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X Der Hüter des Zorns:
Das sanfte Gemüt

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Wie könnte jemand weniger anfällig für die Irrtümer der Vergeltungsfantasie bzw. der Statusobsession werden und dafür empfänglicher für den Übergang? Adam Smith liefert einen sehr nützlichen Vorschlag, und Aristoteles mit seiner Erörterung des Zorns und der zugehörigen Tugend der „sanften Gemütsart“ liefert zwei weitere.91 Alle drei sind sie Varianten der Vorstellung, nach der es zur Vermeidung des Zorns entscheidend darauf ankommt, dass man sich weniger von den narzisstischen Wunden des Egos gefangennehmen lässt.

Im Allgemeinen besteht Smiths Vorgehensweise darin, zu ergründen, welches das adäquate Maß eines Affekts ist, indem er sich die Reaktion eines „umsichtigen Zuschauers“ vorstellt, der in die Ereignisse nicht persönlich verwickelt ist. Dieses Mittel, so sagt er, sei im Fall der Emotion des Zorns besonders angebracht, die mehr noch als die meisten anderen Emotionen „immer bis zu einem weit niedrigeren Grad herabgestimmt werden [muss], als derjenige […], zu welchem die unbändige Natur sie sonst wohl anschwellen ließe“.92 Smith zufolge wird der Zuschauer, wenn er über die Verletzungen nachdenkt, die einer anderen Person zugefügt wurden, ebenfalls Zorn empfinden. Dieser werde jedoch erstens durch den Abstand und die Nichtbeteiligung gemäßigt – und zweitens interessanterweise dadurch, dass er auch die Situation desjenigen beachten muss, gegen den der Zorn sich richtet, und dieses Denken an den anderen verhindere das Aufkommen von Rachegelüsten.

Anders gesagt: Wenn wir uns aus unserer narzisstischen Selbstverstrickung lösen, wird uns in zweierlei Weise geholfen. Erstens sind wir nicht der Verzerrung eines Denkens unterworfen, das alles auf die eigene Person bezieht, und zweitens sind wir gezwungen, das Wohl eines jeden zu berücksichtigen, nicht nur das der Partei, der Unrecht geschehen ist. Smiths umsichtiger Zuschauer ist demnach ein Kunstgriff, mit dem er den Übergang von der unverhältnismäßigen Beteiligung des Egos zur allgemeinen sozialen Besorgnis vorantreibt. Vollkommen ist ein solches Mittel nicht: Wie gesehen, können Menschen ein egolastiges Interesse am Leiden ihrer Freunde oder selbst an allgemeinen Anliegen nehmen. Doch Smith hat die richtige Idee: Als ein Proto-Utilitarist bewegt er sich von der Sorge des zerbrechlichen Selbst um seine Einstufung hin zu einer stärker allgemeinen und konstruktiven sozialen Sorge.

Aristoteles macht einen ergänzenden Vorschlag: Ihm zufolge vermeiden wir unangebrachten Zorn aufgrund des Statusdenkens, indem wir den Standpunkt der Person einnehmen, die uns verletzt hat. Aristoteles stimmt nicht mit mir darin überein, dass der herkömmliche Zorn unter normativen Gesichtspunkten immer unangebracht ist. Er ist jedoch der Auffassung, dass der Irrtum viel häufiger im „zu viel bzw. zu oft“ besteht als im „zu wenig“. Darum gibt er der tugendhaften Veranlagung eine Bezeichnung, die auf denkbar wenig Zorn hindeutet: „Sanftmut“ (praotēs, 1125b26–29). Das Kennzeichen der praotēs sind triftige Gründe: Der sanftmütige Mensch ist einer, „der unaufgeregt ist und sich nicht vom Affekt fortreißen lässt, sondern so zürnt, wie es die Überlegung vorschreibt“ (1125b33–35). Er fürchtet auch nicht, deswegen Missfallen zu erregen: „Er dürfte aber eher in Richtung auf den Mangel fehlgehen, da der Sanftmütige nicht rachsüchtig ist, sondern zum teilnehmenden Verstehen (suggnōmē) neigt“ (1126a1–3).93

