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Niobe und die Kunde von der Sternenstadt
Jahr 2020 nach der Erleuchtung, 4. Monat
ОглавлениеManchmal verließ Niobe auch das Habitat und wanderte über die Pfade, die zwischen den allerorts angelegten Landschaftsgärten verliefen. Es war früher eine herrliche Ruhe überall gewesen. Man hatte nur das gedämpfte Reden anderer Spaziergänger gehört oder die Schritte von Menschen, die ohne Eile von ihren Habitaten aufgebrochen waren, um zu einer der Kuppeln zu laufen. In manchen der Hallen blühte der Handel mit Waren von überall her noch immer wie in ihrer Kindheit. In anderen konnte man sich noch immer vergnügen oder aber seine Fähigkeiten erweitern. Alles war aber teurer geworden und an vielen der Hallen prangte heute das Signet der Xian oder einer der anderen großen Clans. Auch sah Niobe auf ihren Spaziergängen immer häufiger Menschen ohne Obdach, die an Brotresten nagten. Noch zu Zeiten ihrer Kindheit wäre sofort jemand gekommen und hätte Hilfe angeboten, wenn ein anderer solche Not erlitten hätte. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, war ein notleidender Mensch am Wegesrand aber schon ein vertrautes Bild geworden und jeder hatte seine eigene Last zu tragen.
Niobe hatte einige Orte, die sie außerhalb des Habitats gerne aufsuchte. Dafür musste sie mit einer Gondel fahren, die lautlos durch Röhren aus einer unverwüstlichen Kohlenstofffaser glitt. Die gläsern schimmernden Röhren verliefen an manchen Stellen unterirdisch durch Tunnel, durch die vor langer Zeit noch stählerne Wagons auf Schienen gefahren waren. Diese einst staatlich betriebenen Gondeln gehörten seit einigen Jahren auch den Xian, was einen stetigen Preisanstieg zur Folge hatte.
Eine kaum mehr beachtete museale Attraktion Tsingtaos waren zwei Haltestellen, an denen der Innenausbau und sämtliche Einrichtungen, die seit bald 1800 Jahren dort existierten, konserviert worden waren. Niobe war dort gerne, weil es ein merkwürdiges Gefühl in ihr wachrief, dass alle Dinge und alle Zeiten irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Oft war sie alleine dort und dachte darüber nach, warum sie vieles so anders empfand als die meisten Menschen, die sie kannte. Es musste etwas in ihr sein, das sie in allen Dingen mehr erkennen ließ, als die Oberfläche preisgab. Was war heute mit dem einst großen Geschichtsbewusstsein geworden, das die meisten Bewohner von Terranova in sich getragen hatten? Für die Menschen war dieses Bewusstsein einst eine der Säulen gewesen, auf denen Terranova ruhte. Diese Zeit war lange vorbei. Heute waren die Bewohner von Terranova vor allem dem Gegenwärtigen zugewandt und suchten ihr Glück in den Dingen und Vergnügungen des Hier und Jetzt. Doch auch das war ihnen nur so lange möglich, wie die Not, die allerorten um sich zu greifen schien, sie noch nicht erreicht hatte.
Niobe fuhr oft mit der Gondel zum großen Kreuz. Das große Kreuz war der Verkehrsknotenpunkt im Distrikt Tsingtao. Dort starteten die Expresslinien, die den gesamten Planeten umspannten und die entferntesten Gegenden in nur wenigen Stunden erreichbar machten. Von dort aus hob auch einmal am Tag ein lautloses, gläsernes Shuttle ab, das wie ein Aufzug zuerst zu Tetrathlon, der bewohnten Außenstation von Terranova im All, und dann zu den spärlich besiedelten Kolonien auf dem Mond und dem Mars glitt. Diese überwiegend wenig einträglichen Kolonien waren die Zeugnisse eines Wettlaufs der Xian, der Antracis und einiger anderer Clans um die Vorherrschaft im All. Einmal wöchentlich startete von hier aus auch ein kleineres Shuttle der Xian, das eine Forschungsstation anflog, zu der nur Befugte reisen durften.
Niobe saß gerne auf einer Bank auf dem Platz vor dem großen Gebäude, das ihr mit seiner avantgardistisch anmutenden Architektur wie ein Objekt aus einer fernen Welt vorkam. Sie selbst war noch nie mit einer der Expresslinien gefahren und sah immer wieder mit Staunen, wie der Platz sich leerte, wenn eine Großraumgondel einfuhr und die Menschen von den Vergnügungen, die der Platz bot, abließen und hastig das Gebäude betraten. Mit noch größerem Staunen sah sie zu, wie der Platz sich kurz darauf wieder füllte mit Menschen aller Couleur, die von überall her kamen. Gerne hätte sie mehr erfahren über ihre Beweggründe und über die Orte, von denen sie kamen.
