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VI Der Zorn des Übergangs und die instrumentellen Funktionen des Zorns
ОглавлениеEs gibt viele Möglichkeiten, mit dem Zorn auf Abwege zu geraten. Die betreffende Person könnte sich etwa über das Zielobjekt täuschen: T. hat nicht getan, wovon Angela glaubt, er habe es getan; ein anderer, P., war der Vergewaltiger. Die zornige Person könnte sich auch bezüglich des Geschehens täuschen, auf das sich ihr Zorn konzentriert: T. war zwar vor Ort, hat Rebecca aber nicht vergewaltigt. Die Person könnte auch mit ihrer Einschätzung der in dem Geschehnis zum Tragen kommenden Haltungen oder Wertsetzungen falsch liegen. Aristoteles zufolge geraten Menschen oft in Zorn, wenn jemand ihren Namen vergisst, und eine solche Reaktion ist schlichtweg verworren. (Entweder hat die Person bizarre Vorstellungen, was die Wichtigkeit von Namen angeht, oder sie interpretiert diese Vergesslichkeit als eine pauschalere Geringschätzung ihrer eigenen Wichtigkeit.) Irrtümer dieser Art erörtere ich in Kapitel 5.
Häufig aber stimmen die Fakten, und auch die Einschätzungen sind korrekt: Es hat die Unrechtstat gegeben, das Zielobjekt, das in dem Fall wieder ein Subjekt ist, hat sie absichtlich begangen und dem Opfer wurde dadurch schwerer Schaden zugefügt. In solchen Fällen ist Zorn, wie ich sagen werde, „begründet“. Ich lehne es ab, diese Art des Zorns als „berechtigt“ zu bezeichnen, weil der Zorn, wie ausgeführt, seinem Begriff zufolge den Wunsch nach Vergeltung umfasst, und dieser stellt ein normatives Problem dar. „Begründet“ meint also, dass der gesamte kognitive Gehalt des Zorns bis auf diesen einen Teil auf solidem Fundament steht.
Doch selbst wer mit seinem Zorn solchen Irrtümern entgeht, erleidet in den Untiefen der Vergeltung trotzdem Schiffbruch mit ihm. An dieser Stelle nun präsentiere ich eine wichtige Ausnahme zu meiner These, der zufolge der Zorn seinem Begriff nach stets einen Gedanken an Vergeltung einschließt. Es gibt viele Fälle, in denen man üblicherweise zunächst in Zorn gerät und über irgendwie geartete Vergeltungsmaßnahmen nachdenkt, um dann in einem Moment größerer Gelassenheit auf den Übergang zuzugehen. Doch es gibt zumindest auch einige wenige Fälle, in denen man sich bereits dort befindet. Der gesamte Inhalt der Emotion lässt sich auf die Formulierung bringen: „Wie empörend! Dagegen muss etwas unternommen werden.“ Bezeichnen wir diese Emotion als den Zorn des Übergangs, denn es handelt sich um Zorn oder um einen Quasizorn, der bereits den dritten Abzweig auf Angelas Weg eingeschlagen hat. Man könnte ihm irgendeine alltagssprachliche Bezeichnung geben, wie etwa Jean Hamptons „Entrüstung“.55 Ich ziehe es jedoch vor, ihn von anderen Fällen sauber zu trennen, weil ich glaube, dass in einer hohen Zahl von Fällen, die wir als „Entrüstung“ bezeichnen, gewisse Vergeltungsgedanken mitspielen. Ich favorisiere also das offensichtliche Kunstwort. Der Zorn des Übergangs ist weder auf den Status fokussiert, noch geht er – nicht einmal kurz – mit dem Wunsch einher, den Angreifer als eine Form der Vergeltung für die Verletzung leiden zu sehen. Mit dieser Art von magischem Denken kommt er überhaupt nie in Verbindung. Sein Fokus liegt von Beginn an auf dem sozialen Wohl. Der Satz „Dagegen muss etwas unternommen werden“ drückt Entschlossenheit aus, sich auf die Suche nach Strategien zu machen, wobei die Frage offenbleibt, ob das Leiden des Angreifers eine der attraktiveren von ihnen ist.
