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VIII Zorn und Geschlecht
ОглавлениеUS-Amerikaner haben die Neigung, den Zorn mit männlichen Geschlechternormen zu verbinden. Von Sportlern bis zu Politikern werden Männer, die auf einen Affront nicht mit Zorn reagieren, verunglimpft und als schwach angesehen. Ein berühmtes Beispiel ereignete sich während des Präsidentschaftswahlkampfs von 1988. In einer Fernsehdebatte wurde der Kandidat der Demokraten, Michael Dukakis, gefragt, „Herr Gouverneur, wenn Kitty Dukakis [seine Ehefrau] vergewaltigt und ermordet werden würde, würden Sie dann eine unwiderrufliche Todesstrafe für den Mörder befürworten?“ Dukakis erwiderte: „Nein, das würde ich nicht, und ich denke, Sie wissen, dass ich mich mein ganzes Leben lang gegen die Todesstrafe ausgesprochen habe“.72 Dukakis stand bereits stark in der Kritik wegen seines Freigangprogramms, das bekanntlich zur vorübergehenden Freilassung des verurteilten Mörders Willie Horton geführt hatte, der eine Vergewaltigung und Körperverletzung beging, während er sich auf Hafturlaub befand. Die Tatsache, dass es Dukakis in seiner Antwort auf die Frage in Bezug auf seine Frau an leidenschaftlichem Zorn fehlen ließ, bestärkte Teile der Öffentlichkeit in ihrer Wahrnehmung, er sei unmännlich. (Seine relativ kleine Statur von weniger als 1,70 Meter war nicht hilfreich.) Der männliche Mann würde beherrschten, doch spürbaren Zorn zeigen und dazu einen Drang nach Vergeltung in Form der Todesstrafe.
Dieser Norm entsprechend werden kleine Jungen in den USA oft bestärkt und nicht kritisiert, wenn sie Zorn zeigen, wohingegen kleine Mädchen zu Mitgefühl und Empathie angeleitet werden.73 Selbst im Säuglingsalter werden die Emotionen der Kinder nach ihrem vermuteten Geschlecht benannt.74 Dementsprechend wird das Weinen eines als weiblich gekennzeichneten Babys in der Regel als Angst gedeutet, das Weinen eines als männlich gekennzeichneten Babys hingegen in der Regel als durchsetzungsstarker Zorn. Babys werden auch unterschiedlich gehalten und man spielt anders mit ihnen, je nach ihrem wahrgenommenen Geschlecht. „Mädchen“ werden gehätschelt und behütet, „Jungen“ werden in die Luft geworfen und als aktiv behandelt. Daher wundert es nicht, dass sich viele Erwachsene an diese kulturellen Drehbücher halten. Überraschend ist tatsächlich, wie viele Abweichler es gibt. Und selbst im Wilden Westen finden sich Helden (wie Jason McCord), die auf Rache verzichten.75
Diese Geschlechternormen, die den Zorn mit Macht und Autorität verknüpfen, die weibliche Zornlosigkeit mit Schwäche und Abhängigkeit, bringen viele Frauen zu der Ansicht, dass sie sich selbst Zorn beibringen müssen, um für den Ausgleich zu sorgen und sich als Handelnde völlig gleichzustellen. Die weiblichen Verteidiger der Zornlsigkeit sind in die Defensive gedrängt, gerade so, als ob sie Fußfesseln oder Korsette zu verteidigen suchten.
Die Verteidiger der Zornlosigkeit wenden sich daraufhin mit großem Interesse dem antiken Griechenland und Rom zu, wo Geschlechternormen ganz anders funktionierten.76 Diese Kulturen gingen nicht so weit, sich wie die Utku oder die Stoiker auf die Zornlosigkeit festzulegen. Viele ihrer Angehörigen aber akzeptierten die stoische Haltung, wonach Zorn unter keinen Umständen angebracht ist; und selbst Andersdenkende hätten in dem vergeltenden Zorn wahrscheinlich eine Gefahr oder Krankheit gesehen und in einer Neigung zum Zorn einen behebbaren Mangel.77 Wie man sich leicht denken kann, folgten die Geschlechternormen den allgemeinen Normen: Männer galten als rationale Wesen, die imstande sind, ihre Wut zu bändigen und über sie hinauszuwachsen, um sie womöglich ganz abzuschütteln. Frauen wurden als geringere Geschöpfe betrachtet, die verfehlten und fruchtlosen Projekten der rächenden Vergeltung nachhängen, womit sie sich selbst ebenso schaden wie anderen. Tatsächlich war die Position, für die ich hier eintrete und die ich als „radikal“ bezeichne, in Griechenland und Rom ganz und gar nicht radikal, und die Nutzlosigkeit und Infantilität des Zorns wurde dort gut verstanden. So waren Männer, die (in normativer Hinsicht) als Erwachsene und vernünftig angesehen wurden, ziemlich unzornig (in normativer Hinsicht zumindest) und die als seicht und infantil geltenden Frauen zeigten durch ihren Hang zum Zorn, wie töricht und gefährlich diese Emotion ist.
