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V Die drei Wege:
Der Übergang
ОглавлениеIch behaupte, kurz gesagt, dass eine Angela, die wirklich zornig ist und danach trachtet, zurückzuschlagen, bald an eine Weggabelung gelangt. Ihr stehen drei Möglichkeiten zur Auswahl. Entweder schlägt sie den Weg ein, den man den Weg des Status nennen könnte, und bringt das Geschehen nur mit sich und ihrer sozialen Stellung in Zusammenhang. Oder sie nimmt den Weg der Vergeltung und stellt sich vor, dass das Leiden des Angreifers die Dinge tatsächlich besser macht, was freilich kein einleuchtender Gedanke ist. Wenn sie vernünftig ist, wird sie nach der Erkundung und Zurückweisung dieser beiden Wege feststellen, dass ihr ein dritter Weg offensteht, der der beste von allen ist: Sie kann sich darauf konzentrieren, das zu tun, was in der Situation sinnvoll und für die weitere Entwicklung tatsächlich hilfreich ist. Dazu könnte durchaus die Bestrafung von T. gehören, allerdings in einem Geist, der auf Besserung bzw. Abschreckung statt auf Vergeltung aus ist.44
Was stimmt eigentlich nicht am Weg des Status? Viele Gesellschaften leisten einem Denken Vorschub, dem zufolge jegliche Verletzung im Grunde genommen der Person gilt und auf ihre relative soziale Stellung zielt. Zum Leben gehöre die ständige Statusangst, und alles, was geschieht, lasse einen in der Rangordnung entweder steigen oder fallen. Die Gesellschaft, wie Aristoteles sie uns geschildert hat, war weitgehend so verfasst, und er sah diese Tendenz äußerst kritisch. Seiner Auffassung nach behindert nämlich die obsessive Ausrichtung auf die Ehre das Streben nach dem eigentlich Guten. Der Irrtum, den der erste Weg beinhaltet, ist weder albern, noch leicht abzutun. Dennoch ist die Neigung, alles auf die eigene Person und den eigenen sozialen Stand zu beziehen, augenscheinlich ziemlich narzisstisch und passt schlecht zu einer Gesellschaft, in der Gegenseitigkeit und Gerechtigkeit wichtige Werte darstellen. Sie verliert aus dem Blick, dass Handlungen moralische Wertigkeit in sich tragen: dass Vergewaltigung aufgrund des Leids, das durch sie zufügt wird, schlimm ist, und nicht etwa aufgrund ihrer demütigenden Wirkung auf die Freunde des Opfers. (Denken wir daran, dass wir über eine reine Statusverletzung reden, nicht über eine, bei der der Status bloß ein nebensächlicher Begleitumstand irgendeiner substanzielleren Sache ist.) Wären unrechtmäßige Verletzungen in erster Linie Herabsetzungen, so ließen sie sich durch die Demütigung des Angreifers korrigieren, und es gibt bestimmt viele Menschen, die dergleichen annehmen. Aber ist dieses Denken nicht ein Ablenkungsmanöver, das uns von der leidvollen und traumatischen Realität des Opfers wegführt, der man sich konstruktiv zuwenden müsste? Ausnahmslos alle Unrechtstaten – Mord, Körperverletzung, Raub – müssen konkret als die Taten behandelt werden, die sie sind, und ihre Opfer (oder die Opferfamilien) brauchen aufbauende Zuwendung. Wahrscheinlich wird nichts davon passieren, wenn man der Meinung ist, dass der Angriff im Ganzen auf den relativen Status zielte statt auf Verletzung und Schmerz.
Eine scheinbare Ausnahme erweist sich als aufschlussreich. Die Diskriminierung aus Rasse- oder Geschlechtergründen wird häufig als eine Verletzung betrachtet, die in Wahrheit eine Herabsetzung darstelle. Daher gibt es eine Neigung zu der Annahme, sie lasse sich durch die Herabminderung des Verletzenden korrigieren. Diese Vorstellung ist jedoch ein falscher Köder. Das Gewollte besteht, wie wir bereits sagten, in der Gleichachtung der Menschenwürde. Das Unrechte an der Diskriminierung besteht in der Leugnung der Gleichheit sowie in den vielen Beeinträchtigungen des Wohls von Menschen und ihrer Chancen. Die Positionen durch Herabsetzung umzukehren, schafft keine Gleichheit. So wird nur eine Ungleichheit durch eine andere ersetzt. Wie wir sehen werden, war Dr. Martin Luther King so klug, die Rassenproblematik nicht auf diese Weise anzugehen.