Ist der Zorn des Übergangs eine Form von Zorn? Wie wir diese Frage beantworten, spielt für mich eigentlich keine große Rolle. Solche speziellen Grenzfälle werden im Rahmen begrifflicher Analysen selten zufriedenstellend behandelt. Mit Sicherheit ist er eine Emotion: Die betreffende Person ist wirklich aufgebracht. Und er erscheint anders (wenn auch kaum merklich) als eine von Mitgefühl begleitete Hoffnung, weil er sich auf etwas Empörendes richtet. Die Person sagt: „Wie empörend“, nicht: „Wie traurig“, und ihre Gedanken kreisen um die Frage, wie sich Unrechtstaten künftig verringern oder verhindern lassen. Ein wichtiger Punkt ist die Seltenheit und Außergewöhnlichkeit dieser rein zukunftsgerichteten Emotion. Es ist sehr selten der Fall, dass zornige Menschen von Anfang an so denken und nicht wollen – nicht einmal kurz –, dass dem Angreifer Übles widerfährt. (Außer als Mittel zum sozialen Wohl, sollte eine unabhängige Untersuchung ergeben, dass es tatsächlich ein solches ist.) Viel häufiger kommt es vor, dass man erst in Zorn gerät und sich dann auf den Übergang zubewegt, als dass man schon dort ist und bereits das soziale Wohl im Auge hat. Der Rachetrieb ist zutiefst menschlich, und das zweifellos sowohl aufgrund einer evolutionären Entwicklungstendenz als auch durch kulturelle Verstärkung. Nur außergewöhnliche Individuen befinden sich bereits am Übergang und streben bei wichtigen Themen das allgemeine Wohl an. Eine solche Geistesgegenwart erfordert in der Regel lange Selbstdisziplin. Daher könnte man sich denken, dass Kings eigene und eigentliche Emotion der Zorn des Übergangs war, während es sich bei der Emotion, die er in seiner Rede für die Zuhörerschaft konstruierte, um einen flüchtigen (Standard-)Zorn mit anschließender Wendung hin zum Übergang handelte. Im Folgenden werde ich den Spezialausdruck „Zorn des Übergangs“ verwenden, wenn nicht die übliche Emotion gemeint ist, deren Begriffsinhalt Aristoteles und Butler richtig bestimmt haben und für die ich das bloße Wort „Zorn“ verwende.
Der Zorn des Übergangs wird beim Nachdenken über die politischen Institutionen eine wichtige Rolle spielen. Das heißt aber nicht, dass er im täglichen Miteinander überhaupt keine Rolle spielt. So gedeiht er beispielsweise häufig in den Beziehungen von Eltern zu ihren kleinen Kindern. Diese verhalten sich oft unerhört, doch Eltern sind selten darauf aus, es ihnen heimzuzahlen. Sie wollen bloß, dass die Dinge sich zum Besseren entwickeln. Wenn sie klug sind, entscheiden sie sich für Strategien, die Verbesserungen versprechen. Der mit schlechten Wünschen für den Angreifer einhergehende herkömmliche Zorn steht im Gegensatz zur bedingungslosen Liebe. Das gilt nicht für den Zorn des Übergangs, da es diesem fremd ist, Schlechtes zu wollen.
