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Das geflügelte Pferd

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Es war die helle Aufregung, die Chiara durch den Telefonhörer entgegenschlug. Ein wenig abgedreht war ihr Onkel Albert schon immer gewesen. Auf Leute, die ihn nicht kannten, wirkte er hektisch, zerstreut und etwas unordentlich.

Chiara wusste aber, dass sich hinter der chaotischen Fassade eine überraschende Persönlichkeit verbarg, bei der es immer lohnte, gut zuzuhören. Besonders dann, wenn er seine selbst verfasste Lyrik vorlas.

„Ich bin sogar auf ihm geritten!“ Onkel Albert war regelrecht außer sich. Seine Stimme überschlug sich, während er mitzuteilen versuchte, was er heute erlebt hatte. Doch Chiara war sich nicht sicher, ob sie ihn auch nur ansatzweise verstand.

Pegasus, wiederholte sie in Gedanken. Irgendwo hatte sie den Anschluss verloren und doch war es vermutlich überflüssig das Gespräch noch mal ganz von vorne zu beginnen.

„Wenn ich es dir doch sage“, ereiferte sich Onkel Albert gerade. „Ich saß heute Morgen auf dem Hof und wollte mir die Sonne etwas auf den Bauch scheinen lassen, da traf mich aus heiterem Himmel eine Inspiration!“

Chiara verdrehte die Augen. Dieser Mann hatte keine normalen Einfälle – auf ihn fielen Inspirationen. Sie plumpsten anscheinend vom Himmel, egal wo er gerade stand. Irgendwann würde ihn mal eine erschlagen, dachte Chiara. Was für eine Schlagzeile wäre das wohl? Vielleicht: Tot auf dem Bauernhof. Tierarzt von Eingebung übermannt!

„Also flitzte ich ins Haus und holte mir Stift und Papier. Glaub es oder nicht: Ich schrieb die wunderbarsten Zeilen, die ich jemals erdachte!“

Soweit hatte Chiara alles begriffen. Es ging also immer noch um Lyrik. Oder? „Und dann stand es auf einmal vor mir. Das prächtigste Ross, strahlend weiß, mit diesen majestätischen Flügeln.“

„Ähm.“

„Du weißt doch: Pegasus, das Musenross. Weißt du denn gar nichts über griechische Mythologie? Es trägt die Dichter.“ Endlich sprach Onkel Albert etwas ruhiger.

„Onkel“, setzte Chiara an, „dir ist klar, dass du von einem fiktiven Wesen sprichst?“

Er holte hörbar Luft. „Vergiss, was du darüber weißt. Schwing dich auf dein Mofa und komm zu mir auf den Hof.“

Vier Stunden später erreichte sie besorgt den Bauernhof. Ihre Gedanken rasten. Konnte es wirklich sein, das dieser literarisch so begabte Veterinärmediziner schlicht übergeschnappt war?

Ihr Onkel erwartete sie bereits in der Einfahrt. Er trug seine Arztkluft und seine Reiterstiefel – ein denkwürdiges Outfit.

„Endlich bist du da. Wird Zeit, dass du wieder aufs Land ziehst. Die Stadt ist einfach zu weit weg.“

Verdammt noch mal, sie wollte jetzt nicht über ihren Wohnsitz sprechen, dachte Chiara. „Wo ist das Tier?“

„Im Stall“, sagte er. „War schwer es dort reinzubekommen.“

Sie eilten zu den Pferdeboxen. In einigen standen Onkel Alberts tierische Patienten, in einem weiteren sein eigenes Reitpferd. In der hintersten Box stand ein Schimmel. Das Fell war unnatürlich weiß und schien fast zu leuchten.

„Ein Schimmel“, kommentierte Chiara trocken.

Onkel Albert lächelte. „Nein, ein Pegasus. Der Garant künstlerischen Schaffens. Mit ihm in meinem Stall beginnt ab heute eine neue kreative Ära. Nämlich meine.“

„Es hat keine Flügel“, stellte Chiara fest.

„Mit Flügeln passte es nicht durch die Tür“, erklärte Onkel Albert. Erst jetzt bemerkte sie den weißen Verband, der den Rücken des Tieres verdeckte.

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