eindruck bestätigte sich, als Niobe in einem Tonfall unterdrückter Melancholie zu ihm sprach.
„Das Dach war schon immer dein Lieblingsplatz gewesen. Hier bist du den Sternen am nächsten.“
Lao nickte und nahm einen Schluck aus dem Glas, das er in der Hand hielt. Als er ihr antwortete, versuchte er Heiterkeit in seine Stimme zu legen, so als müsste er sie wegen einer Sache trösten. Nur wusste er noch nicht, worum es sich dabei handelte. „Setz dich doch zu mir und trink einen Quimtau mit mir.“
Niobe setzte sich und ließ die klare, rötlich gefärbte Flüssigkeit in ein mehrfach gewundenes und gedrechseltes gläsernes Gefäß einlaufen. Nachdem sie daran genippt hatte, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort.
„Lao, ich habe Angst vor der Zukunft.“
Lao schüttelte sachte den Kopf und seufzte leise. „Was ist denn los? Wovor genau hast du Angst? Sorgst du dich wegen der Veränderungen, die auf Terranova vorgehen? Ich glaube nicht, dass es uns dadurch so bald schlechter gehen wird. Ich glaube sogar, dass wir langfristig zu den Profiteuren gehören werden.“ Laos Stimme wurde lauter und im Tonfall härter, als er weitersprach. „Wenn es mehr Licht in unserer Welt geben soll, dann müssen wir auch den Schatten in Kauf nehmen. Wichtig ist nur, dass wir uns nicht in den Schatten verkriechen, weil wir Angst vor der Sonne haben. Lass dich also nicht von deinen Ängsten leiten.“
Niobe verzog das Gesicht fast unmerklich, als sie die Härte in den Worten ihres Bruders spürte. Auch Lao spürte die Veränderung. Er hatte Niobe nicht weiter verunsichern wollen. So traurig und durcheinander hatte er sie lange nicht erlebt.
„Niobe, ich verstehe ja, dass du Angst hast, aber...“, hier unterbrach ihn Niobe. „Es ist nicht das, was du denkst. Vor den Veränderungen habe ich auch Angst. Fast jeder hat Angst davor. Viel mehr Angst aber macht mir die Vorstellung, dass unser Leben sich so rasch verändert.“ Sie hielt kurz inne und es schien, als ringe sie nach Worten. „Vielleicht kann unser Clan profitieren von den Veränderungen, aber was macht das mit uns? Wir verraten das, was uns immer wichtig war, nur damit es uns weiterhin gut geht. Aber, das war es auch nicht, was ich dir eigentlich sagen wollte.“ Hier schwieg sie erneut für einige Sekunden, bevor sie Lao direkt in die Augen sah und das Wort wieder ergriff. „Ich habe Angst davor, dass du fortgehst.“
Lao lachte kurz auf. „Fortgehen? Wieso sollte ich? Was mir auf der Welt wichtig ist, das ist hier. Die Sterne sind so fern, dass ich ihnen nicht bedeutend näherkomme, wenn ich von hier aufbreche. Ja, ich hatte einmal davon geträumt, dass ich später einmal auf Tetrathlon würde forschen können. Die Raumstation gehört aber seit ein paar Jahren den Antracis und außerdem, weshalb sollte ich dort gebraucht werden. Ich weiß, wie man Antriebe entwickelt, aber die wenigsten Ingenieure haben jemals diesen Planeten verlassen. Außerdem, was ist das schon? Selbst wenn ich als Techniker ein paar Jahre in einer der Minen im All arbeiten könnte, hätte das noch wenig zu tun mit dem Aufbruch in die Tiefen des Alls, von dem ich träume. Vater würde mir auch niemals erlauben, für unsere Feinde zu arbeiten. Er ist so stur. Er versteht die Zeichen der Zeit einfach nicht und denkt nur in seinem Schema von Gut und Böse. Jeden Fortschritt, den die Xian und Antracis uns bringen, verteufelt er.“
Niobe las in Laos Gesicht, dass sie ungewollt in eine offene Wunde gefasst hatte. Lao hatte nie zur Schwermut geneigt und hatte mit seinem Tatendrang immer dafür gesorgt, dass dunkle Gedanken nie lange Bestand hatten. In ihrer Kindheit hatte Lao Niobe manchmal mitgenommen, wenn er mit Jun zusammen draußen Rollenspiele gespielt hatte. Er war dann zu dem geworden, was er hatte sein wollen. Oft hatte er den Kommandanten gespielt, der seine Besatzung von den vertrauten Pfaden fortgeführt hatte. Das waren Kinderspiele gewesen. Auch Niobe erkannte, dass ihr Bruder jetzt vor einer Realität stand, aus der er sich nicht fortträumen wollte, sondern in der er selbst zum Gestalter werden wollte.