Der Weg des Status, der das „Zurückzahlen“ einleuchtend und einigermaßen rational erscheinen lässt, ist aus moralischem Blickwinkel also mangelhaft. Er macht aus allen Verletzungen Probleme der relativen Stellung und sorgt so dafür, dass sich die Welt um den Drang verwundbarer Einzelner nach Beherrschung und Kontrolle dreht. Weil dieser Wunsch das zentrale Element des kindlichen Narzissmus ist, verstehe ich ihn als narzisstischen Irrtum, wobei wir diese Bezeichnung auch vernachlässigen und stattdessen einfach von Statusirrtum sprechen können. Schlägt Angela den ersten Weg ein, ergibt ihr Zorn zwar Sinn, aber sie begeht einen (überall anzutreffenden) moralischen Irrtum.
Entscheidet sich Angela hingegen für den zweiten Weg, den Weg der Vergeltung, macht sie sich keine Wertvorstellungen zu eigen, die eng und mangelhaft sind; sie schätzt Dinge, die wirklich schätzenswert sind. Doch sie praktiziert ein magisches Denken, das auf andere Weise normativ anstößig ist, denn wir alle wollen doch uns und die Dinge rational verstehen. Die Vorstellung, dass Vergeltung ein sinnvolles Unternehmen ist und die Verletzung auszugleichen vermag, ist allgegenwärtig und sehr wahrscheinlich evolutionär ererbt. Doch was könnte die Menschen sonst noch veranlassen, sich an sie zu klammern? Ein Faktor ist sicher der Unwille zu trauern oder Hilflosigkeit zu akzeptieren. Die meisten von uns sind hinsichtlich vieler Dinge hilflos, eingeschlossen das Leben und die Sicherheit unserer Lieben. Es fühlt sich viel besser an, einen Vergeltungsplan zu schmieden und uns an seine Ausführung machen zu können (den schlechten Arzt zu verklagen, der Exfrau das Sorgerecht zu entziehen), als den Verlust und den realen Zustand der Hilflosigkeit, in dem uns das Leben zurückgelassen hat, zu akzeptieren.
Vergeltung hat demnach häufig eine psychische Funktion. Wenn Menschen kulturell bedingt der Vorstellung anhängen, dass Vergeltung gut ist, werden sie Befriedigung empfinden, sobald sie ihre Rache bekommen. Diese Befriedigung wird häufig als „Abschluss“ (mit dem Geschehenen) bezeichnet.45 Selbstverständlich aber sollten wir uns von der Tatsache, dass eine kulturelle Unterweisung Denk- und Empfindungsmuster entstehen lässt, aus denen Wirklichkeit wird, nicht dazu bringen lassen, eine Täuschung aufzugreifen – zumal wenn uns das Leben bald von unserem Irrtum abbringen wird. Ein Prozess wegen eines Kunstfehlers lässt den Toten nicht wieder auferstehen, noch bringt eine Strafvereinbarung in einer Scheidungssache die Liebe zurück. In Wahrheit ist es in beiden Fällen so, dass die Bestrebungen, es dem anderen heimzuzahlen, wohl eher dazu angetan sind, das künftige Glück zu gefährden, als es zu befördern. Selbst wenn Menschen nach verübter Vergeltung gegen den Aggressor von Glücksgefühlen überwältigt werden, gibt uns diese Freude keinen Grund, solche sadistischen und böswilligen Präferenzen gutzuheißen oder zur Grundlage gesetzlicher Regeln zu machen.46 Menschen können lernen, an vielen schlimmen Dingen Gefallen zu finden (sei es Rassendiskriminierung, häusliche Gewalt oder Kindesmissbrauch) und sich an vielen törichten Fantasievorstellungen zu erfreuen (etwa an dem Gedanken, dass ihre Katze das Medium für den Geist eines geliebten Ahnen ist). Diese Empfindungen sollten keine Rolle spielen, wenn wir eine normative Bewertung vornehmen.
