Читать книгу Zorn und Vergebung - Martha Nussbaum - Страница 19
IX Zorn und andere „reaktive Haltungen“:
Dankbarkeit, Trauer, Ekel, Hass, Verachtung, Neid
ОглавлениеWeil es üblich geworden ist, den Zorn als eine von zahlreichen „reaktiven Haltungen“ zu behandeln, ohne den feineren Unterschieden zwischen ihnen größere Beachtung zu schenken, muss der nächste Schritt in unserer Darlegung des Zorns darin bestehen, ihn von seinen Verwandten abzugrenzen. Wie gesehen, geht der Zorn79 mit der Überzeugung einher, dass das Zielobjekt mit seiner Tat einer Person oder Sache innerhalb des eigenen Sorgenkreises unrechtmäßig Schaden zugefügt hat. Meiner dargelegten Ansicht nach umfasst er ebenfalls den Wunsch, den Täter auf irgendeine Weise leiden zu sehen.
Den ersten Verwandten des Zorns, den wir in den Blick nehmen müssen, ist sein Cousin ersten Grades: die Dankbarkeit. Die beiden Emotionen werden in philosophischen Erörterungen – von den griechischen Epikureern und Stoikern bis zu Spinoza und darüber hinaus – in der Regel eng zusammengehalten. Die Dankbarkeit hat genau wie der Zorn sowohl ein Zielobjekt (eine Person) als auch einen Fokus (eine Tat): Es ist eine angenehme Empfindung, mit der wir auf die augenscheinlich beabsichtigte Wohltat eines anderen reagieren, in der Meinung, dass sie unser Wohlbefinden auf signifikante Weise beeinflusst hat. Die Dankbarkeit umfasst nach üblicher Auffassung den Wunsch, der anderen Partei im Gegenzug einen Nutzen zu verschaffen. Daher wird sie häufig zusammen mit dem Zorn als eine vergeltende oder ausgleichende Emotion eingeordnet. Sie scheint rückwärts zu weisen, und sie scheint den wohlwollenden Wunsch wie eine Art des Wunschs nach Vergeltung oder Ausgleich zu behandeln. Man könnte sich dann fragen, ob jemand, der den Zorn kritisiert, wie ich es tue, nicht konsequenterweise auch die Dankbarkeit zurückweisen müsste. Die Epikureer waren dieser Ansicht und stellten sich die vernünftigen Götter als von beiden Emotionen frei vor.
Ich befasse mich eingehend mit dieser Frage in den Kapiteln zu den vertrauten Beziehungen und zum „mittleren Bereich“, wobei ich in beiden Fällen über die normative Korrektheit der Dankbarkeit zu etwas anderen Ergebnissen komme. Es lassen sich jedoch drei Feststellungen vorausschicken. Erstens besteht der Hauptgrund für die Zurückweisung der Dankbarkeit durch Philosophen von Epikur und den Stoikern bis hin zu Spinoza nicht in der von ihr umfassten Vorstellung einer ausgleichenden oder zurückgebenden Vergeltung: Er besteht vielmehr darin, dass Dankbarkeit und Zorn (diesen Denkern zufolge) ein ungesundes Bedürfnis nach den „Gütern des Glücks“ verraten, die wir nicht wirklich kontrollieren können. Allerdings akzeptiere ich die stoische Position nicht, weil es meiner Ansicht nach wichtig und richtig ist, wenn wir wenigstens um einige Menschen oder Dinge außerhalb von uns selbst, die wir in ihrem Tun nicht zu kontrollieren vermögen, besondere Sorge tragen. Der zweite Punkt ist, dass Dankbarkeit Gutes erhofft, Zorn dagegen Schlechtes, und daraus ergibt sich eine starke Asymmetrie zwischen den beiden Emotionen. Man könnte vertreten, dass eine Emotion, die Schlechtes bezweckt, einen besonders prüfenden Blick verlangt, indes der Wunsch nach Gutem nicht mit der gleichen Wachsamkeit und Kritik betrachtet werden muss, zumal Wohltätigkeit in unser aller Leben eine gemeinhin doch seltene Erscheinung ist. Drittens ist die Dankbarkeit, obgleich in gewisser Weise rückwärts gerichtet, oft Teil eines Systems der Gegenseitigkeit, das in wichtigen Aspekten zukunftsgerichtet ist und im Ganzen dem Wohlergehen dient. Das in der voreumenidischen Welt des Aischylos bestehende System des Zorns war dem Wohl nicht förderlich; vielmehr fesselte es die Menschen der Gegenwart an eine Vergangenheit, die ihr Interesse nicht wert war. Obwohl Dankbarkeit und Zorn Cousins ersten Grades sind, bestehen zwischen ihnen erhebliche Asymmetrien, mit denen sich unterschiedliche Einschätzungen begründen lassen.