Aristoteles sagt demnach, dass eine Person, die die Dinge vom Standpunkt anderer aus betrachtet und deren Erfahrung nachvollziehen kann, wahrscheinlich keinen Drang nach Vergeltung verspüren wird. Worin besteht die Verbindung zwischen diesen Annahmen? Zunächst einmal kann ein mentaler Perspektivenwechsel der beschriebenen Art manchen Trugschluss bezüglich der Schuld beseitigen: Wir könnten erkennen, dass die Person gedankenlos gehandelt hat oder auch einfach nur einem Irrtum unterlegen ist, statt dass sie sich ganz schuldhaft verhielt.94 Wir könnten vielleicht auch mildernde Umstände anerkennen wie etwa Nötigung diverser Art oder den Druck gegensätzlicher Verpflichtungen. Solche Entdeckungen könnten verhindern, dass Zorn überhaupt erst entsteht. Dieser Punkt knüpft an Aristoteles’ Feststellung über triftige Gründe an, wonach uns teilnehmendes Denken dabei hilft, herauszufinden, welche Gründe gut oder nicht so gut und wie stark sie wirklich sind.

Doch auch wenn sich die Fakten, auf denen der Zorn beruht, als zutreffend herausstellen, lässt sich den zwei Denkfehlern, die wir bei ihm ausgemacht haben, dadurch begegnen oder entgegenwirken, dass wir uns die Zeit nehmen, die Dinge vom Standpunkt des anderen aus zu betrachten. Erstens veranlasst es uns, gründlich über die Vergeltung nachzudenken: Was lässt sich mit ihr erreichen und was nicht? Die Beschäftigung mit der von Vergeltungsmaßnahmen getroffenen anderen Person stellt uns vor die Frage, ob damit tatsächlich irgendjemandem irgendwie genützt ist, und es könnte gut sein, dass uns der Irrtum in dieser gängigen Form von magischem Denken aufzugehen beginnt. Zweitens wirkt die veränderte Perspektive auch der narzisstischen Neigung entgegen, sich auf den eigenen Status zu konzentrieren, und fördert so den Übergang. Teilnahme und Verständnis lenken den Zorn in eine Richtung, in der sein Fokus zu gleichen Teilen auf dem Schaden wie auf dem Schadensausgleich liegt, statt auf der Herabsetzung in ihrer Verbindung zur Rache. Vergeltung wird enorm erleichtert durch eine Geisteshaltung, in der die andere Person ein bloßes Hemmnis für den eigenen Status darstellt, ein reines Ding. Das teilnehmende Verstehen lenkt das Denken immer schon in die Richtung des allgemeinen sozialen Wohls.

Und während wir uns darauf zubewegen, stellen wir vielleicht fest, dass es uns das teilnehmende Verstehen enorm erleichtert, dorthin zu gelangen. Wer seine Widersacher verstehen kann, ist mit viel größerer Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung von Projekten imstande, in die sie auf konstruktive Weise einbezogen werden – dieses Thema werde ich in Kapitel 7 in Bezug auf die Laufbahn Nelson Mandelas erörtern.

Aristoteles’ andere wertvolle Einsicht betrifft die Bedeutung eines heiteren und verspielten Gemüts. „Sanftmütig ist man“, bemerkt er in der Rhetorik, wenn „man sich in einer dem Zorn gegenteiligen Stimmung [befindet], wie z.B. beim Spielen und Scherzen, bei einem Fest, an einem Glückstag, bei Erfolg, bei der Befriedigung eines Bedürfnisses, überhaupt im Zustand der Schmerzlosigkeit, im Gefühl der Freude ohne Selbstüberhebung und in berechtigter Erwartung der Zukunft.“95