Wenn Angela auf Vernunft Wert legt, wird sie in der Vergeltung daher bald nur noch wenig Sinn erkennen können. In der Folge wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit den dritten Weg einschlagen und ihr Augenmerk auf das künftige Wohl und seine Gestaltung richten. Dies wird unabhängig davon der Fall sein, ob sie sich auf das konkrete Vergehen samt Täter konzentriert oder ob sie ihr Augenmerk, wie es oft geschieht, auf solche Vergehen insgesamt richtet. Als eine Konsequenz aus der Benutzung des dritten Wegs steht nämlich tendenziell eher das Allgemeine als das Besondere im Fokus der Betrachtungen. Wenn man seine Gedanken auf Rebecca richtet und überlegt, was ihr tatsächlich weiterhelfen wird, gilt die eigene Konzentration naturgemäß nicht nur einer Therapie für sie und der speziellen Abschreckung, Unschädlichmachung und vielleicht Besserung ihres Vergewaltigers, sondern auch der Verhinderung künftiger Vergehen dieser Art, im Hinblick auf sie genauso wie auf andere.
Auch diejenigen, die dem Weg des Status folgen, können zu Verallgemeinerungen gelangen: Denn Menschen können schließlich dazu übergehen, allgemeinen Angelegenheiten Statusgewicht beizulegen. Eine wegen der Vergewaltigung ihres Kindes von statusfokussiertem Zorn erfüllte Person könnte eine Gruppe ins Leben rufen, die zu verhindern sucht, dass Sexualstraftäter in der Nachbarschaft von Familien leben, und sie könnte diese Angelegenheit als Möglichkeit begreifen, den Status von Sexualstraftätern herabzumindern und den von guten Menschen wie sich selbst anzuheben. Worin unterscheidet sich diese symbolische „Herabminderung“ in Vergeltungsabsicht genau von dem, was die Person, die den dritten Weg einschlägt, sich vorstellen und versuchen würde? Die auf den Status fokussierte Person hat es auf die soziale Stellung und auf Herabminderung abgesehen: Darum ist es ihr äußerst wichtig, dass Sexualstraftäter eine Demütigung erleiden und dass sie selbst und ihresgleichen als tugendhaft und gut gelten. Die nicht auf den Status fokussierte Person wird das soziale Wohl im Blick haben und überlegen, was dieses befördert – und das wird sie, um es nochmal zu sagen, zu einer anderen Auffassung von Strafe führen, die vielleicht eine Kombination aus (spezieller wie allgemeiner) Abschreckung und Unschädlichmachen sowie Besserung vorsieht. Das hängt insgesamt davon ab, was den Menschen weiterhilft.47 Es ist klar, dass Karteien für Sexualstraftäter dem Interesse des narzisstischen Zorns dienen. Viel weniger klar ist, dass sie jedem der drei Zwecke des Strafens dienen, dem die nicht auf den Status fokussierte Person den Vorzug gibt. Selbst wenn beide Personen sich allgemeiner Angelegenheiten als Mittel zur Ausführung ihrer in die Zukunft gerichteten Projekte verschreiben, werden sie sie aus einem anderen Geist heraus angehen und sich im Ergebnis sehr wahrscheinlich unterschiedlichen Angelegenheiten zuwenden.
Der dritte Weg, den ich befürworte, scheint „welfaristisch“ oder am Gesamtwohl ausgerichtet zu sein, und das ist er tatsächlich. Das mag manche Leser vor dem Hintergrund meiner an anderen Stellen geäußerten Kritik an gewissen Formen des Utilitarismus überraschen. Doch die Irrtümer, die ich dem Utilitarismus dort unterstellt habe, müssen von der Person, die diesen Weg nimmt, nicht begangen werden: Sie muss nicht die Auffassung vertreten, dass alles Gute mit gleichem Maß messbar ist; sie muss nicht die Grenzen zwischen Personen vernachlässigen; und sie muss nicht bestreiten, dass manches Gute von so viel größerer Bedeutung ist als anderes Gutes, dass es einen besonderen Schutzstatus genießen sollte. Sie kann nämlich Mill und muss nicht Bentham folgen (siehe Kapitel 6). Zudem erwachsen welfaristische Vorstellungen von der richtigen Reaktion auf unrechtes Handeln (die unabhängig vom Utilitarismus bereits von Smith befürwortet und von Butler bekräftigt wurden)48 aus der berechtigten Kritik an einer von Statusbewusstsein und virulenter Vergeltungsmentalität geprägten Kultur. Das Thema Strafe wird uns in Kapitel 6 beschäftigen, und dort beschreibe ich auch die Form von Welfarismus, dem ich beipflichte. Vorerst manifestiert sich die Idee, das soziale Wohl zu befördern, in einer allgemeinen Form als die natürliche Folge aus Angelas rationalen Überlegungen.
