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1 Einführung:
Aus Furien werden Eumeniden
ОглавлениеAm Ende von Aischylos’ Orestie kommt es zu zwei Veränderungen in der Figurenwelt des Altertums, in denen das Publikum des 5. vorchristlichen Jahrhunderts zwei grundlegende strukturelle Wandlungen seiner eigenen Welt erkannte. Die eine Veränderung ist bekannt, die andere kommt häufig zu kurz. Die Erstere besteht darin, dass Athene Rechtsinstitutionen schafft, um den scheinbar endlosen Kreislauf der Blutrache zu durchbrechen und durch ein Gericht zu ersetzen – mit festgelegten Verfahren der begründeten Argumentation und des Abwägens der Beweislage, mit einem unabhängigen Dritten als Richter und einer aus Athener Bürgern ausgewählten Gruppe von Geschworenen. Im Zuge der Einsetzung eines solchen Gerichts verkündet Athene, die Blutschuld werde nunmehr durch das Recht geregelt und nicht länger von den Furien, den antiken Rachegöttinnen. Doch – und das ist ein wesentlicher Baustein ihrer bedeutenden Umgestaltung der athenischen Gesellschaft – die Furien werden nicht einfach abgesetzt. Athene überzeugt sie stattdessen, sich mit der Stadt zusammenzutun, und weist ihnen einen Ehrenplatz in der Unterwelt zu, in Anerkennung ihrer Bedeutung für ebenjene Rechtsinstitutionen und für das zukünftige Wohl der Stadt.
In der Regel wird Athenes Schritt als Anerkennung der Vorstellung verstanden, dass das Rechtssystem die dunklen Rachegelüste einbinden und sie akzeptieren müsse. Entsprechend lautet das Fazit des großen Hellenisten Hugh Lloyd-Jones: „Weit entfernt davon, die Vorrechte der Erinnyen abschaffen zu wollen, fürchtet sich Athene vielmehr, sie ihnen zu lassen.“1 Die Vergeltungsgelüste selbst, so wird damit behauptet, bestünden unverändert fort; sie würden lediglich umquartiert. Die Furien willigen ein, die Rechtsschranken zu akzeptieren, bleiben aber, was sie immer schon waren, nämlich dunkel und rachsüchtig.
Diese Lesart übersieht jedoch die zweite Veränderung: eine Transformation im Wesen und im Verhalten der Furien selbst. Zu Beginn des dritten Dramas der Trilogie erregen sie Abscheu und Entsetzen. Die greise Priesterin des Apollo, die sie nur flüchtig erblickte, läuft so hastig davon, dass sie hinfällt und auf allen Vieren weiterflüchtet (Eumeniden, Z. 34–38). Gorgonen seien sie, so ruft sie, nicht Frauen – und doch auch wieder keine Gorgonen, denn diese hätten keine Flügel.2 Schwarz seien sie und scheußlich anzusehen; eine abscheuliche Flüssigkeit tropfe ihnen aus den Augen und sie schnarchten fürchterlich krachend. Ihre ganze Aufmachung habe nichts Zivilisiertes an sich (Z. 51–56). Wenig später schildert Apollo, wie die Furien Blutklumpen, die sie mit ihrer Beute verschlungen hatten, wieder ausspeien (Z. 183–184). Einzig und allein um des Bösen willen seien sie da, so sagt er (Z. 72). Sie gehörten zu einer barbarischen Gewaltherrschaft, wo es normal ist, Menschen willkürlich zu töten, sie zu schänden und zu foltern (Z. 185–190).3
Die Furien strafen diese grauenvollen Darstellungen auch bei ihrem Erwachen nicht Lügen. Als Klytaimestras Geist sie ruft, sprechen sie nicht, sondern stöhnen und ächzen bloß: Im Text heißt es mugmos und oigmos, was Lauten entspricht, wie Hunde sie von sich geben. Ihre einzigen Worte beim Erwachen sind: „Faß ihn! Faß ihn! Faß ihn! Faß ihn“ (labe labe etc.), was einem Aufruf zur Jagd so nahekommt, wie es das Genre erlaubt. Klytaimestra sagt: „Im Traum verfolgst dein Wild du [Chor der Erynnien], schlägst gleich einem Hund hell an, der niemals seines Dienstes Pflicht vergißt!“ (Z. 131–132). Wenn den Furien später verständliche Sprache verliehen wird, wie es das Genre des Dramas verlangt, sollten wir diese anfängliche Charakterisierung nicht aus dem Blick verlieren.
Aischylos gibt uns hier eine Darstellung zügellosen, unbändigen Zorns.4 Von einem solchen Zorn ist man besessen, er ist zerstörerisch und nur dazu da, Leid und Verderben zu bringen. In seinem Blutdurst ist er menschenunwürdig, hundegleich. Die Griechen kannten noch keine domestizierten Hunderassen, und das rohe Schauspiel tötender Hunde war ihnen so vertraut, dass sie diese Tiere durchweg mit einer abscheulichen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schmerz des Opfers in Verbindung brachten. Schon die Idee des Wiedererbrechens von Opferblut ist eine ziemlich buchstäbliche Darstellung von Hundeverhalten, wie es die Griechen kannten.5 Der Geruch, der dem Atem der Furien entströmt, ist der Geruch halbverdauten Bluts, der einem heute womöglich Abscheu verursacht, wenn man einmal das unbändige Verhalten von wilden Hunden mit angesehen hat.6 Apollos Auffassung nach hat diese tollwütige Brut ihren angestammten Platz irgendwo anders, in einer Gesellschaft, die keine Versuche unternimmt, die Grausamkeit zu zügeln und die willkürliche Anwendung der Folter einzugrenzen – doch sicher nicht in einer Gesellschaft, die für sich beansprucht, zivilisiert zu sein.