Diese Äußerungen werden nicht erläutert, doch lassen Sie uns näher auf sie eingehen. Warum sollten Menschen in den beschriebenen Stimmungen und Zuständen weniger zu unangebrachtem Zorn neigen?96 Sie alle tragen dazu bei, dass die narzisstische Verletzlichkeit an Gewicht verliert. Wie ich bereits angedeutet habe, verfallen Menschen häufig dem Zorn und klammern sich an Rachefantasien, um aus einem unerträglichen Zustand der Verletzlichkeit und Hilflosigkeit auszubrechen. Menschen aber, die sich glücklich oder erfolgreich oder befriedigt fühlen, werden sich von einem Rückschlag wahrscheinlich nicht in erschreckende Hilflosigkeit versetzen lassen. Das gilt ähnlich auch für jene, die frei von Leid und Schmerz sind oder ihren Genuss an etwas Erfreulichem und Unschädlichem finden. (Erinnern wir uns an Kings Sorge, dass die Verzweiflung in gewaltsame Vergeltung münden würde.) Wenn jemand mit „berechtigter Erwartung“ in die Zukunft blickt – womit Aristoteles offenbar die für eine respektable und gerechte Person bezeichnende Erwartung oder Hoffnung meint (also nicht eine Hoffnung darauf, rücksichtslos über andere hinweggehen zu können) –, ist er oder sie weniger anfällig für Vergeltungswünsche oder für Konkurrenzangst.

Was aber hat es mit dem Spielen und Scherzen auf sich? Wie es scheint, handelt es sich dabei um die obskursten Punkte auf der Liste, die möglicherweise dennoch die meiste Aussagekraft besitzen. Die Frage ist zunächst, was Aristoteles mit „beim Spielen“ (en paidiai) meint. Er kann unmöglich den Wettkampfsport meinen, wo Menschen äußerst anfällig für den Zorn sind. (Diese Anfälligkeit ist ein Grundmerkmal der griechischen Gesellschaft und der griechischen Philosophie, nicht bloß eine moderne Problematik.)97 Paidia aber bedeutet nicht Wettkampf, sondern meint eine Art entspannte und spielerische Beschäftigung, zu der etwa die Kinderspiele (paides) gehören. Indem er sie mit dem Scherzen und Lachen verbindet, gibt uns Aristoteles ein Gefühl dafür, an welche der spielerischen Beschäftigungen er denkt. Dem Ich bietet sich im Spiel – wenn es mit den Dingen herumspielt (und paidia wird häufig den ernsten Angelegenheiten gegenübergestellt) – die Möglichkeit, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen; in einem solchen Zustand ist das Ich nicht so wichtig und Zurücksetzungen spielen eine weniger große Rolle. Spielen ist auch eine Möglichkeit, um Angst und Hilflosigkeit zu bewältigen: Als Kinder lernen wir, potenziell zermürbende Ängste durch schauspielerische Verwandlung und spielerischen Umgang zu bewältigen. Statt andere Menschen für die Minderung unserer eigenen Schrecken einzuspannen, können wir sie beim Spielen, wo wir entspannt und voller Vertrauen in die Welt sind, so sein lassen, wie sie sind. Spielen hilft beim Umgang mit Vergeltungszorn genauso wie mit Statuszorn: Wenn Menschen spielen, ist es weniger wahrscheinlich, dass sie sich starr auf ihre Stellung konzentrieren, und auch weniger wahrscheinlich, dass sie auf unnütze Vergeltungsmaßnahmen angewiesen sind.

Aristoteles ist nicht Donald Winnicott: Er verfügt über keine Theorie des Spielens.98 Doch die Einsicht, über die er verfügt, geht in Winnicotts Richtung: Demnach besteht Spielen aus einer Reihe von Kniffen oder Kunstgriffen, durch die das Ich robust genug wird, um in einer Welt mit anderen leben zu können. Diese Vorstellung lässt sich mit dem Konzept des Übergangs vereinbaren: Denn vernünftige Menschen können wie gesagt den Zorn weglachen. Befindet man sich bereits in einer Gemütsverfassung, in der man bereit ist, sich selbst leichtzunehmen oder sogar über sich zu lachen, ist der Übergang ganz nah.