Ich sage und vertrete etwas sehr Radikales: Der vom Zorn umfasste Gedanke an Vergeltung oder Heimzahlung ist bei einer vernünftigen und nicht übermäßig ängstlichen und statusfokussierten Person nur ein kurzer Traum, eine Wolke, die bald durch vernünftigere Vorstellungen vom Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft vertrieben wird. Demnach erledigt sich der Zorn (wenn wir ihn so auffassen, dass er innerlich einen Wunsch nach vergeltendem oder ausgleichendem Leiden einschließt) schnell von selbst, da bald auch noch alle übrige Konzentration auf das Bestrafen des Angreifers in einer Reihe von Projekten aufgeht, die auf Besserung nicht nur der Angreifer, sondern auch der Gesellschaft zielen. Die Emotion, die sich mit diesem Ziel verbindet, lässt sich nicht so leicht als Zorn begreifen. Sie erscheint mehr wie eine von Mitgefühl begleitete Hoffnung. Wenn der Zorn sich nicht auf diese Weise von selbst erledigt – und wir alle wissen, dass das in einer Vielzahl von Fällen nicht passiert –, verdanken sich seine Fortdauer und Stärke, wie ich behaupte, zu großen Teilen, vielleicht sogar gänzlich, einem von zwei schädlichen Irrtümern: entweder einer fruchtlosen Konzentration auf magische Vorstellungen von Vergeltung oder einer unterschwelligen Besessenheit von dem relativen Status, die allein der herkömmlich verstandenen Vergeltung tatsächlich Sinn gibt.
Auf einen Satz gebracht, lautet meine radikale Behauptung also: Wenn Zorn Sinn ergibt, ist er unter normativem Aspekt problematisch (weil eng am Status ausgerichtet); wenn er unter normativem Aspekt akzeptabel ist (weil auf die Verletzung gerichtet), ergibt er nicht wirklich Sinn und stellt auf diese Weise ein normatives Problem dar. Eine rational überlegende Person, die sich das klar macht, lacht bald über sich und ihren Zorn und lässt ihn verrauchen. Fortan bezeichne ich diese gesunde49 Hinwendung zu einem auf das künftige Wohl gerichteten Denken und das entsprechende Ablassen vom Zorn zugunsten einer von Mitgefühl begleiteten Hoffnung als den Übergang.
Ich habe den Übergang im Hinblick auf die Verhältnisse zwischen Personen entwickelt, und diese Fälle bleiben der näheren Untersuchung in den Kapiteln 4 und 5 vorbehalten, wo ich Verrat und Verletzung in engen Beziehungen und im mittleren Bereich erörtere. Lassen Sie uns jedoch zur weiteren Klärung dessen, was ich mit dem Übergang meine, einen Fall in die Betrachtung einbeziehen, in dem er eine politische Form annimmt. Denn häufig dachte man (auch ich in zahlreichen früheren Arbeiten), dass der Zorn einen wesentlichen Antrieb dafür liefert, an der Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit zu arbeiten. Lassen Sie uns also genau einen Fall sorgfältig unter die Lupe nehmen, und zwar die Abfolge von Emotionen in Martin Luther Kings Rede „Ich habe einen Traum“.50 King setzt in der Tat mit einer aristotelischen Erweckung von Zorn ein: Er verweist auf die unrechtmäßigen Verletzungen des Rassismus, die einen Verstoß gegen die impliziten Gleichberechtigungsversprechen der Nation darstellen. Hundert Jahre nach der Proklamation der Sklavenbefreiung „ist das Leben des Negers immer noch in den Fesseln der Rassentrennung und den Ketten der Diskriminierung gefangen“.
Kings nächster Schritt ist bezeichnend: Denn statt die weißen Amerikaner zu verteufeln oder ihr Verhalten in einer Weise zu schildern, die leicht mörderischen Zorn hervorrufen könnte, vergleicht er sie mit Menschen, die einer finanziellen Verpflichtung nicht nachgekommen sind: „Amerika hat den Negern einen faulen Scheck übergeben, einen Scheck, der mit dem Vermerk ‚nicht gedeckt‘ zurückgekommen ist“. Damit beginnt der Übergang: Denn es geht nunmehr darum, auf eine nicht vergeltende oder rachsüchtige Weise vorauszudenken: Die grundlegende Frage ist nicht, wie die Weißen gedemütigt werden können, sondern wie sich ihre Schuld begleichen lässt. Eine Demütigung des Schuldners dürfte, um im Bild der Finanzen zu bleiben, kein leitender Gedanke sein. (In Wahrheit erscheint sie kontraproduktiv: Denn wie soll ein solcher Schuldner in der Lage sein zu zahlen?)