Blieben sie sich selbst gleich, könnten diese Furien unmöglich fester Bestandteil einer funktionierenden Rechtsordnung in einer Gesellschaft sein, die sich der Herrschaft des Rechts verpflichtet hat.7 Es hilft nichts, Wildhunde in einen Käfig zu stecken, um Gerechtigkeit entstehen zu lassen. Doch die Furien bleiben nicht unverändert beim Übergang zur Demokratie, den sie mit bewirkten. Zwar haben sie noch bis gegen Ende des Dramas ihr hündisches Selbst, drohen ihr Gift auszuwürgen und damit Verderben und Unfruchtbarkeit über das Land zu bringen (Z. 812). Dann jedoch kann Athene – die ihre Rechtsinstitutionen bereits ohne Zutun der Furien eingerichtet hat – sie davon überzeugen, sich zu ändern, sodass sie sich ihrem Unternehmen anschließen.8 „Bring deines Ingrimms schwarzen Wogensturz zur Ruh“, so richtet sie sich an den Chor der Furien (Z. 832–833). Aber natürlich bedeutet dies eine sehr tief greifende Veränderung, ja einen fast vollständigen Identitätswandel, so verbunden sind sie mit der obsessiven Kraft des Zorns. Athene versucht sie mit Anreizen zu locken und für die Stadt zu gewinnen: mit einem Ehrenplatz in der Unterwelt, mit Ehrerbietung vonseiten der Bürger. An diese Ehrung ist allerdings die Bedingung geknüpft, dass sie sich nicht länger von Rache und Vergeltung leiten lassen und sich auf ein neues Spektrum von Gefühlen verlegen. Vor allem müssen sie der Stadt insgesamt gegenüber Wohlwollen empfinden und aufhören, Unruhe oder Ärger in ihr zu provozieren – sie dürfen insbesondere nicht zum Bürgerkrieg aufstacheln, aber auch nicht dafür sorgen, dass Menschen vorzeitig sterben oder dass es zu irgendwelchen Zornesaufwallungen kommt, die das Klima vergiften (Z. 850–863).9 Tatsächlich sollen sie sogar positiv wirken und Segen über das Land bringen (Z. 903ff.). Die Abmachung umfasst, dass man sie gut behandeln und ehren wird, wenn sie Gutes tun und freundliche Empfindungen hegen. Die durchschlagendste verändernde Wirkung hat vielleicht der Aspekt, dass sie gezwungen sind, der Stimme der Überzeugung zuzuhören (Z. 885, 970). Natürlich hat all dies nichts oder wenig mit äußerlicher Eindämmung zu tun: Vielmehr handelt es sich um eine umfassende innerliche Neuausrichtung, die an die Wurzeln ihres Wesens geht.
Die Furien nehmen Athenes Angebot an und zeigen sich „sanftmütig“ (preumenōs, Z. 922).10 Sie untersagen jeglichen Menschentod vor der Zeit (Z. 956). Jeder sollte jedem Liebe (charmata) geben, so erklären sie, „eins in der Liebe zum Ganzen“ sein (koinophilei dianoiai, Z. 984–985). Noch einmal: Diese Empfindungen sind ihrem hundehaften Selbst von einst vollkommen fremd. Kein Wunder also, dass die Furien auch ein anderes Erscheinungsbild erhalten. Für den Festzug, der das Drama beschließt, nehmen sie augenscheinlich eine aufrechte Haltung ein, und von einer Gruppe weiblicher Begleitpersonen werden sie mit purpurfarbenen Gewändern ausgestattet – den Festgewändern, die in der Stadt ansässige Fremde zum Fest der Panathenäen tragen. Aus den vormaligen Biestern sind Frauen geworden und in der Stadt „ansässige Fremde“. Davon zeugt schon ihr anderer Name: Die Freundlichen oder Wohlwollenden (eumenides) heißen sie jetzt.11
Diese zweite Veränderung ist von ebensolcher Bedeutung wie die erste, ja sogar entscheidend für den Erfolg der ersten. Aischylos zufolge errichtet die politische Gerechtigkeit nicht einfach einen Käfig um den Zorn; sie verändert ihn von Grund auf, verwandelt ihn aus etwas kaum menschlich zu Nennendem, Obsessivem und Blutrünstigem in etwas Menschliches, in eine Sache des Geltenlassens von Gründen sowie der besonnenen und bedachten Abwägung der Dinge. Zudem ist die Gerechtigkeit nicht auf die Vergangenheit gerichtet, die sich nicht mehr ändern lässt, sondern auf das künftige Wohlergehen und die Schaffung entsprechender Perspektiven. Der Sinn für Verantwortlichkeit, den gerechte Institutionen naturgemäß haben, entspringt in Wahrheit gar keinem Vergeltungsdenken, sondern er ist Ausdruck und Resultat abgewogener Urteile zum Schutz des jetzigen und künftigen Lebens. Die Furien werden auch weiterhin gebraucht, weil es in unserer unvollkommenen Welt immer Verbrechen geben wird, mit denen man sich befassen muss. Sie sind jedoch weder in ihrer ursprünglichen Form und Gestalt erwünscht, noch braucht man sie so. Tatsächlich haben sie ihr altes Selbst vollständig abgelegt: Aus ihnen sind Werkzeuge der Gerechtigkeit und des guten Gelingens geworden. Die Stadt ist von der Geißel des rachsüchtigen Zorns befreit, der nur innere Unruhen und vorzeitigen Tod zur Folge hat. Anstelle des Zorns bekommt die Stadt politische Gerechtigkeit.
Ehrfurcht ist deshalb nicht minder angebracht: Angehende Verbrecher und Anstifter von sozialen Unruhen sollten gewarnt sein, dass böse Taten nicht ungestraft bleiben. Dementsprechend bezeichnet Athene die Gesichter der Eumeniden auch weiterhin als „furchtbar“ (Z. 990). Die Verantwortlichkeit vor dem Recht bedeutet aber nicht Chaos: Dass die Umstände genau unter die Lupe genommen und den Verhältnissen entsprechend abgewogen werden, ist in der Tat das Gegenteil von Chaos. Zudem ist die Verantwortlichkeit für frühere Handlungen auf die Zukunft ausgerichtet: Es geht um Abschreckung und nicht um Heimzahlung.
Aischylos ist kein philosophischer Straftheoretiker und er lässt eine Menge Fragen zur späteren Klärung offen, etwa, ob es eine Form des Vergeltungsdenkens gibt, die seine Auflagen erfüllen kann. Bestrafung muss ihm zufolge auf das lex talionis verzichten, doch gibt es eine Form der Vergeltungslogik, die sich mit der Verwerfung dieser Idee vereinbaren lässt? Oder muss sich die Gesellschaft, wie Sokrates und Platon sowie ein Großteil der griechischen Allgemeinheit mit ihnen glaubten, eine vollkommen andere Straftheorie zulegen, die auf Abschreckung und dem allgemeinen Nutzen beruht?12 Hinweise auf eine solche Herangehensweise gibt es, aber nirgends eine eindeutige Äußerung.