An einem Tag, als sie wieder einmal am großen Kreuz saß, sah sie von ihrer Bank auf und bemerkte eine Werbetafel, die vor ihr über den Platz schwebte. Früher hatte es das kaum gegeben, aber jetzt war jeder öffentliche Platz überfrachtet davon. Niobe las den Schriftzug „Wir greifen nach den Sternen“, der über einem Raumschiff prangte, neben dem die Raumstation Tetrathlon, die als Maßstab abgebildet war, wie ein Staubkorn anmutete.
Für gewöhnlich ignorierte Niobe solche Werbetafeln. Diesmal suchte sie aber im Menü ihres Neuroimplantats die Funktion, mit der sie eine Verbindung zu der Tafel und den Informationen herstellen konnte, die sich darin befanden. Vor ihren Augen spannte sich ein großes Feld mit bewegten Bildern auf und sie hörte eine Stimme, die vom Aufbruch zu einer Galaxie kündete, in der kurz zuvor ein neuer Planet entdeckt worden war. Nicht nur sollte es sich um einen Planeten mit einem großen Reichtum an Rohstoffen handeln, sondern er sollte auch noch bewohnbar sein und ein herrlich mildes Klima haben. Die Worte waren so gewählt, dass jeder Zweifel an der Realisierbarkeit eines so tollkühnen Kolonialisierungsprojekts lächerlich erscheinen sollte. Eine Vorhut der Menschheit sollte aufbrechen und mit ihrer Großtat den Reichtum und das Wohl aller Menschen auf Terranova vermehren. Niobe ahnte, worum es tatsächlich ging: Um Rohstoffe, Macht und noch mehr Geld für die Xian, die federführend hinter dem Projekt standen. Mit diesem Coup würden sie den Wettlauf gegen die anderen Clans für sich entscheiden. Niobe erkannte aber auch, dass die Xian mit ihren Plänen an den innersten Instinkten des Menschen rührten, zunächst für den eigenen Clan, dann für den eigenen Distrikt und letztendlich für die gesamte Menschheit den Lebensraum verbessern und vergrößern zu wollen. Bestimmt, so erschrak Niobe, verfehlte diese Vorstellung auch bei Lao nicht ihre Wirkung.
Niobe hatte Angst bei der Vorstellung, dass die Dinge auf Terranova sich weiter verschlechtern würden. In der Schulzeit hatte sie noch in den knappen Unterweisungen über die Geschichte von Terranova gelernt, dass die Gier nach immer mehr und der unbedingte Fortschrittsglaube längst überkommene Gedanken waren. Ihre Überwindung hatten erst Frieden und die greifbare Realität eines Wohlstands für die meisten Menschen möglich gemacht. Gleichzeitig empfand Niobe in einem Winkel ihres Geistes auch eine Faszination daran, was der Mensch vollbringen kann. Unter ganz anderen Vorzeichen hätte sie dem Vorhaben, in die Tiefen des Alls vorzudringen, etwas abgewinnen können. Sie spürte durchaus eine Neugierde, fremdes Leben und was es dort draußen alles geben mochte, zu sehen und selbst untersuchen zu können. Aber, so war sie sich sicher, war dies alles andere als eine Forschungsmission zum Wohle aller.
Die Werbetafel enthielt auch eine Ausschreibung, in der nach verschiedensten Mitarbeitern für das Projekt gesucht wurde. In der Ank-Climat, der größten Wüste der Welt und damit einem der wenigen kaum besiedelten Gebiete, war die Sternenstadt bereits im Bau. Dort sollten die bislang größten wissenschaftlichen und technischen Anstrengungen der Menschheit unternommen werden, um das Projekt zum Erfolg zu führen, zum Erfolg für die Xian. Unter den Gesuchen waren auch solche für Raumfahrttechniker, die sich bei der Entwicklung neuer Triebwerkstechnik und neuer Materialien für die Hülle des Schiffes einsetzen sollten. Lao, so fürchtete Niobe, würde also mit seinem guten Abschluss bestimmt dort unterkommen können, wenn er wirklich so dumm wäre, sich dafür zu bewerben.
Niobe sprang sofort auf und eilte heimwärts. Sie konnte nicht darauf vertrauen, dass Lao von all dem nichts mitbekäme. Sie musste handeln und ihm vorauseilend sicherstellen, dass er nicht seinem Traum alles andere opfern würde. Ihm würde eine Verbannung aus dem Clan drohen, ließe er sich mit dem Dämon ein, der in der Sicht der Lingdaos von ihrer Welt besitzergreifen wollte. Die Lingdaos waren immer Verfechter eines unabhängigen Terranova gewesen, dessen politische Organe auf dem Boden der Werte handelten. Wäre es nach ihrem Vater Caius gegangen, dann wäre kein Clan jemals so reich und so mächtig geworden wie es die Xian und die Antracis heute waren. Caius würde seinen Sohn nicht verstoßen, aber er würde sich dem Votum des Clanrates beugen müssen. Aber noch war nichts geschehen.