Richtig in Bewegung kommt der Übergang damit, dass King den Fokus auf eine Zukunft legt, in der alle vereint nach Gerechtigkeit streben und Verpflichtungen anerkennen. „Aber wir weigern uns zu glauben, dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, dass die großen Tresorräume der Chancen dieses Landes nicht ausreichend gefüllt sind“. Wieder ist nicht von Peinigung oder Vergeltung die Rede, sondern einzig von der Entschlossenheit, sicherzustellen, dass die Schuld am Ende beglichen wird. King erinnert seine Zuhörer daran, dass die Zeit drängt und die Gefahr eines Umsichgreifens des Zorns besteht: Er weist ein solches Verhalten jedoch im Vorhinein zurück. „Während wir versuchen, unseren rechtmäßigen Platz einzunehmen, dürfen wir uns keiner unrechten Handlungen schuldig machen. Lasst uns nicht den Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen […] Immer wieder müssen wir uns zu jener majestätischen Höhe erheben, auf der wir physischer Gewalt mit der Kraft der Seele entgegentreten“.
Aus dem „Zurückzahlen“ wird bei King also das Zahlen einer Schuld, ein Prozess, der Schwarze und Weiße im Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit zusammenführt. Davon profitieren alle: Viele weiße Menschen erkennen bereits, dass „ihre Freiheit von unserer Freiheit nicht zu lösen ist“.
Als nächstes weist King eine Verzweiflung zurück, die zu Gewalt oder zur Einstellung aller Bemühungen führen könnte. An dieser Stelle nun setzt mit den Worten „Ich habe einen Traum“ der berühmteste Abschnitt der Rede ein. Und natürlich ist dies kein Traum von Peinigung oder ausgleichender Bestrafung, sondern er handelt von Gleichberechtigung, Freiheit und Brüderlichkeit. Zugespitzt formuliert fordert King die Afroamerikaner unter seinen Zuhörern dazu auf, sich einen brüderlichen Bund sogar mit ihren vormaligen Peinigern vorzustellen:
„Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklaven und die Söhne früherer Sklavenhalter miteinander am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.
Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Gerechtigkeit verwandelt. […]
Ich habe einen Traum, dass eines Tages in Alabama mit seinen bösartigen Rassisten, mit seinem Gouverneur, von dessen Lippen Worte wie ‚Intervention‘ und ‚Annullierung der Rassenintegration‘ triefen, dass sich eines Tages genau dort in Alabama kleine schwarze Jungen und Mädchen mit kleinen weißen Jungen und Mädchen als Brüder und Schwestern die Hände schütteln.“
Wir brauchen diese Rede bloß der Rachevision in Dies Irae (Kap. 3) oder der Offenbarung des Johannes gegenüberzustellen, um zu erkennen, wie gravierend King von einem standardmäßigen Entwicklungsverlauf des Zorns in der christlichen Tradition abweicht – auch wenn er einem anderen Strang in derselben Tradition folgt.