Auch wenn die Trauer herkömmlicherweise nicht unter die reaktiven Haltungen gerechnet wird, liegt sie doch dem Zorn so nahe, dass wir zunächst darauf eingehen müssen, worin sie sich von ihm unterscheidet. Die Trauer ist genau wie der Zorn auf einen uns (oder unserem Sorgenkreis) entstandenen Schaden oder Verlust gerichtet. Dieser Verlust ist schmerzhaft, und in diesem Schmerz besteht die zentrale Ähnlichkeit zwischen den beiden Emotionen. Die Trauer aber konzentriert sich auf ein Ereignis, bei dem es sich um eine von einer Person begangene Tat handeln kann, aber auch um ein natürliches Ereignis wie beispielsweise den Tod oder eine Naturkatastrophe. Und sie konzentriert sich auf den von diesem Ereignis verursachten Verlust. Selbst wenn eine Person als Verursacher des Ereignisses gilt, liegt der Fokus auch weiterhin auf dem Verlust und richtet sich nicht etwa auf den Täter: Die Trauer macht nicht die Person zum Zielobjekt. Wenn es überhaupt ein Zielobjekt gibt, so ist es die verstorbene oder verschiedene Person. Die Frage der Unrechtmäßigkeit ist für die Trauer ebenfalls nicht zentral; denn Verlust ist Verlust, egal, ob unrechtmäßig zugefügt oder nicht. Aus all diesen Gründen ist die Handlungstendenz der Trauer eine ganz andere als die des Zorns: Die Trauer trachtet nach der Wiederherstellung oder dem Ersatz des Verlorenen, während der Zorn im Regelfall gegen den Täter vorgehen will. Die Trauer setzt bei der von dem Verlust hinterlassenen Lücke oder Leerstelle an, der Zorn bei dessen unrechtmäßiger Zufügung durch das Zielobjekt.
Trauer und Zorn können selbstverständlich zusammen auftreten; manchmal lassen sie sich vielleicht schwer auseinanderhalten. Nicht selten sucht eine trauernde Person jemandem die Schuld an dem Verlust zu geben, auch wenn die Beschuldigung keine sichere Möglichkeit bietet, die Kontrolle wiederzuerlangen oder in einer Situation der Hilflosigkeit Würde zu behalten. Das Umschlagen in Zorn allerdings bietet unter Umständen eine Möglichkeit, die verlorene Person oder Sache psychisch wiederherzustellen. In solchen Fällen kann die Trauer in einen ungewöhnlich starken Zorn umgelenkt werden, bei dem die ganze Energie der Liebe und des Verlusts auf die strafrechtliche Verfolgung gerichtet ist, wie bei dem Kunstfehler-Prozesswahn im US-amerikanischen Gesundheitssystem oder in dem von mir angeführten Beispiel von Michael Jordan, dem gegenüber der Fernsehkommentator andeutete, die Todesstrafe könnte seinen Vater funktionell irgendwie ersetzen, wovon Jordan mit Recht nichts wissen wollte, weil er es richtiger fand, seinen Verlust anzuerkennen. Eine Quelle übersteigerten Zorns ist in der Tat ein Widerwille gegen das Trauern und damit gegen das Eingeständnis der Hilflosigkeit. Die Unterscheidung zwischen Trauer und Zorn verdient daher die größtmögliche Aufmerksamkeit, und wir werden auf dieses Thema in den folgenden Kapiteln zurückkommen. Das mühselige Aushandeln von Vergebung tritt häufig an die Stelle der Hilflosigkeit des Nachtrauerns.
