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III Die Elemente des Zorns

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Was macht den Zorn im Einzelnen aus? Einen guten Ausgangspunkt bildet die Definition von Aristoteles. Obwohl sie sich als zu eng erweisen wird, um alle Fälle des Zorns abzudecken, hilft sie uns, seine Elemente zu analysieren.17 Der Zorn, so heißt es bei Aristoteles, ist „ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen das nicht zusteht, zugefügt wurde“ (Rhetorik, 1378a31–33). Demnach umfasst Zorn

1. die Erfahrung der geringschätzigen Behandlung oder Herabsetzung (oligōria)

2. von uns selbst oder von uns nahestehenden Menschen,

3. die ungerechtfertigter- oder unangebrachterweise zugefügt (mē prosēkontōn) wird,

4. von Schmerz begleitet und

5. mit dem Trachten nach Vergeltung verbunden ist.

Mit der Wiederholung von „offenkundig“ (phainomenes) unterstreicht Aristoteles, dass es für die Emotion maßgeblich darauf ankommt, wie sich die Situation aus dem Blickwinkel der zornigen Person darstellt, und nicht darauf, wie sie wirklich ist – was natürlich anders sein könnte.

Der Zorn ist eine ungewöhnlich komplexe Emotion, weil er sowohl Schmerz als auch Freude einschließt: Aristoteles formuliert knapp, dass die Aussicht auf Vergeltung erfreulich ist. Er verdeutlicht zwar nicht die bestehenden Kausalzusammenhänge, es lässt sich jedoch leicht erkennen, dass der Schmerz von der Verletzung herrühren soll und der Vergeltungsdrang eine irgendwie geartete Reaktion darauf darstellt. Außerdem hat der Zorn zwei Bezugsgegenstände: eine oder mehrere Personen sowie eine Handlung. Nicht aristotelisch gesprochen stellt sich die Sache so dar: Das Zielobjekt des Zorns ist im Regelfall eine Person, diejenige nämlich, die den Schaden zugefügt hat – und das zu Unrecht oder ungerechtfertigt. „Ich bin zornig auf …“ Der Fokus des Zorns aber liegt auf einer Tat, die dem Zielobjekt als unrechtmäßige Schädigung angelastet wird.18

Auch bei der Trauer kann der Fokus auf Verletzungen liegen. Doch während sich die Trauer auf den Verlust oder den Schaden selbst konzentriert und kein Zielobjekt hat (außer wenn es sich um die verlorene Person handelt: „Ich trauere um …“), geht der Zorn von der Tat aus, durch die der Schaden zugefügt wurde, und von der Annahme, dass das Zielobjekt absichtlich so gehandelt hat. Daraufhin wird die betreffende Person dann zornig und richtet ihren Zorn auf das Zielobjekt. Zorn setzt demnach kausales Denken und ein gewisses Verständnis für richtig und falsch voraus.19 Der Schaden kann einer Person zugefügt werden, die daraufhin Zorn empfindet, oder er kann einer anderen Person oder Sache innerhalb ihres Sorgenkreises zugefügt werden.

An Aristoteles’ Definition macht nach heutigem Empfinden am wenigsten der Nachdruck stutzig, mit dem er einerseits auf den Schmerz und andererseits auf den unrechtmäßig verursachten Schaden eingeht. Wie aber löst das Vergehen eines anderen bei der betreffenden Person den Schmerz aus? Nun, vermutlich fasst sie es so auf (oder sie glaubt), dass einer Sache, an der ihr sehr liegt, Schaden zugefügt worden sei. Das, was da Schaden nimmt, muss in der Tat als etwas nicht Unerhebliches betrachtet werden, denn sonst würde sich kein Schmerz einstellen. Dieser Schmerz ist dem in der Trauer empfundenen bis zu einem gewissen Grad nicht unähnlich. Er rekonstruiert den empfundenen Umfang des Schadens. Dennoch ist es in der Regel so, dass sich der Schmerz des Zorns innerlich auch auf das (geglaubte) Vergehen einer anderen Person richtet: Wenn das eigene Kind ermordet wird, fühlt sich der Schmerz einfach anders an, als wenn man es bei einem Unfall verliert. (Aristoteles hat bei vielen Gelegenheiten betont, dass Freude und Schmerz selbst einen intentionalen Gehalt haben: Der Schmerz ist also Schmerz über die Verletzung, die der betroffenen Person [wie sie glaubt] zugefügt wurde. Um diese spezielle Art von Schmerz geht es.)