Es gibt in dieser Rede zu Beginn tatsächlich Zorn, und dieser Zorn beschwört die Vision von einer Korrektur des Geschehenen herauf, die zu Beginn naturgemäß Vergeltungscharakter annimmt. King aber beeilt sich, aufkommende Rachegedanken zu zerstreuen und Arbeit und Hoffnung an ihre Stelle zu setzen. Denn wie ließe sich Ungerechtigkeit – nach vernünftigen und realen Maßstäben – durch Vergeltung wiedergutmachen? Schmerz und Erniedrigung der Unterdrücker machen die Gepeinigten nicht frei. Dies lässt sich nur durch intelligente und schöpferische Bemühungen um Gerechtigkeit erreichen. Genau das meine ich mit „dem Übergang“: eine Bewegung des Geistes, ein Umdenken, das wir in den folgenden Kapiteln eingehender untersuchen werden.51
Eine weitere Sache ist festzustellen: Wenn der Übergang erst einmal begonnen hat, ist kein Raum mehr für die Vergebung eines Typs, den wir in Kapitel 3 untersuchen werden. Die Vergeltungsmentalität geht häufig mit einem Wunsch einher, die Gegenseite kriechen zu sehen. Die von mir so genannte „transaktionale Vergebung“ fordert eine Aufführung von Reue und Erniedrigung, die selbst Abrechnungsfunktion hat und so einen Typus der Vergeltung darstellen kann. (Häufig ist die Vergeltungsmentalität auch mit einer Fokussierung auf den Status in Form von Erniedrigung und Niedrigkeit verbunden.) Die Mentalität des Übergangs geht hingegen häufig mit einem Wunsch nach Gerechtigkeit und Brüderlichkeit einher. Ihn lamentieren und kriechen zu lassen würde in Bezug auf Gouverneur George Wallace genauso wenig weiterhelfen, als wenn er in der Hölle schmorte: Dergleichen sorgt nicht für Gerechtigkeit, und die gewünschte wiederherstellende Wirkung würde nur im magischen Denken entstehen, das für die erste Phase des Zorns vor dem Übergang kennzeichnend ist. Im Übergang gelangt man zu der Einsicht, dass es eigentlich um Gerechtigkeit und Zusammenarbeit geht. Vergebungsrituale könnten in diesem Zusammenhang als hilfreich angesehen werden, und in Kapitel 7 werden wir entsprechenden Argumentationen begegnen. Doch King hat keine Verwendung für sie: Er will Versöhnung und gemeinsame Anstrengungen. Wir werden auf diese politischen Themen zurückkommen.
Falls die Idee des Übergangs allzu erhaben oder fern scheinen sollte, allzu sehr verbunden mit dem gewissermaßen heiligen King, lassen Sie mich ein schlichteres Beispiel anfügen, das zeigt, wie der Übergang Teil der US-amerikanischen Popkultur geworden und – vielleicht überraschenderweise – in dem Verhalten einer Ikone von „männlichem Mann“ verkörpert ist. In Branded, einer Fernsehproduktion der 1960er-Jahre, spielt Chuck Connors eine klassische Westernfigur namens Jason McCord – mutig, loyal, doch auf Distanz bedacht und allein. In der ersten Folge trifft er in der Wüste auf einen im Sterben liegenden Mann und rettet ihm das Leben, indem er ihm zu trinken gibt und ihn sogar auf seinem eigenen Pferd mitschleppt – nur um von demselben Mann in einer Oase mit der Waffe bedroht und überfallen zu werden. Der betrügerische Colbee nimmt sich McCords Pferd, dem nun nichts anderes bleibt, als zu Fuß durch die Wüste zu laufen, was er sehr wahrscheinlich nicht überleben wird. Colbee erklärt, er sei so zu handeln gezwungen, weil er Frau und zwei Töchter habe, und darum müsse er am Leben bleiben – und rechtzeitig zum Geburtstag seiner Tochter in die Stadt kommen! McCord überlebt und passt, zurück in der Stadt, die Colbee-Familie ab. Ein Freund versucht, ihn zum Zorn aufzustacheln und drängt ihn zur Konfrontation. McCord ist auch wirklich zornig und geht resolut auf Colbee zu, während dessen kleine Töchter mit ihren Reifen um ihn herumtollen. McCord betrachtet die Familie und dann überlegt er sich die Sache; er dreht sich um und geht. Im Laufen sagt er mit schiefem Lächeln über seine Schulter hinweg: „Alles Gute zum Geburtstag, Janie“.