Es gilt noch auf eine andere Befreiung einzugehen, die immer zu kurz kommt, über die sich jedoch nachzudenken lohnt: Gemeint ist die Befreiung des Privatbereichs. In der alten Welt der Furien waren die Familie und die Liebe, das Verwandtschaftliche und das Freundschaftliche davon belastet, dass ständig irgendetwas für jemanden gerächt werden musste. Der Vergeltungsbedarf war schier unendlich und überschattete jede Beziehung, einschließlich der im Grunde ganz harmlosen und guten, wie etwa der von Orest und Elektra. Rache und Vergeltung machten jede Liebe zu einem oder einer anderen unmöglich. (Bei der grässlichen Musicalwelt von Richard Strauss’ Oper Elektra haben wir es mit der vielleicht unauslöschlichsten Umsetzung dieser aischyleischen bzw. sophokleischen Einsicht zu tun. Dort gibt es keine Note, keine Wendung, die nicht von dem deformierenden Gewicht der Rache gezeichnet ist.)13 Jetzt aber übernimmt das Recht die Aufgabe, mit dem Verbrechen fertigzuwerden, und lässt der Familie die Freiheit, ein Ort der philia, des gegenseitigen Wohlwollens, zu sein. Das heißt nicht, dass es gar keine Anlässe mehr gibt, bei denen Menschen wahrscheinlich wütend werden und Zorn empfinden: Aber wenn es sich um ernste Anlässe handelt, werden sie zu einer Angelegenheit des Rechts, und sind es keine ernsten, warum sollte man sich dann länger damit beschäftigen, was für beide Seiten nur ärgerlich ist? (Diese Dichotomie ist freilich viel zu simpel, wie wir noch sehen werden, weil die tiefe Liebe und das starke Vertrauen in vertrauten Beziehungen gleichwohl berechtigten Anlass für schmerzvolle Emotionen wie Trauer und Angst geben können, ob nun ein Gericht eingeschaltet wird oder nicht.) Wie Aristoteles später sagt, ist der sanftmütige Mensch (seine Bezeichnung für die Tugendhaftigkeit auf dem Gebiet des Zorns) nicht rachsüchtig, sondern auf teilnahmsvolles, wohlwollendes Verstehen aus.14 Das Recht bietet einen doppelten Vorteil: Es verschafft uns Sicherheit nach außen und gestattet uns im Innern, uns von Rachsucht unbelastet umeinander zu kümmern.
Insbesondere gilt es festzuhalten, dass wir uns dank des Rechts mit Vergehen befassen können, die an Freunden und Familienmitgliedern verübt wurden, ohne in unserem Leben von Zorn zerfressen und von Vergeltungsgedanken aufgezehrt zu werden. Der Zorn der vorrechtlichen Welt, die Aischylos schildert, hatte mit den tatsächlich lebenden Personen zumeist wenig zu tun: Mit ihm verfolgte man Unrecht, das an einstigen Vorfahren verübt worden war oder hin und wieder auch an den eigenen Eltern oder Verwandten. So nimmt der erste Teil der Orestie, Agamemnon, seinen Ausgang in der Vergangenheit und beginnt mit der vom Chor vorgetragenen qualvollen Schilderung der lange zurückliegenden Abschlachtung Iphigenies – welche Klytaimestra bald schon rächen wird. Und sowie Ägisth zum Ende des Stücks hin die Szenerie betritt, spricht er nicht etwa über sich oder über die Dinge, die ihn bewegen, sondern er setzt vielmehr zu der grauenhaften Sage seines Vaters Thyestes an, der von Agamemnons Vater Atreus dazu verleitet worden war, das Fleisch seiner eigenen Kinder zu essen. Den Menschen bleibt es verwehrt, sie selbst zu sein: Sie stehen im Banne einer Vergangenheit, die sie als Last auf den Schultern tragen. Wir werden noch sehen, dass auch der Zorn über ein Unrecht, das an einem selbst verübt wurde, der Transformation durch das Recht unterliegt. Doch der vielleicht größte vom Recht bewirkte Wandel besteht darin, dass er den Menschen die Möglichkeit gibt, sich frei von aufreibenden und stellvertretend ausgeführten Vergeltungshandlungen um andere zu kümmern.15
Dieses Buch handelt nicht von der antiken griechischen Ethik, doch es bezieht seine Inspiration aus dem aischyleischen Bild, das ich gerade skizziert habe – der Idee, dass politische Gerechtigkeit eine durchgreifende Veränderung der moralischen Empfindungen im persönlichen wie im öffentlichen Bereich schafft. Ich werde allerdings weiter gehen als Aischylos und die These vertreten, dass der Zorn in normativer Hinsicht grundsätzlich immer ein Problem darstellt, egal, ob im persönlichen oder im öffentlichen Bereich.16 Den Kern meiner Argumentation bildet eine Analyse des Zorns, die ich in Kapitel 2 vorlege. In Übereinstimmung mit einer langen philosophischen Tradition, zu der auch Aristoteles, die griechischen und römischen Stoiker sowie Bischof Joseph Butler gehören, argumentiere ich, dass Zorn seinem Begriff nach nicht nur die Vorstellung von einem gravierenden Unrecht umfasst, das an einer Person oder Sache von Bedeutung begangen wurde, sondern auch die Vorstellung, dass es zu begrüßen wäre, wenn der Täter in irgendeiner Form gewisse negative Auswirkungen zu erleiden hätte. Jeder dieser Gedanken muss auf vielschichtige Weise näher bestimmt werden; darum wird es in der Analyse gehen. Im Anschluss argumentiere ich, dass der so verstandene Zorn in normativer Hinsicht grundsätzlich ein Problem darstellt, egal welcher der beiden gangbaren Wege beschritten wird.
Der eine Weg, den ich den Weg der Heimzahlung nenne, verbindet sich mit der irrigen Annahme, das Leiden des Täters werde die wichtige Sache, die beschädigt wurde, irgendwie wieder zurückbringen oder zu ihrer Wiederherstellung beitragen. Dieser Weg stellt normativ gesehen ein Problem dar, weil die mit ihm verbundenen Überzeugungen nicht zutreffen und keinen Zusammenhang haben, so allgegenwärtig sie auch sind. Sie gehen auf tief verwurzelte, aber irreführende Vorstellungen von einem kosmischen Gleichgewicht zurück und auf das Bemühen der Menschen, in Situationen, in denen sie hilflos sind, die Kontrolle wiederzuerlangen. Das Leiden des Täters aber bringt den Menschen oder den geschätzten Gegenstand, dem Schaden zugefügt wurde, nicht wieder zurück. Es kann allenfalls vor weiteren Verstößen abschrecken und den Angreifer außer Gefecht setzen: Davon allein aber ist die Person, die den Weg der Heimzahlung beschreitet, nicht überzeugt und es ist auch nicht alles, was sie erreichen will.