Was kann, was soll ein normativer Diskurs über den Zorn bezwecken? Wenn wir es bei ihm tatsächlich mit einer eingefleischten Neigung zu tun haben, ein Überbleibsel unserer evolutionären Vorgeschichte – worin besteht dann der mögliche Nutzen dieser Kritik? Meiner Auffassung nach ist es ein dreifacher Nutzen. Erstens können selbst Neigungen, an denen sich nichts ändern lässt, ausgeklammert und so als Grundlage für die öffentliche Politik ausgeschlossen werden. Dementsprechend ermöglicht es uns die Verhaltenspsychologie, die von ihr registrierten Eigenarten des menschlichen Geistes als das zu nehmen, was sie sind – eben bloß Eigenarten –, und über rationalere Möglichkeiten der Politikgestaltung nachzudenken. Wenn wir beispielsweise verstehen, dass Menschen eine Neigung zu der, wie Psychologen sagen, „Verfügbarkeitsheuristik“ haben – das heißt, dass sie gern ein einzelnes hervorstechendes Beispiel heranziehen, um von diesem aus andere Fälle zu beurteilen –, wird uns begreiflich werden, weshalb intuitive Einschätzungen von Risiken möglicherweise durch eine gewisse Art von Kosten-Nutzen-Analyse ausgeglichen werden müssen. Oder, wie ich hinsichtlich des Ekels ausgeführt habe, wenn wir verstehen, dass Menschen stark dazu neigen, andere sich unterzuordnen oder auszuschließen, indem sie ekelhafte Eigenschaften (schlechter Geruch, Tierhaftigkeit) auf diese projizieren, können wir den Gefahren der Stigmatisierung und Subordination in unserer Gesellschaft wachsam begegnen. Damit lehnen wir es ab, dass eine Emotion, deren mangelhafte normative Fundamente bloßgelegt wurden, zur Grundlage öffentlicher Politik gemacht wird.

Zweitens aber scheint es, als sei der Zorn nur bedingt evolutionär und zumindest teilweise kulturell und rollenspezifisch geprägt. Besser gesagt, hat die Kultur Auswirkungen auf die künftige Entwicklung und Äußerung dieser Neigung, sofern es denn eine solche gibt. Kulturübergreifend bestehen erhebliche Unterschiede in der Bewertung des Zorns, wobei das eine Extrem von den Utku gebildet wird, denen die Griechen und Römer ein ganzes Stück näher stehen als die modernen Amerikaner. Dass auch innerhalb einer einzelnen Kultur große Unterschiede bestehen, haben wir am Beispiel der Geschlechter gesehen. Möglich ist zudem, dass manche Subkulturen – die Stoiker, die Anhänger Gandhis – von einem größeren kulturellen Muster abweichen. Angesichts dieser Elastizität können wir es uns zur Aufgabe machen, Kindern beizubringen, dass sie sich an die unserer Auffassung nach guten und rationalen Modelle halten.

Drittens schließlich bietet sich immerhin etwas Spielraum für die eigene Veränderung, sogar bei Erwachsenen. Seneca schildert die geduldige Selbstprüfung, mit der er Nacht für Nacht an seinem Zorn arbeitet. Wenn er auch nicht den vollen Erfolg für sich beanspruchen kann, so macht er doch immerhin Fortschritte. Und womöglich würde mehr Zeit für die Selbstprüfung noch größere Fortschritte erlauben. Nelson Mandela behauptet, er habe während seiner 27-jährigen Inhaftierung eine ganze Menge erreichen können. Zum Glück werden die meisten von uns keine solchen langen Strecken der Einsamkeit und Inaktivität erleben; das heißt aber nicht, dass sich keine Fortschritte erzielen lassen.

Zorn und Vergebung

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