Aber fällt durch meine Kritik des Zorns nicht auch ein Schatten auf die Trauer selbst? Geht sie nicht mit dem Wunsch einher, die Vergangenheit zu ändern, und ist sie nicht insofern fragwürdig? Ich glaube das nicht, wenngleich die Frage wichtig ist.80 Die Wiederherstellungsfantasie, die die Trauer oft begleitet, ist etwas Irrationales, wenn sie bestehen bleibt und das Leben der betreffenden Person zu großen Teilen bestimmt. Die schmerzvolle Sehnsucht nach dem verlorenen Menschen lässt uns jedoch erkennen, welche immense Bedeutung er für uns hatte und hat, und stellt somit eine wichtige Möglichkeit dar, unsere Lebensgeschichte als großes Ganzes zu verstehen und ihr entsprechend Sinn abzugewinnen. Lebt man sein Leben ohne Trauer weiter, ist es in sich unverbunden, ein Konglomerat von Versatzstücken, und darum verweist uns der wichtigste Grund für das Trauern in die Zukunft: Er lenkt die Aufmerksamkeit auf eine ganz wichtige Bemühung, die ein innerer Teil des narrativen Verständnisses bleiben sollte, das ein Mensch von seinem eigenen Leben hat und das er mit anderen kommuniziert. In dieser Bemühung drückt sich eine tiefe Seite der Person des betreffenden Menschen aus.
Der Zorn unterscheidet sich auch von weiteren „negativen Emotionen“, die sich auf andere Menschen konzentrieren: Ekel, Hass, Verachtung und Neid. Im Unterschied zum Zorn liegt der Fokus bei all diesen Emotionen auf relativ beständigen Charaktereigenschaften der Person und nicht auf einer Tat oder Handlung. (Um an meine Terminologie zu erinnern: Das Zielobjekt des Zornes ist eine Person, sein Fokus aber richtet sich auf eine Unrechtshandlung. In diesen anderen Fällen ist das Zielobjekt eine Person, der Fokus hingegen richtet sich auf eine mehr oder weniger beständige Persönlichkeitseigenschaft.) Somit werfen diese Emotionen unmittelbar eine Frage auf, die sich im Falle des Zorns als solchem nicht stellt: Ist es überhaupt angebracht, relativ beständigen Persönlichkeitseigenschaften gegenüber starke negative Emotionen zu haben? Wie wir sehen werden, lassen sich diese vier Emotionen zunächst leicht vom Zorn unterscheiden – der Unterschied aber verschwimmt, wenn wir es mit dem Zorn des statusfokussierten Typs zu tun haben.
Ekel ist eine starke Abneigung gegenüber Aspekten oder Teilen des Körpers, die als animal reminders bezeichnet werden – das heißt Aspekten von oder Seiten an uns selbst, die uns daran erinnern, dass wir sterbliche und animalische Wesen sind. Seine primären Objekte sind Fäkalien und andere körperliche Ausscheidungen, die Verwesung (speziell der Leichnam) und Tiere oder Insekten, die schleimig, schmierig oder übelriechend sind bzw. anderweitig an die abgelehnten Körperflüssigkeiten oder -ausscheidungen erinnern.81 Der Kerngedanke des Ekels ist der an eine (potenzielle) Verunreinigung durch Kontakt oder Nahrungsaufnahme: Wenn ich das Unedle, das Niedrige zu mir nehme, zieht mich das auf sein Niveau herunter. In einer sekundären Phase werden die Ekelmerkmale auf Menschengruppen projiziert, die die genannten Eigenschaften eigentlich nicht haben: Rassische, sexuelle, religiöse oder soziale Minderheiten werden als über die Maßen animalisch oder körperlich dargestellt, und dann wird behauptet, sie seien Verunreiniger, weil sie (angeblich) nicht gut riechen würden, von Keimen befallen seien etc. Gesellschaften ersinnen daraufhin bemerkenswerte Rituale zur Vermeidung von Verunreinigung und sichern die Grenze zwischen der dominanten Gruppe und der „animalischen“: Die erstere lehnt es ab, Nahrung, Schwimmbecken, Trinkbrunnen oder sexuelle Beziehungen mit denen zu teilen bzw. einzugehen, die sich in die Rolle nicht vollwertiger Wesen gedrängt sehen.