Es gibt allerdings einen Fall, bei dem die am Zorn beteiligten Überzeugungen ganz richtig sind, nur allzu richtig, muss man sagen. Diesen Fall nenne ich den Weg des Status. Wenn die betroffene Person die Verletzung allein mit dem relativen Status in Verbindung bringt – also eine „Herabsetzung“ ihres Selbst darin sieht, wie Aristoteles das ausdrückt –, dann bestätigt sich, dass das Heimzahlen mit irgendeiner gleichen Münze ausgesprochen wirksam ist. Setze ich den Täter in seinem Status herab, indem ich ihm Schmerz oder eine Demütigung zufüge, werte ich mich selbst entsprechend auf. Doch dann stellt sich ein anderes Problem: Es ist normativ gesehen problematisch, sich ausschließlich auf den relativen Status zu konzentrieren. Diese Form der zwanghaften Engführung des Blicks ist zwar häufig genug anzutreffen, aber wir sollten ihr sowohl bei uns selbst als auch bei anderen keinen Vorschub leisten.
Dies ist, kurz gefasst, der Kern meines Hauptarguments, aber natürlich müssen all diese Ideen entwickelt und verteidigt werden. Der Zorn kann immer noch einen gewissen begrenzten Nutzen haben, und zwar als Signal an sich selbst beziehungsweise an andere, dass sich ein Unrecht ereignet hat, als Motivation dafür, sich mit ihm zu befassen, und als Abschreckung für andere, um sie von Aggressionen abzuhalten. Die Kernvorstellungen des Zorns weisen allerdings schwerwiegende Mängel auf: Im ersten Fall sind sie inkohärent, im zweiten dagegen aus normativem Blickwinkel hässlich.
Ich komme im Weiteren zu einem ganz wichtigen Konzept, das ich als Übergang bezeichne. Die meisten Normalbürger lassen sich vom Zorn packen. Häufig aber bemerkt eine vernünftige Person die normative Irrationalität des Zorns – insbesondere in seinem Heimzahlungsmodus –, wendet sich von ihm ab und fruchtbareren, zukunftsgerichteten Gedanken zu und fragt danach, was sich für das individuelle oder das gesellschaftliche Wohlergehen tatsächlich tun lässt. Ich werde den Gedankengang erforschen, der zu diesem in die Zukunft weisenden Denken führt, das mir näher und lieber ist. (Meinem Verständnis nach handelt es sich bei der Wandlung, welche die Furien vollzogen haben, um diese Übergangsform, was jedoch kein wesentlicher Punkt in meiner Argumentation sein soll.) Der Übergang entspricht einem Pfad, dem ein Einzelner folgen kann, bei dem es sich jedoch auch, wie bei Aischylos, um einen Entwicklungspfad für eine Gesellschaft handeln kann.
Ich erkenne auch einen Grenzfall von genuin rationalem und normativ angemessenem Zorn, von mir als Zorn des Übergangs bezeichnet, dessen ganzer Inhalt sich auf die folgende Formel bringen lässt: „Wie empörend. Dagegen sollte etwas unternommen werden.“ Diese vorwärtsgerichtete Emotion ist in dieser reinen Form allerdings seltener, als man meinen könnte: Im wirklichen Leben ist der Übergangszorn zumeist mit dem Wunsch nach Heimzahlung infiziert.
Vor dem Hintergrund dieser Analyse kümmere ich mich in dem zentralen Kapitel und in den nachfolgenden Kapiteln um drei Gemeinplätze über den Zorn, die in der philosophischen Literatur wie auch im Alltagsleben weitverbreitet sind:
1. Zorn (wenn einem Unrecht widerfahren ist) ist zum Schutz der Würde und zur Wahrung der Selbstachtung unerlässlich.
2. Zorn über begangenes Unrecht ist zwingend erforderlich, um den Täter ernst zu nehmen. (Sonst müsste man sie oder ihn wie ein Kind oder wie eine vermindert schuldfähige Person behandeln.)
3. Zorn ist ein wesentlicher Teil der Bekämpfung von Ungerechtigkeit.
Ich bestreite nicht, dass der Zorn in diesen drei Varianten gelegentlich eine nützliche Funktion erfüllt. Dieser eingeschränkte Nutzen beseitigt jedoch nicht seine normative Unangemessenheit. Und er ist auch nicht so nützlich, selbst in diesen Funktionen nicht, wie mitunter behauptet.
In den folgenden Kapiteln 4 bis 7 wird dieses Kernargument in Bezug auf vier unterschiedliche Lebensbereiche weiterentwickelt. Eine zuverlässige Untersuchung dieser Zusammenhänge sollte einzelne unterschiedliche Bereiche der menschlichen Interaktionen voneinander abgrenzen und sorgfältig der Frage nachgehen, welche zwischenmenschlichen Beziehungen jeden dieser Bereiche kennzeichnen und welche Tugenden wiederum jede dieser Beziehungen. Der Bereich tiefer persönlicher Zuneigung (ob verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher) unterscheidet sich vom politischen Bereich; er hat unterschiedliche Tugenden und Normen, wenn es um Zorn und Urteil geht. Meine Argumentation wird rund um diese Aufgliederung der Bereiche angelegt sein.
Zunächst untersuche ich in Kapitel 4 die Rolle des Zorns in vertrauten persönlichen Beziehungen. Häufig heißt es, der Zorn – sei er bisweilen auch übermäßig und unangebracht – stelle in diesem Bereich einen wertvollen Ausdruck von Selbstachtung dar und solle kultiviert werden, vor allem von Menschen mit leicht angreifbarem Selbstwertgefühl (Frauen werden oft als Beispiel angeführt). Ich wende mich gegen diese Argumentation und behaupte, dass die für die persönliche Vertrautheit charakteristischen Werte auf den Zorn verzichten können und durch ihn sogar stark bedroht sind. Natürlich kommen Verletzungen und Vertrauensbrüche vor und sie sind oftmals Anlass für kurzzeitigen Zorn und langjährige Trauer. Dennoch ist die Trauer über einen Verlust meiner Auffassung nach besser als das sture Festhalten daran, den Verlust jemand anderem zuzuschieben. Dies gilt sowohl instrumentell, da es besser für die eigene Person ist, als auch in der Sache, da es dem Wesen liebevoller menschlicher Beziehungen eher entspricht. Wenngleich ein kurzzeitiger Zorn verständlich und menschlich ist, ist er kaum jemals hilfreich und er sollte mit Sicherheit nicht das künftige Geschehen bestimmen.