Der Zorn des Übergangs kommt womöglich auch dann vor, wenn Menschen über die Verletzung eines wichtigen Prinzips oder über ein ungerechtes System in Zorn geraten.56 Freilich haben wir es nicht bei all solchem Zorn mit dem Zorn des Übergangs zu tun: Denn der Wunsch nach Vergeltung liegt selten offen zutage und er kann sich an vielen Stellen einschleichen wie die Schlange in das Paradies. Menschen, die sagen, sie seien über die Verletzung eines Prinzips zornig, wollen manchmal, dass die Verursacher auf irgendeine Weise für das büßen, was sie getan haben. Menschen, die über die Ungerechtigkeit eines Systems in Zorn geraten, wollen manchmal das „System zerschlagen“, um damit diejenigen zu treffen und leiden zu lassen, die es aufrechterhalten. Um den Zorn des Übergangs dagegen handelt es sich, wenn sich der gesamte Inhalt des Zorns auf eine der folgenden Formulierungen bringen lässt: „Dies ist empörend, und wie lässt es sich besser machen?“ oder „Dies ist empörend, und wir müssen uns fest dazu entschließen, es anders zu machen“.
Lassen Sie uns den feinen Unterschied an einem gängigen Fall veranschaulichen: Viele Menschen finden es unerhört, dass die Reichen nicht mehr Steuern zahlen, um das Wohl der Armen zu befördern. Sie sind empört über ein allem Anschein nach ungerechtes System. Lassen Sie uns einfach davon ausgehen, dass ihre empirische Analyse zutreffend ist: Wenn die Reichen mehr Steuern zahlen, wird den Armen damit tatsächlich geholfen. (Das ist natürlich nicht offensichtlich zutreffend.) Räumen wir ebenfalls ein, was dagegen klar zu sein scheint: dass nämlich die Reichen aufgebracht wären und leiden würden, wenn es zu einer solchen Veränderung käme. Stellen wir uns nun zwei Befürworter dieser Veränderung vor. P.s Augenmerk liegt auf dem sozialen Wohl. Entrüstet über die Ungerechtigkeit, will er eine gerechtere Gesellschaft schaffen. Seiner Auffassung nach sollte uns das wahrscheinliche Leiden der Reichen nicht davon abhalten, das Richtige und Wichtige zu tun, dennoch liegt ihm nichts an diesem Leiden. Insofern daraus politischer Widerstand gegen sein Projekt erwachsen könnte, wäre es ihm tatsächlich lieber, es gäbe ein solches Leid nicht. Dagegen will Q. die vorteilhafte Veränderung, sympathisiert aber auch mit der Vorstellung, die Reichen leiden zu lassen, als Vergeltung oder wohlverdiente Strafe für ihre Arroganz und Gier. Q.s Meinung nach verdienen sie es zu leiden, und ihr Zorn zielt zumindest teilweise auf den (wie sie glaubt) berechtigten Schmerz der Reichen. P.s Zorn ist reiner Zorn des Übergangs. Q.s Zorn hingegen ist die übliche bunte Mischung, die der herkömmliche Zorn darstellt. Möglicherweise bewegt sie sich früher oder später auf den Übergang zu, das kann aber genauso gut auch nicht geschehen. Unglücklicherweise kommen die realen politischen Akteure, die Wähler eingeschlossen, selten in so reiner Form wie P. vor.
Was lässt sich vom (üblichen) Zorn letztlich Gutes sagen? Der Zorn hat drei mögliche instrumentelle Funktionen. Erstens kann er als Signal dafür dienen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Dieses Signal kann von zweierlei Art sein: Einmal kann es sich um ein Signal an die Person selbst handeln, die sich ihrer Werthaltungen und deren Zerbrechlichkeit möglicherweise nicht bewusst war; zum anderen kann es sich um ein Signal an die Welt handeln, eine Art Ausrufezeichen, das die Aufmerksamkeit auf eine Verletzung lenkt. Weil die letztere Form ebenso gut und häufig sogar besser durch eine nicht zornige Ausübung des Zorns erfüllt werden kann, wie ich in Kapitel 5 argumentiere, werde ich mich hier auf die erstere Form konzentrieren. Der Zorn ist Ausdruck der Vorstellung eines erheblichen Fehlverhaltens gegenüber einer Person oder Sache, das tiefe Besorgnis bei dem oder der Betreffenden auslöst. Man könnte zwar die Vorstellung einer