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I Zorn:
Das fehlende Bindeglied
ОглавлениеZorn hat einen zwiespältigen Ruf. Einerseits gilt er als wertvoller Teil des moralischen Lebens, als unerlässlich für die ethischen wie die politischen Beziehungen der Menschen. Charakteristisch und äußerst einflussreich ist hier Peter Strawsons bekannte Argumentation, wonach die „reaktiven Haltungen und Empfindungen“, zu denen er ganz zentral den „Groll“ zählt, eine tragende Rolle in unserem Umgang miteinander spielen und mit der Idee von menschlicher Freiheit und Verantwortung wesentlich verbunden sind.1 Der entschiedenen Auffassung anderer Philosophen nach ist der Zorn eng mit der Selbstachtung und dem Aufbegehren gegen Ungerechtigkeit verknüpft.2
Andererseits durchzieht die Vorstellung vom Zorn als einer zentralen Bedrohung des vernünftigen Miteinanders die philosophische Tradition des Westens – unter anderem das politische Denken zu Zeiten von Aischylos,3 die Texte von Sokrates und Platon,4 der griechischen und römischen Stoiker, der im 18. Jahrhundert wirkenden Philosophen Joseph Butler und Adam Smith und diejenigen zahlreicher weiterer einschlägiger Denker. Wie Butler schreibt, hat „kein anderes Prinzip, keine andere Leidenschaft das Elend unserer Mitmenschen zum Zweck“5 – und darum besorgt es ihn, dass Gott uns Menschen offensichtlich mit dem Zorn ausgestattet hat. Dieselbe Vorstellung von der Zerstörungskraft des Zorns sticht in nichtwestlichen Traditionen hervor (vor allem im Buddhismus und bei einigen Spielarten des Hinduismus).6 In unseren Tagen sind aus der Vorstellung vom Zorn als Krankheit zahlreiche therapeutische Arbeiten hervorgegangen, nach denen es der offenbar unerbittliche Zugriff des Zorns ist, der ein Eingreifen (oder Ratschläge zur Selbsthilfe) erforderlich macht. Da der Zorn im moralischen Leben als ein solches Problem empfunden wird, gewinnt das Projekt der Vergebung eine zentrale Bedeutung, und im Regelfall wird Vergebung in Begriffen einer Mäßigung des Zorns und der von ihm geprägten Einstellungen aufgefasst.
Zutreffen könnten beide Auffassungen: Es könnte sich beim Zorn um ein wertvolles, zugleich aber gefährliches Werkzeug im moralischen Leben handeln, das die Gefahr von Auswüchsen birgt und fehleranfällig ist, aber dennoch eine Grundlage für nicht zu ersetzende Beiträge bildet. (So dachte Butler.) Genauso gut kann es aber auch sein, dass eine dieser Auffassungen viel besser begründet ist als die andere. So werde ich argumentieren. Es ist allerdings höchst unwahrscheinlich, dass wir in diesen Dingen klarer sehen werden, wenn wir uns nicht zunächst ein besseres Verständnis darüber verschaffen, was der Zorn eigentlich ist.
Moderne Philosophen widmen der Analyse von Emotionen im Ganzen gesehen wenig Zeit. Charakteristisch und äußerst einflussreich sind Strawsons Bezug auf „reaktive Haltungen und Empfindungen“, einschließlich Schuld, Groll und Entrüstung, die alle der Beziehung eines fremden Willens zu uns nachgehen,7 sowie R. Jay Wallaces hochgradig abstrakte, aber gleichwohl nützliche Beschreibung einer Klasse von „reaktiven Emotionen“, die in Beziehung zu Bewertungen und Einschätzungen stehen.8 Selbst in Kontexten, in denen es außerordentlich wichtig scheinen könnte, welche Haltung sinnvoll ist, lassen sich Philosophen allzu oft von Strawson leiten.9 Mittlerweile haben die Kognitionspsychologen reichlich Material für eine detaillierte Analyse der Elemente des Zorns vorgelegt;10 weil sie aber nicht auf Definitionen aus sind, bringen sie das Material in der Regel nicht in eine philosophische Ordnung.
In Übereinstimmung mit den meisten traditionellen philosophischen Definitionen des Zorns werde ich argumentieren, dass die Vorstellung der Vergeltung oder des Zurückzahlens – in welcher subtilen Form auch immer – zum Zorn und seinem Begriff gehört. Dann werde ich argumentieren, dass die Vergeltungsvorstellung normativ ein Problem darstellt – und folglich auch der Zorn. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder konzentriert sich der Zorn auf eine erhebliche Rechtsverletzung wie etwa einen Mord oder eine Vergewaltigung, oder er bezieht sich lediglich auf die Bedeutung, die das Vergehen für den relativen Status des Opfers hat – wie bei der von Aristoteles sogenannten „Herabsetzung“. Im ersten Fall ergibt der Gedanke an Vergeltung keinen Sinn, weil die Verletzung des Opfers nicht aus der Welt geschafft oder in einem konstruktiven Sinne bewältigt wird, indem man dem Täter Schmerz zufügt. Im zweiten Fall ist sie nur allzu sinnvoll, da Vergeltung zu einer Umkehrung der Positionen führen kann. Allerdings sind dabei die beteiligten Wertvorstellungen verzerrt: Der relative Status sollte kein solches Gewicht haben. Im Zuge der Verteidigung dieser Argumente erkenne ich schließlich einen Grenzfall des Zorns, der von diesen Mängeln frei ist, und ich schildere und befürworte einen Übergang vom Zorn zum konstruktiven Denken, das auf das künftige Wohl gerichtet ist.