Im Fortgang untersuche ich in Kapitel 5, was ich den „mittleren Bereich“ nenne, den Bereich der Vielzahl von wechselseitigen Beziehungen, die wir tagtäglich mit Menschen und sozialen Gruppen unterhalten, mit denen uns keine enge Freundschaft verbindet und bei denen es sich nicht um unsere politischen Institutionen oder deren offizielle Vertreter handelt. Ein Großteil des Unmuts und Grolls entsteht im mittleren Bereich und reicht von rufschädigenden Beleidigungen als Auslöser bis zu jener unverzeihlichen Sünde – die bereits Aristoteles anführte –, dass jemand unseren Namen vergisst. In Bezug auf diesen Bereich vertrete ich eine andere Argumentation als diejenige im Bereich vertrauter Beziehungen, wo ich eine starke emotionale Reaktion befürworte – allerdings die Trauer und nicht den Zorn. In Hinblick auf den mittleren Bereich haben die römischen Stoiker, deren Kultur durch Ressentiments hier ungewöhnlich entstellt war, meiner Auffassung nach uneingeschränkt Recht: Es gilt den Punkt anzustreben, an dem man begreift, wie unbedeutend all diese Kränkungen sind. Dann entwickelt man nicht nur keinen Zorn, sondern lässt auch keine Trauer aufkommen. Der Schaden fällt einfach nicht genug ins Gewicht. Seneca ist selbst nie ganz dahin gelangt, doch er hat seinen Kampf mit sich selbst auf eine leicht begreifliche und nachvollziehbare Weise festgehalten. (Darum werde ich Adam Smith in seiner Einschätzung folgen, dass uns die Stoiker klugen Rat spenden, ausgenommen dann, wenn sie uns sagen, wir sollten unser Herz nicht zu sehr an unsere Lieben, unsere Familie und Freunde hängen.)
Damit kann es jedoch unmöglich sein Bewenden haben. Denn obwohl ein Großteil des täglichen Zorns mit Belanglosigkeiten wie etwa Beleidigungen und Inkompetenz zu tun hat, ist das Unrecht im mittleren Bereich manchmal natürlich auch äußerst schwerwiegend: zum Beispiel bei Vergewaltigung oder Mord durch Unbekannte. Diese Fälle gleichen nicht den belanglosen Irritationen und Beleidigungen, von denen die Stoiker-Texte und der Alltag normalerweise voll sind. Hier nun werden die Einsichten von Aischylos so wichtig. Es kommt in einem solchen Fall darauf an, die Angelegenheiten an das Recht zu überstellen, das sich mit ihnen frei von Zorn und aus einem in die Zukunft weisenden Geist heraus befassen sollte. Auch schwerwiegende Angelegenheiten im persönlichen Bereich können an das Recht überstellt werden; doch es bleibt dabei – so hat es seine Richtigkeit – ein Rest tiefer Empfindungen (Trauer, Angst, Mitleid) zurück, die zu einer Liebes- und Vertrauensbeziehung wesentlich dazugehören. Im mittleren Bereich hingegen sind fortdauernde Beziehungen jeglicher Art mit dem Täter ausgeschlossen, und das Recht kann die ganze Last des Umgangs mit dem Unrecht auf sich nehmen.
Als Nächstes wende ich mich dem politischen Bereich zu. Die wichtigste Tugend in diesem Bereich ist die unparteiliche Gerechtigkeit, eine gütige Tugend, die das Gemeinwohl im Blick hat. Sie ist in erster Linie eine Tugend von Institutionen, aber auch und auf entscheidende Weise eine Tugend der Menschen, die diese Institutionen bevölkern und stützen. Doch welche Empfindungen animieren und stützen diese Gerechtigkeit? Hier ist einmal mehr häufig die Rede davon, dass der Zorn wichtig sei, und zwar als eine Empfindung, die für die gleichwertige Würde der Unterdrückten einstehe und die der Achtung vor dem Menschen als einem Zweck an sich selbst Ausdruck verleihe. Ich gliedere meine Behandlung des politischen Bereichs in zwei Teile: die Alltagsgerechtigkeit (Kapitel 6) und die revolutionäre Gerechtigkeit (Kapitel 7).
Im Fall der Alltagsgerechtigkeit werde ich argumentieren, dass dem Gerechtigkeitsstreben mit einer engen Ausrichtung an irgendeiner Form von Bestrafung schlecht gedient ist. Dies gilt aber noch mehr für die Fokussierung selbst auf eine anspruchsvolle strafrechtliche Form der Vergeltung. Vor allem anderen sollte die Gesellschaft eine vorausschauende Perspektive einnehmen, das ganze Problem der Kriminalität analysieren und nach den besten Strategien suchen, fortan damit umzugehen. Zu solchen Strategien kann sicher auch die Täterbestrafung gehören, allerdings nur als Teil eines viel umfangreicheren Projekts, das dazu noch Ernährung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungsbau, Beschäftigung und viel mehr beinhalten müsste. Ich kann hier keine umfangreiche Untersuchung zum Sozialwohl durchführen, die wirklich nötig wäre, möchte aber zumindest eine Vorstellung davon geben, was dazu notwendig wäre. Von da aus werde ich die Strafverfolgung genauer in den Blick nehmen und damit einen kleinen Beitrag zu diesem Unternehmen leisten.
Doch wie sieht es mit der revolutionären Gerechtigkeit aus? Hier wird häufig die Meinung vertreten, dass der Zorn sowohl edel als auch notwendig sein kann, wenn er den Unterdrückten hilft, sich zu behaupten und nach Gerechtigkeit zu streben. Allerdings behaupte ich im Anschluss an die theoretischen Schriften Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings, dass der Zorn für das Streben nach Gerechtigkeit nicht unverzichtbar ist und darüber hinaus ein großes Hemmnis darstellt, indem er der Großzügigkeit und Empathie im Wege steht, mit deren Hilfe sich eine gerechte Zukunft gestalten lässt. Der Zorn mag seinen begrenzten Nutzen in den drei von mir genannten instrumentellen Aspekten haben (als Signal, als Motivationsgrundlage und als Abschreckung), ausschlaggebend ist jedoch, dass es sich bei Anführern revolutionärer Bewegungen und bei vielen ihrer Gefolgsleute um eine merkwürdige Art von Mischwesen handelt: teils Stoiker, teils Geschöpfe der Liebe. Dennoch hat es solche Anführer und deren Gefolgsleute gegeben, wie das Denken und Leben Nelson Mandelas zeigen. Und womöglich sind sie gar nicht so merkwürdig, denn das Leben hält ja überraschende Phasen der Freude und der Großzügigkeit bereit und das sind Eigenschaften, die gut zu dem Vorhaben passen, etwas zu erschaffen, das besser ist als das Bestehende.
