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Angst um Lao
Jahr 2021 nach der Erleuchtung, 3. Monat
ОглавлениеSeitdem Lao fortgegangen war, hatte Niobe nichts mehr von ihm gehört. Er antwortete nicht auf ihre Versuche, ihn zu kontaktieren. Täglich suchte sie in den Weiten des Netzes nach Neuigkeiten über die Sternenstadt. Die Wut und Trauer, dass ihr Bruder nicht einmal ihr von seinen Plänen erzählt hatte, wichen bald einer Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte oder er schlecht behandelt würde. Es hat lange schon aus allen Teilen von Terranova Gerüchte gegeben, die Xian würden das einzelne Leben nicht so sehr schätzen, sofern es nicht um Angehörige des eigenen Clans ging. Es gab in den Arbeitsstätten der Xian weit mehr Arbeitsunfälle als anderswo. Auch häuften sich ominöse Todesfälle oder Fälle von Vermissten, die nie aufgeklärt wurden.
Bald gab eine Nachricht Niobe einen konkreten Anlass, Angst um Lao zu haben. Es war eine unter vielen Nachrichten der letzten Zeit, in denen es um Unruhen ging, die sich auf Terranova immer mehr häuften. Niobe las, es habe eine Detonation nahe der Sternenstadt gegeben. Es sei ein Fusionskraftwerk beschädigt worden, das die Anlagen mit Energie versorgte. Eine militante Widerstandsbewegung oder vielleicht auch nur ein Einzeltäter habe die Tat verübt. Lapidar hieß es noch, es seien verschärfte Sicherheitsbestimmungen eingeführt worden. Woanders fand Niobe Hinweise darauf, dass die Sternenstadt gegenüber ihrer Außenwelt fast hermetisch abgeriegelt worden war. Lao per Implantatkontakt anzurufen, wurde nun auch aus technischen Gründen zur Unmöglichkeit, weil die Xian den Kontakt unterbanden.
Angst und Sehnsucht um Lao wurden übermächtig und schienen um sie herum alles aus den Angeln zu heben. Wenn sie nicht auf ihrem Bett lag und Bilder, Töne und Stimmen aus dem Äther des Netzes auf sich eindringen ließ, schlich sie durch die Gänge. Sie vermied es auch, die Biosphäre zu betreten, da sie nicht spüren wollte, wie das Schöne an ihrem Innersten abprallte und nicht mehr zu ihr durchdrang.
Verstärkt wurde ihre Verzweiflung auch durch Veränderungen, die sie an ihren Eltern bemerkte. Besonders Caius wirkte oft nur noch wie ein Schemen seiner selbst. Sie mühte sich, ihm eine Tochter zu sein, die ihm etwas vom Gefühl des schweren Verlusts abnehmen konnte. Immer wieder machte sie ihm deutlich, dass Lao ja nicht gestorben sei und bestimmt bald wiederkäme. Doch das besserte seine Stimmung nicht. Im Gegenteil - einmal murmelte er, es sei vielleicht einfacher zu ertragen, wenn er tatsächlich gestorben sei. Bei Caius saß der Stachel so tief, dass er noch immer nur Enttäuschung und Wut spürte, wenn er an Lao dachte. Wie sehr er in seiner Wut gefangen war und wie wenig von dem übrig blieb, der er mal gewesen war, gab Niobe bald das Gefühl, zweifach verlassen worden zu sein. Einzig Ailan war gut zu ihr und gab ihr mehr Aufmerksamkeit als jemals zuvor.
Einmal brach Niobe während des Abendessens, das sie am Tisch mit Caius und Ailan einnahm, in Tränen aus und verbarg ihr Gesicht in ihren Armen. Da spürte sie den sanften Druck der Hände ihrer Ziehmutter, die ihr über den Rücken strich und versuchte, sie mit leisen, nur gehauchten Worten ein wenig zu trösten. Niobe ergab sich dem Trost, den Ailan ihr spendete und fühlte sich einen Moment darin geborgen, bis Caius seinen Teller von sich schob und den Raum verließ.
Es verging noch eine Zeit, bis Niobe langsam ein neues Gefühl und schon fast so etwas wie eine neue Hoffnung spürte. Aus der Angst um ihren Bruder heraus und aus der Sehnsucht, ihn wiederzusehen, wuchs in ihr eine Kraft, sich dagegen zu wehren. Sie erinnerte sich an einen Spruch, den ihr Vater früher einmal ausgesprochen hatte. Er hatte gesagt, es gäbe kein Schicksal und alles Geschehen in der Welt resultiere aus Wille und Vorstellung. Niobe spürte auch, dass sie die Untätigkeit nicht länger ertragen konnte.