erheblichen Verletzung auch ohne Zorn haben, dafür begleitet von Trauer und Mitgefühl, doch diese beiden Emotionen umfassen nicht die Vorstellung einer Unrechtmäßigkeit, auf welcher der spezielle Fokus beim Zorn liegt. (Das ist der Grund, weshalb Butler, trotz all seiner harschen Kritik an den Affekten, den sozialen Nutzen des Zorns zu verteidigen sucht, mit den gemischten Resultaten, die wir gesehen haben.) Ein wichtiger Punkt ist, dass jene beiden Emotionen auch nicht den Gedanken umfassen, dass etwas getan werden muss, der dem Zorn seinem Begriff nach zugehört, wie ich argumentiert habe, wenngleich für gewöhnlich in der Fehlform des Vergeltungsgedankens. Die Erfahrung des Zorns kann bewirken, dass eine vorher nicht dafür sensibilisierte Person sich ihrer Wertsetzungen bewusst wird und erfasst, wie die Unrechtshandlung eines anderen diese Werte verletzen kann. Zum Beispiel entgeht vielleicht einer Person, die sich in einer hierarchischen Beziehung befindet, wie unfair sie behandelt wird, bis sie an einer oder an mehreren Stellen in Zorn gerät. Sofern ihr die Erfahrung hilft, sich zum Protest zu entschließen oder ihre Lage auf irgendeine andere Weise zu verbessern, ist diese nützlich.
Das vom Zorn ausgehende Signal ist reichlich irreführend, da sich darin eine Vergeltungs- oder Heimzahlungsidee ausdrückt, die primitiv ist und abgesehen vom magischen Denken oder narzisstischen Irrtum keinen Sinn ergibt. Insofern ist dieses Signal also ein falscher Hinweis, und die zornige Person ist stets gut beraten, wenn sie baldmöglichst beginnt, sich über den Zorn hinaus auf den Übergang zuzubewegen. Trotzdem kann das Signal ein nützlicher Weckruf sein.
Wir sehen das an Kings Rede, die sich an ein Publikum wendet, das sich in Teilen vielleicht nicht völlig über die Übel der Rassenunterdrückung im Klaren war: Er schürt tatsächlich Zorn auf das Verhalten des weißen Amerika, indem er das begangene Unrecht in seinem ganzen Ausmaß und seinen Auswirkungen auf das Wohl eines jedes Einzelnen bestätigt. Dann aber bringt er seine Zuhörer von den Vergeltungsgedanken ab, die sich unmittelbar einstellen, und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Bild der Zukunft. Wenn er von solch einem geschickten Unternehmer gemanagt wird, kann der Zorn nützlich sein, und King setzte mit seinem Projekt von jeher auf Engagement und den Kampf auch gegen die Selbstzufriedenheit. Vielleicht ist der Zorn sogar noch nützlicher in Fällen, in denen ein schleichendes Unrecht oder Fehlverhalten, womöglich kaum bemerkt, unter der Oberfläche des täglichen Lebens schlummert und in denen allein die Emotion die Aufmerksamkeit der Person darauf lenkt, dass etwas im Argen liegt.
Eng verknüpft mit der Vorstellung des Zorns als Signal ist die Vorstellung von ihm als Motivation. Gegen die griechischen Stoiker ist oft der Vorwurf erhoben geworden, sie beraubten die Gesellschaft der Motivation, nach Gerechtigkeit zu streben, indem sie beharrlich behaupteten, dass Zorn unter allen Umständen falsch und darum abzulehnen sei. Darauf erwiderten sie, dass Menschen ohne die Emotion von Prinzipien bewegt werden können und dass solche Motivationen auf Prinzipienbasis verlässlicher seien als der Zorn, der die Dinge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit aus dem Ruder laufen lasse.57 Ihren eigenen Bedingungen nach war ihre Erwiderung nicht erfolgreich: Denn da sie wirklich glaubten, dass es sich bei den Verletzungen, die andere Menschen zufügen können, nicht um schwerwiegende Unrechtstaten handelt, hatten sie tatsächlich keine Möglichkeit, sich mit ihnen zu befassen oder andere dazu zu motivieren. Die Stoiker hätten die in Kings Rede ausgedrückten Wertsetzungen insgesamt als Abirrungen behandelt; dann aber müssten sie auch seine philosophische Ermahnung, nach Gerechtigkeit zu streben, als unangebracht abtun.