Diese säuberliche Aufteilung in Bereiche ist natürlich viel zu simpel, da diese sich in vielfältiger Weise überschneiden und gegenseitig beeinflussen. Die Familie ist ein Bereich der Liebe, sie ist jedoch auch eine rechtlich ausgestaltete politische Institution und sie ist der Ort zahlreicher Vergehen (wie etwa Vergewaltigung, Körperverletzung und Kindesmissbrauch), mit denen sich das Recht äußerst ernsthaft befassen muss. Beleidigungen am Arbeitsplatz beispielsweise sind Vergehen des mittleren Bereichs, es kann sich bei ihnen aber auch um Fälle von Rassen- oder Geschlechtsdiskriminierung, Belästigung oder unerlaubter Vernachlässigung handeln, wodurch sie in den Zuständigkeitsbereich des Rechts und der Art von sorgsam begrenztem Übergangszorn (der Eumeniden in ihrem neuen Kellerdomizil) gelangen, der für politische Vergehen richtig ist. Zudem sind unsere Beziehungen mit Kollegen, anders als die mit Unbekannten im Flugzeug und auf der Straße, fortdauernde Beziehungen, denen einiges Gewicht zukommt: Sie sind zwischen der vollständigen Vertrautheit der Liebe und Freundschaft und der leicht zu vergessenden Begegnung mit einem unhöflichen Sitznachbarn angesiedelt. Hinzukommt, wie ich bereits betonte, dass wir es bei schwerwiegenden Vergehen gegen eine Person durch Nichtvertraute, wie etwa Körperverletzung, Vergewaltigung und Mord, mit schwerwiegenden Vergehen und auch Rechtsverstößen im mittleren Bereich zu tun haben. Für die angemessene und richtige Haltung gegenüber diesen Vergehen in ihren verschiedenen Aspekten bedarf es einer Menge Klärungsarbeit.
Der gleichermaßen wichtige politische Bereich ist nicht einfach ein Bereich unparteiischer Gerechtigkeit. Wenn eine Nation überdauern und die Menschen dazu bewegen soll, sich um das Gemeinwohl zu kümmern, wird der öffentliche Bereich etwas von der Großzügigkeit und dem nichtinquisitorischen Geist brauchen, die meiner Meinung nach im persönlichen Bereich angebracht und richtig sind, wo man das Protokollieren all der Verfehlungen auch zu weit treiben und so die gemeinsamen Bemühungen vergiften kann. Dies ist in Wahrheit der Kern von Aischylos’ Einsicht: Anstatt dass Rachsucht und Blutrünstigkeit der Familie – und zwar der Familie in ihrem schlimmsten Zustand – auf die Stadt übertragen werden, sollte die Stadt auf die Vertrauensbande und auf die Gefühle liebender Großzügigkeit setzen, die die Familie in ihrem besten Zustand kennzeichnen.
Auch wenn mein eigentliches Thema der Zorn und seine richtige Kanalisierung in den drei Bereichen ist, hat meine Arbeit auch ein Unterthema, das eine kritische Auseinandersetzung mit einem prominenten Ersatzkandidaten des Zorns als zentrale Haltung und Reaktion gegenüber begangenem Unrecht umfasst. Bei diesem möglichen Ersatz handelt es sich um die Vergebung, und es gibt nicht wenige, die sich in den heutigen Diskussionen für sie als Kandidaten einsetzen. Es fällt auf, dass die Idee der Vergebung in den Eumeniden nicht vorkommt, allerdings würde ich sagen, sie tritt in der ganzen antiken Ethik nicht auf.17 Doch in den heutigen Diskussionen zum Zorn spielt sie eine so zentrale Rolle, dass man das Thema nicht angehen kann, ohne sich ausführlich mit ihr auseinanderzusetzen. Darum schlage ich vor, auch hier so zu verfahren und die geläufige Behauptung zu behandeln, der zufolge Vergebung eine zentrale politische und persönliche Tugend darstellt. Am Ende werden wir zumindest in einigen maßgeblichen Punkten in etwa dort landen, wo Aischylos uns den Rücken gekehrt hat – freilich erst nach umfangreichen Aufräumarbeiten und der Beseitigung von vielem, was uns die Jahrhunderte hinterlassen haben. Dadurch werden wir besser in der Lage sein zu erkennen, was die Einsichten der Eumeniden einer modernen Welt zu bieten hätten. Lassen Sie mich nun jenes untergeordnete Thema vorstellen.
Wir leben in einer Kultur, die häufig als „Entschuldigungs- und Vergebungskultur“ bezeichnet wird.18 Eine kursorische Büchersuche im Internet fördert viele entsprechende Titel zutage. Bei den meisten Titeln zu diesem Thema handelt es sich um populärpsychologische Arbeiten und Selbsthilfeliteratur. Nicht selten koppeln sie den Vergebungsgedanken an die Vorstellung einer „Reise“ oder eines „Wegs“. Indem sie diese Reise unternimmt, normalerweise unter Anleitung eines Therapeuten, bewegt sich die geschädigte Person von irgendeinem furchtbaren Schmerzensort zu einem herrlichen Ort verklärenden Glücks. Mein Lieblingstitel dieser Art ist Als der Tag begann.19 Man stelle sich das vor: Eine Frau, die die Schrecken der Obdachlosigkeit erlebt hat und auch die Wut, die das Leben verständlicherweise in einem jungen Menschen aufkommen lässt, erreicht dadurch, dass sie sich auf die Reise der Vergebung macht, zuletzt einen der begehrtesten aller irdischen Bestimmungsorte.