Demnach gehen Ekel und Zorn mit stark aversiven Tendenzen einher, die gegen ein Zielobjekt gerichtet sind. Der Ekel umfasst nicht direkt die Vorstellung einer unrechtmäßigen Handlung, doch bis zur Beschuldigung ist es häufig nicht weit: Der verunreinigenden Person oder Gruppe wird es übelgenommen, dass sie es gewagt hat, Raum zu beanspruchen oder mit der sich abschottenden Person oder Gruppe in Kontakt zu treten. Doch auch wenn Ekel und Zorn somit nah beieinander liegen, ist der Ekel voll und ganz von der Fantasie beherrscht, was für den Zorn in der Form nicht gilt. Dieser kann häufig begründet sein, womit ich meine, dass all seine Elemente richtig sind – bis auf den Wunsch nach Vergeltung. Es hat tatsächlich eine Unrechtstat gegeben, der Täter hat sie wirklich begangen und sie ist ebenso schwerwiegend, wie die zornige Person glaubt. Zum Ekel dagegen gehört von Anfang an Fantasie; sein Kerngedanke lautet: „Wenn ich es vermeide, mit diesen an Tiere erinnernden Menschen in Berührung zu kommen, bewahre ich mich selbst davor, ein Tier zu sein bzw. zu werden.“ Dies ist natürlich Unsinn, wenngleich er den Menschen zu vielen Zeiten und an vielen Orten sehr wichtig gewesen ist. Der Ekel steht demnach insgesamt als Gattung unter Verdacht, was so auf den Zorn nicht unbedingt zutrifft: Ersterer umfasst an zentraler Stelle diverse falsche Überzeugungen („Ich bin kein Tier“, „Ich scheide nicht aus und rieche nicht“, „Nur jene Menschen haben auffällig oder übel riechende Tierkörper“). Der Zorn kann wahre Überzeugungen umfassen – bis zu dem Punkt, an dem Vergeltungsgedanken aufkommen.
Weil sich der Ekel auf die Person richtet statt auf eine schlimme Tat, unterscheidet sich auch seine Handlungstendenz von der des Zorns: Die angeekelte Person ist auf Absonderung aus, nicht auf Vergeltung oder Abrechnung – dafür aber kann eine solche Absonderung hin und wieder große Härte und enormen Zwang einschließen (wie etwa die des Apartheit- oder des Jim-Crow-Regimes), wodurch sie etwas von der Härte der mit dem Zorn verknüpften Strafvollzugsanstalten bekommt.
Ungeachtet dieser Unterschiede haben Ekel und Zorn eine ganze Menge gemeinsam – soweit es den Zorn vom statusfokussierten Typ betrifft. Der auf den Übergang zustrebende Zorn (den wir als rationalen Zorn bezeichnen könnten) konzentriert sich auf eine schlimme Tat und sucht diese auf eine dem sozialen Wohl förderliche Weise zu korrigieren oder richtigzustellen. Der auf den Status fokussierte Zorn hingegen reagiert auf eine „Herabsetzung“ oder Verletzung des Egos und sucht den (angeblichen) Täter herabzumindern oder zu erniedrigen – nicht dessen Tat wohlgemerkt –, um die Dinge ins Lot zu bringen. Dieser weitverbreitete Typus des Zorns ist dem Ekel sehr nah. Zwar erscheint die andere Person bei ihm als Übeltäter und nicht als ein widerliches Insekt, sofern er jedoch den Wunsch nach „Herabsetzung“ des anderen umfasst, geht er häufig mit dessen Darstellung als geringes und niedriges Wesen einher; auf diese Weise verlagert sich der Fokus unmerklich von der Tat auf die Person. Infolgedessen lassen sich projektiver Ekel und Zorn nur sehr schwer auseinanderhalten. Auf der einen Seite wird Ekel, obgleich er sich auf die Person konzentriert, oft durch vermeintliche Unrechtshandlungen ausgelöst: Sodomie ist ein auslösender Stellvertreter für das, was manche Menschen an schwulen Männern abstoßend finden.82 Auf der anderen Seite gleitet der Zorn, soweit er auf Erniedrigung aus ist, in eine allgemeinere Herabsetzung von relativ stabilen Persönlichkeitseigenschaften ab, anstatt eine Person temporär in Bezug auf eine Unrechtstat herabzusetzen. (Verbrecher werden zu einer verachteten Untergruppe und zu Zielobjekten für den Ekel.) Demnach erweist sich die Unterscheidung zwischen Ekel und Zorn, die anfangs eindeutig schien, als keineswegs eindeutig – soweit der betreffende Zorn vom statusfokussierten Typ ist.