Anders verhält es sich bei meiner eigenen Kritik. Aus meiner Sicht ist der Zorn hinsichtlich der ihm zugrunde liegenden Wertsetzungen oft hinreichend angebracht, und auch die Liebe und die Trauer, die denselben Werten gelten, sind völlig angebracht; das Problem entsteht mit der Vergeltungsidee. Diese gehört, wie dargestellt, dem Begriff nach zum Zorn (außer in dem seltenen Grenzfall des Übergangszorns), und sie gehört ohne Zweifel auch zu dem, was Menschen wenigstens anfangs zum Handeln motiviert. Die gesteigerte Kraft der Emotion und vielleicht auch ihre magischen Rachefantasien gehören zu den menschlichen Antrieben, ohne die zumindest manche Menschen es einfach versäumen würden, etwas zu unternehmen. (Ohne das vom Zorn ausgehende Signal würden sie das Fehlverhalten oder seinen Umfang vielleicht nicht einmal bemerken.) Liebe allein reicht nicht immer aus, auch wenn sie häufig genügt. Sind die Menschen jedoch erst einmal aktiv geworden, sollten sie den Verlockungen des Zorns nicht bis hin zur fantasierten Vergeltung nachgeben. Diese ergibt keinen Sinn, es sei denn, man irrt sich auf andere Weise und konzentriert sich unverhältnismäßig auf Statusverletzungen.
Zurück bei dem Beispiel von King, könnte man sich eine Zukunft unter dem Zeichen der Rache vorstellen, in der die Afroamerikaner an die Macht kommen und an den weißen Amerikanern Vergeltung üben, indem sie ihnen Leid und Demütigung zufügen. Die Gesellschaft würde vor solchen Ideen nur so strotzen, und das, obwohl eine Vergeltung dieser Art die Dinge viel schlechter statt besser machen würde. Kings vollkommen überlegener Grundhaltung nach war der Übergang bloß einen Wimpernschlag entfernt, weil die Schwierigkeiten des Landes nur durch Zusammenarbeit wirklich gelöst werden könnten. Dennoch war der Zorn ein nützlicher Motivationsschritt auf dem Weg – einen ganz kurzen Augenblick lang und sorgsam gelenkt. Ich glaube nicht, dass der Zorn als Motivation für das Streben nach Gerechtigkeit notwendig ist, aber ich glaube dennoch, dass er häufig sinnvoll sein kann. Als mutmaßlicher Teil unserer evolutionären Ausstattung vermag er uns nützlicherweise für gute Zwecke zu aktivieren – wobei man sagen muss, dass die Dinge mit ihm nur selten den gewünschten Verlauf nehmen.58
Aus Zornlosigkeit folgt allerdings nicht Gewaltlosigkeit. Mit diesem Aspekt werden wir uns in Kapitel 7 näher befassen, hier aber halte ich fest, dass trotz Gandhis scharfer Kritik an der Gewalt die Argumentation von King und Mandela stärker zu überzeugen vermag, der zufolge Gewalt zur Selbstverteidigung berechtigt ist und gewaltsame Strategien (in Mandelas Fall) sich in instrumenteller Hinsicht selbst jenseits der Selbstverteidigung als notwendig erweisen können. Wie wir jedoch sehen werden, beharrten King und Mandela darauf, dass die Gewaltausübung in einem Geist der Zornlosigkeit erfolgen und mit Übergangsgedanken an eine künftige Zusammenarbeit verbunden sein müsse.