Vergebung ist „ein sehr ‚angesagtes‘ Thema“,20 das in der Politik und auch in der Philosophie viele Verfechter hat. Wichtige politische Akteure preisen ihre möglichen Vorteile, und selbst Führungsfiguren, die nie über Vergebung gesprochen haben, lobt man für ihren vorgeblichen Einsatz für sie – ein nicht überraschender, aber bedauerlicher Aspekt der vielen Denkmäler, die man Nelson Mandela errichtet hat, der, wie wir noch sehen werden, gar nicht auf diese Idee zurückgriff und für seine Bemühungen einen anderen gedanklichen Rahmen wählte.21 Mittlerweile beschäftigt sich eine wachsende Zahl von philosophischen Arbeiten mit dem Rang, den die Vergebung unter den Tugenden einnimmt, und mit ihren potenziellen Vorteilen in persönlichen wie politischen Beziehungen.22 Es finden sich davon abweichende Meinungen, die jedoch zumeist in die Richtung größerer zwischenmenschlicher Härte gehen, da diese Stimmen wieder die Vorteile der Vergeltung und der „Abrechnung“23 ins Feld führen. Jeffrie Murphy beispielsweise macht in seiner guten, einschlägigen Untersuchung mehrfach S. J. Perelmans Bonmot geltend: „Irren ist menschlich, vergeben gleichgültig“.24 Niemand scheint daran interessiert zu sein, die Vergebung sozusagen von der anderen Seite her zu kritisieren und zu argumentieren, wie ich es hier tun werde, dass Vergebung, zumindest in ihrer klassischen transaktionalen Form, eine Geisteshaltung aufweist, die äußerst inquisitorisch und disziplinarisch ist. Damit aber greifen wir unserer Geschichte vor: Zunächst müssen wir verstehen, was es mit der „Reise“ auf sich hat, zu der die Vergebung uns einlädt.
Der „Weg“ der Vergebung beginnt normalerweise mit furchtbarem Zorn über ein Unrecht, das einem durch eine andere Person zugefügt wurde. Aus einem in der Regel dyadischen Verfahren, das Konfrontation, Geständnis, Entschuldigung und das „Durcharbeiten“ umfasst, geht die geschädigte Person triumphierend hervor, unbelastet von Zorngefühlen, mit vollständig anerkannten Ansprüchen und bereit, die Gunst der Zornlosigkeit zu erweisen. Ebendiesen Prozess bezeichne ich als „transaktionale Vergebung“; diese ist nicht nur historisch enorm einflussreich, sondern auch heute gängige Praxis. Es ist plausibel, sie als die in der heutigen Welt kanonische Form von Vergebung zu betrachten.25
Wie in Kapitel 3 gezeigt wird, haben diese verfahrenstechnischen Aspekte der Vergebung ihre auch strukturelle Wurzel in einer jüdisch-christlichen Weltsicht, speziell der durch die organisierte Religion gestalteten, in welcher die moralische Beziehung eine Beziehung zwischen einem allwissenden, protokollierenden Gott und einem irrenden Sterblichen ist. Gott führt Aufzeichnungen über all unsere Irrtümer, eine Art ewiges Verzeichnis, den liber scriptus, der die Toten beim Jüngsten Gericht erwartet.26 Wenn genug geweint, gefleht und um Entschuldigung gebeten wird – wozu im Regelfall eine nicht unbeträchtliche Selbsterniedrigung gehört –, kann Gott beschließen, auf die Strafe für manche oder für alle Verfehlungen zu verzichten und den reuigen Menschen des himmlischen Segens wieder teilhaftig werden zu lassen. Die Erniedrigung ist die Vorbedingung der Erhöhung.27 Auf einer zweiten Stufe dann wird die Beziehung zwischen zwei Menschen der ersten Beziehung zwischen Mensch und Gott nachgebildet, um deren Leitmotive einzuarbeiten: Protokollierung, Geständnis, Erniedrigung und ewiges Nichtvergessen.
Diese Konstellation aus Empfindungen und Handlungen gibt es als solche in der antiken griechisch-römischen Ethik nicht, auch wenn diese Tradition einige wertvolle Haltungen im allgemeinen Umfeld der Vergebung beinhaltet – Sanftheit des Gemüts, Großzügigkeit, wohlwollendes Verstehen,28 Verzeihung und, besonders wichtig, Gnade im Strafen –, denen die Übersetzer und Kommentatoren gelegentlich die Reise der Vergebung beimengen. All diese Vorstellungen aber, so werde ich argumentieren, unterscheiden sich in maßgeblicher Hinsicht vom modernen Vergebungsgedanken und können von allen aufgegriffen werden, die sich von diesem Gedanken nicht leiten lassen wollen.29
Die konfessionelle Vorstellung, zu Kreuze zu kriechen und sich zu erniedrigen, hat etwas auffallend Unschönes an sich – selbst dann, so würde ich sagen, wenn man sich irgendeinen Gott vorstellt, den man verehren könnte, mit Sicherheit aber, wenn man dabei an seine Freunde, Familie und Mitbürger denkt. Es ist in der Tat sehr schwer (wie in Kapitel 3 deutlich werden wird), das Bestehen auf diese Haltungen mit der Vorstellung bedingungsloser Liebe in Einklang zu bringen, die derselben Tradition zugehört. Und es liegt auch etwas auffallend Narzisstisches in der Vorstellung eines Schauspiels, das sich um einen selbst dreht: um das Unrecht, dessen Opfer man wurde, und um das Geschenk der Buße, das einem dargeboten wird. (Der erstaunliche Narzissmus des liber scriptus, dessen Aufzeichnung des gesamten Kosmos auch den eigenen Namen prominent enthält, reproduziert sich im zwischenmenschlichen Bereich.) Weit davon entfernt, ein Gegengift gegen den Zorn zu sein, wirkt die transaktionale Vergebung kurz gesagt wie eine Fortsetzung des mit dem Zorn einhergehenden Heimzahlungswunschs – nur hat sie einen anderen Namen.
Manche Denker in einer losen jüdisch-christlichen Tradition bewirken eine Verbesserung der Kerngedanken transaktionaler Vergebung, indem sie erheblich von ihnen abweichen; für mich sind hier sowohl Bischof Joseph Butler als auch Adam Smith wertvolle Bezugsquellen. (Butler benutzt zwar den Ausdruck „Vergebung“, doch das von ihm Gesagte hat weniger mit dem zu tun, was ich als protokollierende Denkweise missbillige, als mit reiner Großzügigkeit und Menschlichkeit. Smith wiederum vermeidet das Wort „Vergebung“ interessanterweise gänzlich und verwendet stattdessen den nützlichen Cicero’schen Ausdruck „Menschlichkeit“.) In Kapitel 3 werde ich argumentieren, dass die jüdischen wie die christlichen Texte und Traditionen Alternativen zur transaktionalen Vergebung beinhalten, bei denen Großzügigkeit, Liebe und sogar Humor an die Stelle des düsteren Dramas aus Buße und abverlangter Reue treten. Zwei Alternativen stechen dabei heraus: Die erste ist die bedingungslose Vergebung, bei der die Person, der Unrecht geschehen ist, aus freien Stücken allen Zorn fahren lässt, ohne eine vorherige Buße zu verlangen. Die zweite, die ich sogar noch mehr mag, ist die bedingungslose Liebe und Großzügigkeit. Ich untersuche die biblischen Belegstellen für beide und prüfe sie als moralische Alternativen.