Mit Blick auf die unrechtmäßige Verletzung ist zu sagen: Wenn uns jemand aus Versehen schädigt, reagieren wir zwar mit Verdruss, aber wir werden nur dann zornig, wenn wir glauben (zu Recht oder zu Unrecht), der Schaden sei uns von einer oder mehreren Personen auf unzulässige oder unrechtmäßige Weise zugefügt worden. Lazarus führt das Beispiel eines Verkäufers an, der eine Kundin unbeachtet lässt, weil er mit Telefonieren beschäftigt ist. Die Kundin wird sich zu Unrecht geringschätzig behandelt fühlen, doch wenn sie erfährt, dass es sich bei dem Telefonat um einen medizinischen Notfall handelte, bei dem es um das Kind des Verkäufers ging, wird sie nicht länger zornig sein, weil sie begreift, dass es legitim war, dem Anruf Priorität einzuräumen.20 Natürlich sind wir nicht immer so vernünftig; doch es kommt immer darauf an, wie wir die Situation verstehen: Zornig sind wir nur dann, wenn wir die Beeinträchtigung als illegitim begreifen. (Dabei muss es sich nicht unbedingt um ein moralisches Unrechtsempfinden handeln, sondern lediglich um irgendeine Art von Unrechtsempfinden.)

Bekanntermaßen geraten Menschen jedoch manchmal in Zorn, wenn ihnen unbelebte Gegenstände, die mutmaßlich nichts Unrechtes tun können, Verdruss bereiten. Von einem solchen Verhalten wusste schon der stoische Philosoph Chrysipp zu berichten, der Menschen erwähnt, die auf ihre Schlüssel gebissen oder gegen ihre Tür getreten haben, wenn sie sich nicht richtig öffnen ließ, oder die einen Stein wegschleuderten, an dem sie sich den Zeh gestoßen hatten, wobei sie die ganze Zeit über „die unmöglichsten Dinge sagten“.21 1988 veröffentlichte das Journal of the American Medical Association einen Artikel über „Wut auf Münzautomaten“: Es sei zu fünfzehn Verletzungen gekommen, darunter drei tödlichen, weil zornige Männer22 gegen Automaten getreten oder an ihnen gerüttelt hätten, die zwar ihr Geld genommen, aber kein Getränk ausgegeben hatten. (Die tödlichen Verletzungen seien von Automaten verursacht worden, die ins Wanken geraten und auf die Männer gestürzt waren und sie dadurch zerquetschten.)23 Sind solche wohlbekannten Reaktionen ein Beleg dafür, dass es Zorn ohne die Vorstellung einer unrechtmäßigen Schädigung gibt? Ich sehe keinen Grund, das zu denken. Wir neigen zu der Ansicht, dass wir von den unbelebten Gegenständen, die unseren Zwecken dienen, mit Recht „Respekt“ und Mitwirkung erwarten können, und in einem solchen Moment reagieren wir, als hätten wir es bei ihnen mit bösen Menschen zu tun, weil sie offensichtlich nicht „ihre Arbeit“ für uns machen. Schnell wird uns klar, dass dies keinen Sinn ergibt – meistens.

Butler zufolge gibt es eine Spielart des Zorns, „plötzlichen Zorn“, der auftreten kann, wenn uns etwas in die Quere kommt oder sich uns widersetzt, und seiner Auffassung nach kommt ein Zorn dieses Typs ohne die Vorstellung eines geschehenen Unrechts aus.24 Ich bezweifle allerdings, dass Butler tatsächlich auf eine eigenständige Art des Zorns gestoßen ist. Plötzlichkeit allein reicht nicht: Denn sobald wir Werturteile tief verinnerlicht haben, geraten wir sehr schnell in Zorn über einen unrechtmäßigen Angriff auf das, was wir lieben. Wenn jemand eine Waffe zieht und auf Ihr Kind richtet, hören Sie deshalb nicht zu denken auf. Es ist auch nicht offensichtlich, dass zornige Menschen sich bewusst darüber sind, dass ein „In-die-Quere-Kommen“ kein wirkliches Unrecht darstellt: Denken Sie an die Münzautomaten. Wir sollten Butler allenfalls zugestehen, dass es vielleicht eine Art unfertigen Zorn gibt, der dem voll entwickelten Kausaldenken vorausliegt und somit noch kein richtiges Urteil über Unrecht darstellt. Kinder beispielsweise geraten in Wut, wenn ihre Bedürfnisse nicht erfüllt werden. Und doch lässt es unser zunehmendes Wissen über die kognitive Reifung junger Kleinkinder plausibel erscheinen, ihnen ein diffuses, noch unfertiges Urteilsvermögen der Form „Ich sollte das eigentlich haben, aber meine Eltern verweigern es mir“ zuzurechnen.25 Im Ganzen also hält Aristoteles’ Beharren auf dem erfahrenen Unrecht stand, abgesehen von ein paar Grenzfällen in Bezug auf die frühe Kindheit.26