Der Zorn kann schließlich eine Abschreckung sein. Menschen, die als leicht zu erzürnen gelten, schrecken andere oftmals davon ab, ihre Rechte zu verletzen.59 Hier kann man nur sagen, dass der Zorn durch die Art seiner Abschreckung wahrscheinlich in keine stabile oder friedliche Zukunft führen wird; stattdessen spricht nur allzu viel dafür, dass ein solcherart abschreckender Zorn eine undurchsichtigere Aggression zur Folge hat. Es gibt außerdem viele Möglichkeiten der Abschreckung vor dem Unrecht, von denen einige viel anziehender sind als das Befeuern der Angst vor einem Ausbruch.
Zusammengefasst hat der Zorn einen sehr begrenzten, aber realen Nutzen, der mit großer Wahrscheinlichkeit auf seine evolutionäre Funktion als „Kampf-oder-Flucht-Mechanismus“ zurückgeht. Wir können vielleicht an dieser begrenzten Funktion für den Zorn festhalten und gleichzeitig darauf beharren, dass seine Vergeltungsfantasie gründlich in die Irre führt und dass er nur vor dem Hintergrund kranker Wertsetzungen Sinn ergibt. Die Emotion wird uns demzufolge mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vom rechten Weg abbringen.
Aber ist nicht der Zorn eine unersetzliche Ausdrucksmöglichkeit für Menschen, die nicht sonderlich wort- und begriffsorientiert sind?60 Dagegen könnte eingewendet werden, dass ein solcher Gedanke wohl nur von einer weißen, (ehemals) anglikanisch-protestantischen Akademikerin der oberen Mittelschicht (was ich gewiss bin), kommen kann, die von Kindesbeinen an „im Umgang mit Worten“ geschult und davon abgehalten wurde, sich unmittelbar stark emotional auszudrücken. Den Vorwurf kann ich so nicht gelten lassen. Zunächst einmal ist der angeführte Gedanke kein stoischer. Wie wir sehen werden, hindert er nicht die Erfahrung oder den starken Ausdruck von Trauer, Mitgefühl und einer Menge anderer Emotionen. Es scheint aber jedenfalls schlicht falsch, Menschen aus der unteren gesellschaftlichen Schicht als ausdrucksunfähig oder plump darzustellen und zu behaupten, ihre ganze Kommunikation erschöpfe sich im Austeilen. Die Musik und Kunst armer Menschen ist durch alle Zeiten in vielen Kulturen erstaunlich ausdrucksstark und umfasst eine große Bandbreite von Emotionen. Gleichzeitig sind meiner Erfahrung nach Menschen mit einer übertriebenen Wahrnehmung ihrer eigenen privilegierten Stellung besonders anfällig dafür, in Zorn zu geraten. In meinem Fitnessstudio vermeide ich es, bei einem anderen Mitglied behutsam nachzufragen, ob ich mich an einem der Geräte dazwischenschieben kann, wenn ich sehe, dass diese Person privilegiert, jünger und männlich ist – aus Furcht vor einem Ausbruch. Auf der Straße sind es die Fahrer teuer Geländelimousinen, die sich – wiederum meiner anekdotischen Erfahrung nach – benehmen, als ob ihnen die Straße gehört. Ich denke also, dass an dem Einwand etwas dran ist, auch wenn er sich entkräften lässt.
Die Neigung zu Zorn und Rache ist tief in der menschlichen Psyche verwurzelt. Wer wie Bischof Butler an einen wohlmeinenden Gott glaubt, der findet diese Tatsache in Anbetracht ihrer Irrationalität und Destruktivität schwer erklärlich.61 Für diejenigen, die Butlers Bezugsrahmen nicht teilen, ist sie jedoch viel weniger schwer zu verstehen. Der Zorn bringt manchen Vorteil, der in einem Stadium der menschlichen Vorgeschichte wertvoll gewesen sein mag. In Resten hat sich seine nutzbringende Funktion sogar bis heute erhalten. Doch so segensreiche wie zukunftsorientierte Rechtsprechungssysteme haben diese Emotion weitgehend überflüssig gemacht, und wir haben die Möglichkeit, uns mit ihrer Irrationalität und Destruktivität zu befassen.