Im Ganzen werde ich argumentieren, dass Nietzsche mit seinem Instinkt richtig lag, in markanten Aspekten der jüdisch-christlichen Moral einschließlich ihrer Vorstellung transaktionaler Vergebung eigentliche Rachsucht und verdecktes Ressentiment zu erkennen, die ziemlich engherzig sind und nicht sonderlich hilfreich in zwischenmenschlichen Beziehungen. Sein Fehler bestand allerdings darin, dass er die Vielfalt und Komplexität in ebendiesen Traditionen nicht sah. Sowohl das Judentum als auch das Christentum umfassen alle drei von mir erörterten Haltungen.
Wir sollten also wachsam bleiben und damit rechnen, dass nicht alles, was die Bezeichnung „Vergebung“ trägt, die Merkmale transaktionaler Vergebung aufweist. Seit der Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch eine Tugend bezeichnet, nutzen Autoren der jüdisch-christlichen Tradition die Möglichkeit, ihn derjenigen Haltung anzuheften, der sie in diesem allgemeinen Lebensbereich den Vorzug geben.30 Manchmal wäre er nicht einmal dann treffend, wenn sich bedingungslose Vergebung finden ließe: Was als „Vergebung“ bezeichnet wird, sollte am besten als eine Form bedingungsloser Großzügigkeit verstanden werden. Dementsprechend wollten alle, die Nelson Mandela wegen seiner „Vergebung“ rühmten, ihn eigentlich nicht mit der transaktionalen Vergebung in Verbindung bringen – vielleicht noch nicht einmal mit bedingungsloser Vergebung (welche Zorn voraussetzt, der aufgegeben wird). Diese Menschen haben den Ausdruck vermutlich zur Bezeichnung einer Form von Großzügigkeit verwendet, für die Mandela, wie ich argumentieren werde, wirklich beispielhaft stand. Es kann allerdings auch kein Zweifel daran bestehen, dass es viele Leute gibt, die transaktionale Vergebungshaltungen für den südafrikanischen Versöhnungsprozess befürworten. Desmond Tutu war Befürworter einer solchen Vergebung: Im letzten Kapitel seines Buchs Keine Zukunft ohne Vergebung bietet er eine detaillierte Erörterung von Reue, Entschuldigung, Demut und Freisprechung – wobei er es sorgsam vermeidet, diese Vorstellungen Mandela oder auch den Verfahren der Wahrheits- und Versöhnungskommission zuzuschreiben.31
Im Fortgang meiner Argumentation werde ich dann die Forderungen des Zorns in jedem Bereich untersuchen und anschließend danach fragen, ob die transaktionale Vergebung in ihrer klassischen Definition der Ersatz ist, den wir brauchen. Meiner Auffassung nach stellt die jüdisch-christliche „Tugend“ transaktionaler Vergebung in keinem der drei Bereiche eine Tugend dar. Im persönlichen Bereich ist das ganze Instrumentarium aus Geständnis, Entschuldigung und Vergebung starr, lieblos und sehr häufig auf eigene Weise rachsüchtig. Das Angebot der Vergebung, so attraktiv und gnädig es auch scheint, weist allzu oft – so formuliert es Bernhard Williams in einem anderen Zusammenhang – „einen Gedanken zu viel“ auf, d.h. eine protokollierende, inquisitorische Haltung, die ein großzügiger und liebender Mensch meiden sollte. Bischof Butler warnte vor dem Narzissmus des Ressentiments, und ich werde argumentieren, dass die „Reise“ der Vergebung jenem Narzissmus viel zu oft Hilfe und Trost spendet. In seinem besten Zustand ist der persönliche Bereich durch eine Großzügigkeit gekennzeichnet, die die Vergebung überflügelt und ihre verfahrenstechnischen Überlegungen daran hindert, feste Gestalt anzunehmen. In einem sehr realen Sinne heißt Liebe, niemals sagen zu müssen, es tue einem leid. Dadurch, dass dies in einem beliebten seichten Roman gesagt wurde (dessen Autor freilich ein ausgezeichneter Altphilologe ist), wird es nicht falsch.32 Entschuldigungen können manchmal nützlich sein, allerdings nur als Hinweis darauf, was eine künftige Beziehung bereithalten könnte, und als Anzeichen dafür, ob eine solche Beziehung möglicherweise fruchtbar wäre.
Auf ganz ähnliche Weise gibt auch der mittlere Bereich der Entschuldigung eine wichtige Funktion als Anzeichen dafür, dass dem beleidigenden Arbeiter oder Chef künftig getraut werden kann; darin besteht ein brauchbares Mittel, das nach einem Bruch einem respektvollen Umgang miteinander den Weg ebnet. Doch das Verlangen, jemand anderem Entschuldigungen als eine Art Heimzahlung oder „Herabsetzung“ abzuringen, geistert auch in diesem Bereich herum, und wir sollten uns davor hüten, ihm nachzugeben.
Wenngleich die Entschuldigung hin und wieder eine wertvolle Funktion im Rahmen der politischen Versöhnung spielen mag, ist doch offenkundig, dass politische Entschuldigungen sich in wichtigen Aspekten von der transaktionalen Vergebung unterscheiden.33 Solche Entschuldigungen sind oft Zeichen künftiger Vertrauenswürdigkeit und Ausdruck einer Reihe von geteilten Werten, auf die sich Vertrauen aufbauen lässt. Weil die Demütigung eine beständige Bedrohung für die Versöhnung darstellt, ist es außerdem manchmal wichtig, die Frage der Entschuldigung im Ganzen zu umgehen, was die Wahrheits- und Vertrauenskommission in Südafrika klugerweise getan hat. Der Fokus sollte auf der Begründung von Verantwortlichkeit für falsches Handeln liegen, die ein entscheidender Bestandteil des Aufbaus von politischem Vertrauen ist. Dann sollte das ganze Drama von Zorn und Vergebung überwunden werden, um stattdessen Haltungen hervorzubringen, die tatsächlich Vertrauen und Versöhnung fördern.
Welche Werte aber sind es, die eine solche Förderung versprechen? Es sind Großzügigkeit, Gerechtigkeit und Wahrheit.