Niobe brach das Schweigen. „Du sagtest, alles, was dir auf der Welt wertvoll ist, sei hier. Ich weiß aber, wie sehr du darunter leidest, dass du deine Träume nicht verwirklichen kannst. Es macht mir Angst, dass du eine Dummheit begehen könntest, wenn du doch die Chance dazu siehst.“
Lao unterbrach sie. „Welche Chance meinst du?“
„Anscheinend hast du noch nichts von der Sternenstadt gehört. Die Xian planen den Aufbruch ins All. Sie wollen eine ganze Heerschar von Wissenschaftlern und Technikern mitnehmen und auf einem fernen Planeten eine Kolonie gründen. Jeder weiß, dass es ihnen dabei darum geht, den Wettlauf ums All zu gewinnen und sich Rohstoffquellen zu sichern. Dafür würden sie alles tun, auch wenn die Vorhut dabei sterben müsste. Dann versuchen sie es eben wieder und wieder.“
Lao schaute ungläubig in Niobes Gesicht. „Ist das wirklich wahr oder ist das vielleicht ein Werbegag gewesen? Am Ende steht dahinter die Produktionsfirma für eine neue virtuelle Welt, die nur Werbung für ihr Produkt machen wollte?“
Niobe schüttelte heftig den Kopf. „Unter der Anzeige prangte das Wappen der Xian, die nicht für ihren Humor bekannt sind.“
Lao lächelte und es erschien Niobe, als läge in diesem Lächeln eine Spur von aufkeimendem Wahnsinn. „Das ist ja fantastisch. Ich werde mich bewerben.“
„Aber Lao, ich habe dir davon erzählt, weil ich dich für so vernünftig gehalten habe, dass du mir die Angst nehmen kannst.“ Niobe musste ein Weinen unterdrücken, bevor sie weitersprach. „Bitte, sag mir, dass du nicht wirklich vorhast, dich für diesen Wahnsinn zu bewerben. Es würde uns alle hier in die Verzweiflung treiben, wenn du das tätest. Und wenn du sterben würdest… “
Lao stand mit offenem Mund und schüttelte den Kopf. „Nein, was sprichst du denn von meinem Tod? Die Menschheit ist reif, nach den Sternen zu greifen. Wenn die Xian das als erste erkannt haben, dann muss ich eben mit dem Feind paktieren. Vielleicht solltest du auch darüber nachdenken.“
Niobe verstand nicht, wie ihr Bruder so reden konnte. Sie hatte nicht bemerkt, wie sein Denken sich in den letzten Jahren verändert hatte.
„Du und ich, wir beide im Weltraum. Das wäre doch fantastisch“ fuhr Lao fort. Du könntest auch deinen Traum wahrmachen. Du könntest im All Pflanzen entdecken, die ganz anders sind, als alles andere, was du je gesehen hast. Und mehr noch. Wolltest du nicht eigentlich immer Archäologin werden? Wie wäre es mit Weltraumarchäologie? Vielleicht treffen wir auf Zeugnisse fremder Kulturen da draußen, die wir erstmal verstehen lernen müssten.“
Niobe war erschrocken über die energische Reaktion ihres Bruders und seinen irrsinnigen Gedanken, sie könnte dabei mitmachen wollen.
Lao stellte sein Glas auf den Tisch und erhob sich. „Ich muss mir das genauer ansehen. Dann muss ich Vater damit konfrontieren. Er wird toben, aber am Ende muss er es verstehen.“ Mit diesen Worten ging er hinein und ließ Niobe auf dem Dach zurück.