Diese kulturellen Unterschiede machen deutlich, dass soziale Normen eine große Rolle dabei spielen, wie Menschen sich zur Selbstkultivierung anleiten – unabhängig davon, wie stark eine Neigung zum Zorn auch immer sein mag. Wenn der Zorn als infantil und weichlich gilt, heißt das nicht, dass er verschwinden wird; doch die nach Würde und Vernunft strebenden Menschen werden sich seiner Verlockung zu widersetzen versuchen.
Ein aufschlussreiches Argument hinsichtlich der Geschlechter wird in den griechisch-römischen Texten immer wieder angebracht. Danach ist der Zorn seinem Begriff nach mit Hilflosigkeit verbunden. Ein Grund, aus dem Frauen so häufig als die Zornigen in Erscheinung treten, bestehe darin, dass sie in überproportionalem Maße außerstande seien, die Dinge unter Kontrolle zu halten, die sie unter Kontrolle halten müssen und wollen. Demzufolge seien sie viel anfälliger für Verletzungen und viel stärker versucht, dem Drang nach Rache als angenommener Rückgewinnung der verlorenen Kontrolle nachzugeben. Medea, mit deren Zorn wir uns in Kapitel 4 befassen werden, ist ein Musterbeispiel für eine Amok laufende Hilflosigkeit. Fremd in fremdem Land, sitzen gelassen und ohne Rechte auf ihre eigenen Kinder, verliert die betrogene Ehefrau alles auf einmal. Ihr übergroßer Vergeltungsdrang hängt mit der Größe ihres Verlusts zusammen, der sie nicht trauern, sondern nur noch auf Rache sinnen lässt. Ihre Geschichte erzählt uns, dass selbst da, wo Normen dem weiblichen Zorn keinen Vorschub leisten, asymmetrische weibliche Hilflosigkeit ihn zu wecken vermag; und ich glaube, das trifft zu. Die mehr oder weniger große Besessenheit zum Beispiel, mit der eine US-amerikanische Frau in einem Scheidungsprozess auf einen vergeltenden Ausgleich drängen wird, verhält sich möglicherweise häufig proportional zu dem Mangel an anderen Wegen in eine für sie fruchtbare Zukunft, wie etwa eine Karriere und das Vertrauen in ihre eigenen Talente. Diese Art des Zorns ist jedoch kaum ein Zeichen weiblicher Würde und Stärke.
Medeas Geschichte deutet auch darauf hin, dass wir, wo wir auf übergroßen männlichen Zorn stoßen, eigentlich fragen sollten, ob nicht irgendwo im Hintergrund die Hilflosigkeit lauert. US-amerikanische Männer sind im Vergleich zu Frauen sicherlich privilegiert: Sicher aber sind sie deswegen beileibe nicht. Die allgemeinen Erwartungen an ihr Kontrollvermögen sind enorm und für sie immer mit der Gefahr des schmachvollen Scheiterns an diesen Ansprüchen verbunden. Sie müssen Leistungsträger, Großverdiener und „fitte Typen“ sein. Und immer müssen sie ihren Status im Verhältnis zu anderen im Blick haben. Der Konkurrenzkampf ist ermüdend, und gewinnen lässt er sich fast nie. Das Resultat davon ist fast zwangsläufig Scham, und Scham kann den Zorn wecken.78
Alle Kleinkinder sind bis zu einem gewissen Grad narzisstisch und sie hängen dem Glauben an, dass sie eigentlich allmächtig sein sollten. Tiefer noch als mit dem Geschlecht ist das Phänomen der menschlichen Hilflosigkeit mit den Erwartungen an das Kontrollvermögen verbunden. Die frühe Kindheit – die geprägt ist von großen kognitiven Fähigkeiten bei gleichzeitiger totaler physischer Machtlosigkeit – ist an sich schon eine Brutstätte des Zorns. Demnach kann also in Bezug auf beide Geschlechter davon ausgegangen werden, dass sie viele Anlässe zum Zorn haben, dessen Geschlechternormen zwar voneinander abweichen und variieren, ihn aber nicht beseitigen. Kulturen können auf den Zorn bei Männern und Frauen zum einen dadurch Einfluss nehmen, dass sie normative Drehbücher für die Emotionen entwerfen. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass sie die Hilflosigkeit unterschiedlich handhaben: Von welchen Dingen denkt jedes Geschlecht, dass es sie eigentlich unter Kontrolle halten sollte, und wie zuverlässig verfügt es über diese Kontrolle? Die Apostel der Zornlosigkeit können daraus lernen. So müssen neue Drehbücher für Männer wie auch für Frauen geschrieben werden, in denen sich der Zorn als Schwäche und Infantilität manifestiert, die Zornlosigkeit und ihre Verbündeten, wie etwa die wechselseitige Beziehung und die Gegenseitigkeit, hingegen als Stärke. (Das haben die Griechen und Römer zumindest bis zu einem gewissen Grad getan.) Doch es gibt noch eine andere, ganz wichtige Sache, die getan werden muss: Den Menschen müssen die Dinge, die sie zu Recht wertschätzen, verfügbar gemacht werden, und diese müssen vor Schaden bewahrt werden.