Der Hass stellt eine weitere negative Emotion dar, die sich auf das Ganze der Person konzentriert statt auf eine einzelne Tat. Obgleich der Zorn auf eine Person gerichtet ist, liegt sein Fokus auf einer Tat, und wenn die Tat irgendwie aus der Welt geschafft wird, kann man erwarten, dass sich auch der Zorn verflüchtigt. Der Hass hingegen ist umfassend und allgemein, und wenn dabei Handlungen eine Rolle spielen, dann einfach deshalb, weil alles an der Person in einem negativen Licht gesehen wird. Aristoteles zufolge gibt es nur eine einzige Sache, die gegen den Hass hilft und ihn wirklich zur Ruhe kommen lässt: nämlich dass die Person zu existieren aufhört (1382a15). Wenn wir der Meinung sind, dass Hass – eine äußerst ablehnende Haltung gegenüber einer anderen Person in ihrem ganzen Sein – eine grundsätzlich schlechte Emotion ist, müssen wir deshalb nicht genauso über den Zorn denken, der völlig kompatibel mit dem Gernhaben einer Person oder selbst der Liebe ist.
Doch die Dinge sind wieder nicht so einfach. Der Zorn des Übergangs hat mit dem Hass praktisch nichts gemeinsam: Bei ihm geht der Blick nach vorn und richtet sich auf das Wohl aller. Der auf eine Tat konzentrierte und auf das soziale Wohl abzielende Zorn einer Person, die den Übergang durchläuft, lässt sich ebenfalls leicht vom Hass unterscheiden. Die Person will, dass das Fehlverhalten aufhört, wobei sie den dafür verantwortlichen Menschen durchaus weiterhin lieben und es gut mit ihm meinen könnte. Sobald allerdings der Wunsch nach Vergeltung hinzukommt, werden die Dinge komplizierter: Dieser Wunsch erscheint wie eine Art Hass auf den anderen, denn er ist eindeutig kein konstruktiver Beitrag zur Wiedergutmachung.83 Wenn die Person den Weg des Status wählt, ist die Unterscheidung ebenfalls unscharf: Sie sucht den anderen zu erniedrigen oder zu demütigen, und dieses Vorhaben schlägt leicht in eine ablehnende Haltung gegenüber der Person und nicht allein ihrer Tat um. Menschen, die andere erniedrigen wollen, wollen in der Regel, dass die Erniedrigung Bestand hat.
Die Verachtung stellt eine weitere „reaktive Haltung“ dar, die nicht selten mit dem Zorn assoziiert wird. Zunächst scheinen sich auch hier die beiden Emotionen wieder stark zu unterscheiden. Die Verachtung ist eine Haltung, welche die andere Person als niedrig oder gering ansieht, für gewöhnlich aufgrund irgendeiner oder mehrerer beständiger Persönlichkeitseigenschaften, an denen die Person selbst schuld sein soll.84 Sie stellt „ihr Objekt in dem Sinne als gering [dar], dass sie seinen Wert als Person gering veranschlagt, weil es einem legitimen Ideal der [verachtenden] Person für den Umgang mit anderen nicht zu genügen vermochte“.85 Selbstverständlich gibt es solche legitimen oder nichtlegitimen Ideale, denen Menschen genügen oder auch nicht genügen können. In vielen Fällen aber gilt die Verachtung nicht Schwächen im ethischen Charakter, sondern vielmehr der mangelnden gesellschaftlichen Stellung oder Position oder der Vermögenslosigkeit. Demnach ist die Unterstellung, selbst daran schuld zu sein, welche die Verachtung von herablassendem Mitleid unterscheidet, oftmals unangebracht und falsch: Viele Menschen geben den Armen die Schuld an ihrer Armut, in der sie ein Zeichen von Faulheit sehen, und verachten sie deshalb. Es scheint jedoch richtig, zu sagen, dass die Verachtung für gewöhnlich die – ob nun zutreffende oder nichtzutreffende – Vorstellung umfasst, dass der Person die verachteten Charaktereigenschaften in irgendeiner Weise anzulasten seien – selbst wenn es sich dabei lediglich um Formen der Schwäche handelt, für die Menschen eigentlich nichts können.