Problematischer – zunächst zumindest – ist da schon seine Einschränkung auf „uns selbst oder uns nahestehende Menschen“: Schließlich können wir mit Sicherheit Zorn empfinden, wenn eine Sache oder ein Prinzip, das uns etwas bedeutet, unrechtmäßig attackiert wurde, oder wenn ein Fremder Opfer eines Überfalls wird. Das stimmt zwar, ist aber (so sagt der Aristoteliker) darin begründet, dass hier diese Person oder Sache Eingang in den Sorgenkreis gefunden hat. Anders gesagt: Die Rede von „uns selbst oder uns nahestehenden Menschen“ ist lediglich als Hinweis auf die eudämonistische Struktur zu verstehen, die der Zorn mit anderen Emotionen teilt. Diese Erwiderung trifft anscheinend zu: So wie wir nicht jeden Tod auf der Welt betrauern, sondern nur den unserer Lieben, so geraten wir nicht in jedem Fall eines begangenen Unrechts auf der Welt in Zorn, sondern nur da, wo unsere zentralen Werte berührt werden. Genau wie bei anderen Emotionen, so kann auch hier ein eindrücklicher Vorfall die Reaktion auslösen, indem ein entferntes Objekt in den Sorgenkreis gerückt wird. Wenn wir anstatt Adam Smiths Bericht über ein Erdbeben in China (der Mitgefühl hervorruft) die eindringliche Schilderung eines Genozids in einem fernen Land hören, könnte es sein, dass wir ob der abgeschlachteten Menschen in Zorn geraten, auch wenn sie uns zuvor nichts bedeuteten. Doch Smiths Argument hat Bestand: So lange die Emotion andauert, so lange müssen uns jene Menschen zwangsläufig etwas bedeuten. Wenn umgekehrt die Anteilnahme nachlässt (weil wir etwa von drängenden Anliegen, die uns näher sind, abgelenkt werden), so geschieht dasselbe mit der Emotion.

Noch problematischer ist Aristoteles’ Bezug auf eine „geringschätzige Behandlung“ oder „Herabsetzung“. Diese bringen wir unmittelbar mit den Werten einer Kultur der Ehre in Verbindung, in der Menschen sich ständig gegenseitig einstufen und das zentrale Fehlverhalten tatsächlich in der Herabstufung besteht. Doch wird man sicher nicht abstreiten wollen, dass viele Schädigungen akzeptierte und geschätzte Vorhaben zum Gegenstand haben, ohne dass sie als Statusminderungen gelten müssen. Die auf Aristoteles folgende griechisch-römische Philosophie modifiziert die von ihm angeführte Bedingung, wie ich es selbst bereits getan habe. Seneca definiert den Zorn als bezogen auf eine „unrechtmäßige Schädigung“ und nicht auf eine „geringschätzige Behandlung“.27 Die kanonische stoische Definition spricht von der Überzeugung, es sei einem Unrecht geschehen.28

Hat Aristoteles einfach einen Fehler gemacht? Meiner Ansicht nach ja. Dennoch werde ich argumentieren, dass der Fehler weniger groß ist, als man meinen könnte: Aristoteles hat eine Art des Denkens erfasst, die beim Zorn sehr häufig, jedoch nicht immer anzutreffen ist.

Wenden wir uns zunächst dem Fehler zu: Die Verteidiger von Aristoteles suchen seine Definition in Schutz zu nehmen, indem sie sich einmal mehr auf den Eudämonismus berufen. So zollt Lazarus in seinem Bemühen um eine allgemeine, nicht bloß auf Ehrkulturen zutreffende Begriffsbestimmung der aristotelischen Definition Beifall, weil sie die ganz allgemeine Vorstellung einer Verletzung der von der betreffenden Person geschätzten Vorhaben erfasse.

Lazarus’ Verteidigung ist dürftig. Nicht jede eudämonistische Verletzung (sprich, die Verletzung von etwas, das von dem Akteur als wichtig angesehen wird) schließt eine persönliche Herabsetzung ein. Verletzungen von Anliegen oder Prinzipien sind im Regelfall eudämonistisch, ohne den Gedanken an eine persönliche Herabstufung einzuschließen. Selbst wenn sich der Fokus des Zorns auf die Verletzung eines geliebten Menschen richtet, denkt die aufgebrachte Person für gewöhnlich nicht, dass der Schädiger vorhatte, sie herabzusetzen. Sie empfindet eine eudämonistische Verletzung (das heißt, die Verletzung ist von ihren Werten und Anliegen her von großer Bedeutung), ohne das Gefühl einer persönlichen Herabminderung zu haben. Aristoteles’ Darstellung ist demnach zu eng gefasst.