Wir haben es hier mit einer sehr fehlerhaften, doch irgendwie heroischen Gestalt zu tun, die das allgemeine Wohl (in Form des Wohlergehens dieser Familie) dem Zorn vorzieht – nach einer sehr menschlichen Phase des Zorns zu Beginn. McCord ist stärker als sein Zorn, und das ist Teil dessen, was ihn zu einem wahrhaft heroischen Mann macht.52
Bevor wir jedoch weitergehen, müssen wir auf Bischof Joseph Butler zurückkommen, weil wir ihm eine Anregung zu einer guten Aufgabe für den Zorn verdanken, die unbedingt Beachtung verdient. Wenn er ihn auch ziemlich beängstigend findet, so hat der Zorn für Butler dennoch den Wert, dass er unsere Solidarität mit den von Unrecht Betroffenen ausdrückt.53 Ihm zufolge hat der Mensch ein generelles Verlangen nach Bestrafung der Übeltäter. Dieses Verlangen werde stärker empfunden, wenn wir selbst oder Menschen, die uns etwas bedeuten, zu Opfern wurden; doch bis zu einem gewissen Grad sei die Empfindung allgemein. Man könne es nur begrüßen, wenn einem jeden von uns die Gerechtigkeit und die soziale Ordnung zum Anliegen werden; folglich sei der Zorn, mit dem wir auf einen unrechtmäßigen Bruch dieser Ordnung reagieren, äußerst nützlich. Er stärke die Anteilnahme und halte die Menschen in einer nützlichen Art der Solidarität zusammen. Ich werde gleich einige zustimmende Anmerkungen zu dieser Argumentation vortragen, wenn ich die instrumentelle Funktion des Zorns erörtere. Butler behauptet jedoch mehr: Er behauptet, dass der Vergeltungsgedanke selbst und der Zorn, der diesen Gedanken einschließt, normativen Wert haben, insofern sie die Vorstellung von einem allgemeinen menschlichen Anliegen umfassen.
Zunächst einmal sollten wir Butlers empirische Behauptung hinterfragen, wonach der Mensch ein generelles Verlangen nach Täterbestrafung hat, das ihn die Solidarität mit seiner Gattung als Ganzer suchen lässt. Wie bereits gesagt, stellt dieses Verlangen vermutlich eine angeborene Entwicklungstendenz dar. Paul Blooms Untersuchung des Vergeltungsdrangs bei unter Einjährigen stützt Butler jedoch nicht: Wie Bloom feststellt, bindet der Wunsch nach Vergeltung die jungen Menschen nicht an die menschliche Gattung als Ganze. Im Zuge der kindlichen Entwicklung sorgt eine sehr starke Neigung zu eng begrenzter Zuwendung und zur Dämonisierung von Fremden dafür, dass sich das moralische Denken in engen Grenzen und ungleichmäßig entwickelt. Der übergroße Teil der Menschheit bleibt außerhalb des kindlichen Sorgenkreises, und häufig sehen Kinder Fremde als schädlich an und glauben, dass sie Strafe verdienen, allein weil sie Fremde sind.54
Selbst da, wo Butler zuzustimmen ist, bleibt er die Erklärung schuldig, weshalb das Verlangen, dem Übeltäter Schmerz und Leid zuzufügen (in dem er ein wesentliches Element des Zorns sieht und das seinem Verständnis von Bestrafung entspricht), unterstützend auf die Solidarität wirken soll. Man könnte die Auffassung teilen, wonach ein Bruch der sozialen Ordnung schlecht ist, der Drang, andere Menschen vor unrechtmäßigen Verletzungen zu schützen, dagegen gut, ohne dabei an die Idee der Vergeltung zu glauben oder auf magische Weise zu denken, dass Schmerz mit Schmerz zu erwidern etwas bewirkt. Butlers Überlegungen sind vom Statusirrtum frei, den Vergeltungsirrtum meidet er mit ihnen jedoch nicht; tatsächlich vertritt er sogar eine hochgesinnte Form desselben. Die beste Form der Solidarität mit anderen Menschen dürften freilich konstruktive Bemühungen um das Wohl der Menschen sein, im Gegensatz zu Vorhaben, denen zwangsläufig der Zusammenhang fehlt und die darum sämtlich zur Nutzlosigkeit verurteilt sind.
So viel allerdings ist richtig und wichtig: Dem Wohl der Menschen ist damit gedient, wenn Unrechtstaten registriert und Standards der Verantwortlichkeit für sie geschaffen werden. Wahrheit und Verantwortlichkeit befördern das Menschenwohl, indem sie allen bekannt machen, was die Gesellschaft für wichtig erachtet und welche Dinge wir unbedingt schützen wollen. Mit Butler plädiere ich im Falle von Vergehen also für Protest und öffentliche Verurteilung – und daran anschließend für all jene Strategien, die mit belegbarer Wahrscheinlichkeit vor weiteren solcher Unrechtstaten abschrecken. Die Opfer haben das Recht, Anerkennung und Verantwortlichkeit einzufordern, und die Gesellschaften tun recht daran, ihnen diese zu bieten. Ich erörtere diese Dinge in den Kapiteln 6 und 7. Fürs Erste wenden wir uns vielleicht einer Emotion zu, die über das zu verfügen scheint, was Butler vom Zorn wollte, ohne dessen Mängel aufzuweisen.