Die Verachtung gleicht dem Zorn folglich darin, dass sie ein Zielobjekt und einen Fokus hat: Ihren Fokus bilden eine oder mehrere Persönlichkeitseigenschaften und ihr Zielobjekt ist die aufgrund dieser Eigenschaften als niedrig oder gering geltende Person. In beiden Fällen handelt es sich bei dem Zielobjekt um eine Person. Der Fokus des Zorns aber liegt auf einer Handlung, jener der Verachtung auf einer oder mehreren relativ beständigen Persönlichkeitseigenschaften.
Die Frage, ob sich die Verachtung für eine andere Person moralisch überhaupt rechtfertigen lässt, können wir vielleicht beiseitelassen.86 (Ein erhebliches Problem besteht darin, dass Verachtung immer wieder die menschliche Zerbrechlichkeit verkennt und zugleich unterschätzt, welche Schwierigkeit es bedeutet, in einer unvollkommenen Welt gute Charaktereigenschaften auszuprägen.) Für die Verachtung wie den Zorn gilt aber schon hier, dass sich die beiden Emotionen ohne Weiteres auseinanderhalten lassen, wenn man es mit dem Zorn des Übergangs oder dem zum Übergang hinführenden Zorn zu tun hat. In diesen beiden Fällen umfasst der Zorn nicht ansatzweise eine Herabsetzung der Person, bleibt auf die Tat konzentriert und trachtet in letzter Konsequenz nach dem künftigen Wohl. Ferner ist es relativ leicht, die Verachtung von dem Zorn zu unterscheiden, der den Weg der Vergeltung eingeschlagen hat, weil Verachtung nicht mit dem Gedanken an Vergeltung einhergeht und augenscheinlich keine entsprechende Handlungstendenz hat. (Es könnte mithin eine Art Charakterzorn geben, der in der gesamten Selbstbildung einer Person eine unrechtmäßige Handlung sehen würde, jedoch auch weiterhin von der Verachtung unterschieden wäre.)
Die Unterscheidung ist viel schwieriger, wenn wir uns dem statusfokussierten Zorn zuwenden, der nach der Herabsetzung eines Menschen trachtet, um die durch eine von ihm verübte Tat bewirkte Herabsetzung des oder der Zornigen selbst zu vergelten. Dennoch offenbaren beide Emotionen einen interessanten Unterschied in ihrer Dynamik. Die Verachtung nimmt ihren Anfang in der angeblichen Niedrigkeit der Person, der gewisse gute Charaktereigenschaften abgesprochen werden, seien es moralische oder soziale. Die ablehnende Haltung resultiert aus der wahrgenommenen Niedrigkeit. Beim statusfokussierten Zorn hingegen resultiert die ablehnende Haltung aus etwas, das einen selbst betrifft, nämlich aus der Erniedrigung, die einem selbst durch die Tat, auf die sich der Zorn konzentriert, angeblich zugefügt wurde. Erst dann versucht man, das Zielobjekt der Emotion, eine Person, auf einen niedrigen Platz zu verweisen. Tatsächlich wird die andere Person anfangs keineswegs als niedrig betrachtet, sondern als stark und jederzeit in der Lage, Schaden anzurichten. Wenn man so will, kommen die beiden Emotionen am Ende auf dasselbe hinaus, doch mit einer ganz unterschiedlichen Dynamik.