Das Konzept der Herabsetzung erweist sich unter Erklärungsgesichtspunkten jedoch als fruchtbarer, als man zunächst annehmen könnte. Die Vorstellung, dass Ehrkulturen einer anderen Zeit angehörten oder zumindest an einem anderen Ort angesiedelt seien (wie etwa vermeintlich im Mittleren Osten), mutet in ihrer Selbstgefälligkeit einigermaßen komisch an angesichts der zwanghaften Aufmerksamkeit, die Amerikaner der konkurrierenden gegenseitigen Einstufung schenken, was Status, Geld und dergleichen anbelangt. Selbst die Vorstellung, dass es sich bei „Ehrenmorden“ um ein Produkt bestimmter (nahöstlicher, muslimischer) Kulturen handele, muss überdacht werden. Gewalt in der Partnerschaft kommt in Italien etwas häufiger vor als in Jordanien,29 und man darf wohl sagen, dass männliche Ehre und ihre empfundene Verletzung durch einen Rivalen bei vielen Tötungen von Frauen in zahlreichen Ländern eine Rolle spielen.30 In der von der Psychologin Carol Tavris vorgelegten umfangreichen empirischen Untersuchung des Zorns finden sich überall Belege für „Kränkungen“, „Geringschätzigkeit“, „herablassendes Verhalten“ und eine „Behandlung, als hätte man keine Bedeutung“.31 Die Menschen sind heute wie damals ungemein besorgt um ihr Ansehen, und sie haben eine endlose Bereitschaft, sich von Handlungen, die sie dem Anschein nach darin bedrohen, in Zorn versetzen zu lassen.

Diese Art der empfundenen Herabsetzung werde ich von nun an als Statusverletzung bezeichnen. Allein die Idee einer Statusverletzung schließt bereits die Vorstellung einer Unrechtmäßigkeit ein, denn Statusminderung ist gemeinhin beabsichtigt, wie Aristoteles festhält: Wenn jemand in unbeabsichtigter Weise agiert, empfinde ich das nicht als Herabminderung meines Status. (Erinnern Sie sich an den Verkäufer, der ein dringendes Telefonat zu erledigen hatte.)

Wir sollten den Geltungsbereich von Aristoteles’ Darstellung jedoch erweitern, um die vielen Fälle einbeziehen zu können, in denen Menschen auf eine verunglimpfende oder verletzende Weise auftreten, ohne sich im Klaren darüber zu sein. Wenn die Zielperson eines solchen Verhaltens (der statusbezogenen Abwertung am Arbeitsplatz beispielsweise) mit Statuszorn reagiert, muss sie nicht unbedingt denken, dass ihr Vorgesetzter sie ganz bewusst verletzen wollte. Sie muss möglicherweise allerdings etwas anderes denken: dass die Bemerkung nämlich Teil eines bestimmten Einstellungs- und Verhaltensmusters ist, eines Kurses, den der Vorgesetzte dem Status seiner Angestellten gegenüber eingeschlagen hat und für den er verantwortlich ist.

Der Zorn geht zwar nicht in allen, aber in sehr vielen Fällen auf eine Statusverletzung zurück. Und Statusverletzungen haben eine narzisstische Note: Anstatt das Augenmerk auf die Unrechtmäßigkeit der Handlung an sich zu richten – ein Fokus, der zu einer allgemeineren Besorgnis über unrechtmäßige Handlungen dieser Art führen könnte –, konzentriert sich die vom Statuszorn gepackte Person zwanghaft auf sich selbst und ihre Stellung gegenüber anderen.

Im Zusammenhang mit solchen Verletzungen unterstreichen sowohl Aristoteles als auch Lazarus die Bedeutung der persönlichen Unsicherheit oder Verletzbarkeit: Wir sind in dem Maße anfällig für Zorn, in dem wir in Bezug auf unsere Ziele, die angegriffen wurden, unsicher sind oder keine Kontrolle haben – und zugleich diese Kontrolle erwarten oder wünschen. Der Zorn zielt auf die Wiederherstellung der verlorenen Kontrolle, und häufig erreicht er immerhin ein Trugbild davon.32 In dem Maße, in dem eine Kultur den Umstand begünstigt, dass Menschen in allen möglichen Situationen für Kränkungen und Herabsetzungen anfällig sind, begünstigt sie auch die Entstehung des auf den Status fokussierten Zorns.

Zorn und Vergebung

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