Der Neid und sein enger Verwandter, die Eifersucht, gleichen dem Zorn darin, dass sie ablehnende Emotionen darstellen, die sich auf eine oder mehrere Personen beziehen.87 Der Neid ist eine schmerzvolle Emotion, die dem Glück oder den Vorteilen anderer gilt und aus dem Vergleich der eigenen nachteiligen Lage mit derjenigen der anderen entsteht. Er umfasst einen Rivalen und ein Gut oder mehrere Güter, die als wichtig eingeschätzt werden; den Neider quält es, dass der Rivale all diese guten Dinge besitzt und er nicht. Wie beim Zorn werden die guten Dinge nicht in irgendeiner abstrakten oder unbeteiligten Form als wichtig erachtet, sondern sie müssen für die betreffende Person selbst und für ihr Kernempfinden des Wohlergehens von großer Bedeutung sein.88 Auch wenn der Neid im Unterschied zum Zorn nicht die Vorstellung einer Unrechtstat umfasst, so schließt er doch im Regelfall eine gewisse Form von Unmut gegenüber dem glücklichen Rivalen ein: Der Neider will, was der Rivale hat, und empfindet infolgedessen Groll gegen ihn. Wenn die Vorteile als unlautere Gewinne gelten, nähern Neid und Zorn sich stark einander an, und der Neid könnte ähnliche Vergeltungsgedanken wie der Zorn aufkommen lassen, die ebenso wenig hilfreich wären. Denn bei ihm verhält es sich genau wie beim Zorn: Nur da, wo sein Fokus ausschließlich auf der relativen Position oder Stellung liegt und nicht mehr auf greifbaren Vorteilen, kann Vergeltung die Situation des Neiders tatsächlich verbessern. Und dann bringt der enge Fokus ähnliche normative Probleme mit sich, wie sie sich beim Zorn ergeben. Dass der Fokus auf der relativen Position liegt, ist beim Neid fast immer die Regel. Und so definieren ihn denn auch zwei Psychologen, die sich mit einer gelungenen systematischen Untersuchung der Emotion hervorgetan haben, letztlich als positionswertbezogen: „Das Ziel des Neides ist ‚Überlegenheit‘ oder ‚Nichtunterlegenheit‘ gegenüber einer Bezugsgruppe oder Bezugsperson“.89
Eifersucht ähnelt dem Neid: Beide sind mit Feinseligkeit gegenüber einem Rivalen verbunden, dem der Besitz oder Genuss eines wertgeschätzten Gutes vergönnt ist. Bei der Eifersucht geht es jedoch im Regelfall um einen spezifischen Verlust (für gewöhnlich, wenn auch nicht immer, um einen Verlust der Aufmerksamkeit oder der Liebe eines anderen) und folglich um den Schutz der am meisten geschätzten Sache oder Beziehung. Sie konzentriert sich auf den Rivalen, der von dem oder der Eifersüchtigen als potenzielle Bedrohung empfunden wird. Auch wenn bisher vielleicht nichts Unrechtes geschehen oder einem nichts dergleichen zu Ohren gekommen ist, kann die Eifersucht leicht die Färbung eines Zorns auf den Rivalen annehmen, weil er (angeblich) die Absicht hat, etwas Unrechtes zu tun. Das wiederum weckt sehr häufig den Wunsch nach Vergeltung und zieht entsprechende Handlungen nach sich. Im Unterschied zum Neid dreht sich die Eifersucht selten ausschließlich um die relative Position: Im Regelfall bleibt sie auf wichtige Dinge bezogen, und das ist der Grund, aus dem sie sich so schwer befriedigen lässt. Denn was die Dinge angeht, die einem viel bedeuten, ist Sicherheit fast nie zu haben. 90
Diese kurze Erkundung führt uns vor Augen, dass der Zorn eine eigene Emotion ist, sich jedoch schwer von etlichen anderen unterscheiden lässt – vor allem, wenn er auf den von mir so genannten Weg des Status einbiegt. Es gibt etwas, das durchaus für den Zorn spricht: Er kann nämlich, wie ich sage, begründet sein, was der Ekel nicht kann. Doch der ihn kennzeichnende Vergeltungswunsch (den er mit dem Neid und der Eifersucht, aber nicht mit der Trauer teilt) ist äußerst problematisch. Wir müssen diese feinen Unterscheidungen im weiteren Verlauf im Auge behalten.