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IV Zorn und Vergeltung
ОглавлениеWelches Ziel hat der Zorn? Die philosophische Tradition stimmt darin überein, dass die Emotion eine doppelte Bewegung umfasst. Diese Doppelbewegung vom zugefügten Schmerz zum Zurückschlagen ist so markant, dass der Zorn in antiken Taxonomien als eine Emotion eingestuft wird, die ein künftiges Wohl im Blick hat, und nicht als eine, die auf ein bestehendes Wehe reagiert – auch wenn die Autoren in ihren umfassenderen Äußerungen anerkennen, dass sie beide Aspekte besitzt. Aristoteles betont, dass die für den Zorn kennzeichnende Vorwärtsbewegung etwas Angenehmes darstellt und dass der Zorn in diesem Sinne konstruktiv sowie mit Hoffnung verbunden ist. Die vorgestellte Vergeltung wird als etwas begriffen, das den Schmerz lindert und den Schaden irgendwie wiedergutmacht.33
Doch wie funktioniert das genau? Wie führt der Schmerz zu jenem Auskeilen oder Zurückschlagen, das wir zumindest in vielen Fällen mit dem Zorn verbinden? Und aus welchem Grund würde jemand, der eine schwere Verletzung erlitten hat, Hoffnung darein setzen, dem Angreifer etwas für ihn Unerfreuliches anzutun? Würden wir den Zorn als eine nicht kognitive Emotion auffassen, gäbe es nichts weiter zu sagen: Genauso funktionieren fest verdrahtete Mechanismen eben. Da wir den Zorn jedoch nicht so auffassen, müssen wir versuchen, dieses Rätsel zu verstehen. Denn ein Rätsel ist es. Dem Täter etwas anzutun bringt keinen Toten wieder zurück, heilt kein gebrochenes Bein und macht keinen sexuellen Missbrauch ungeschehen. Warum also glauben es Menschen dann irgendwie? Oder was genau glauben sie, sodass sich ihrem Vergeltungsplan auch nur etwas Sinn abgewinnen ließe?
Zunächst sollten wir uns lieber vergewissern, ob der philosophischen Tradition auch wirklich darin zuzustimmen ist, dass der Zorn seinem Begriff nach einen Vergeltungswunsch einschließt. Es ist doch recht eindrucksvoll, dass viele erstklassige Denker – von Aristoteles und den Stoikern über Butler und Smith bis zu den neueren empirischen Psychologen wie beispielsweise Lazarus und James Averill – darin übereinstimmen sollten. Sie haben in der Sache lange und hart nachgedacht, und es wäre verwunderlich, wenn ihnen ein offensichtlicher Fehler unterlaufen wäre. Lassen Sie uns trotzdem noch einmal nachdenken. Der Zorn ist nicht die einzige Emotion, die eine Doppelbewegung umfasst. Viele Emotionen umfassen eine rückwärtsgerichtete Bewertung, während sie zugleich mit Handlungstendenzen verbunden sind, die sich auf ein künftiges Ziel richten.
Mitgefühl beispielsweise gilt dem schlimmen Schicksal, das jemand anderen ereilte; es hat jedoch auch eine damit verbundene zukunftsgerichtete Handlungstendenz. Wenn ich mit einem leidenden Menschen mitfühle, stelle ich mir oft vor, ihm zu helfen, und in vielen Fällen tue ich das dann auch. Daniel Batsons Forschungen belegen, dass diese Neigung zu helfendem Verhalten ziemlich stark ausgeprägt ist, wenn die hilfreiche Handlung ohne Weiteres möglich und nicht sonderlich aufwendig ist. Die Verbindung zwischen Mitgefühl und Helfen wird jedoch in der Regel als kontingente und kausale Verbindung betrachtet, nicht als eine konzeptionelle. Die philosophischen Definitionen des Mitgefühls (von Aristoteles und den Stoikern über Smith und Rousseau bis zu Schopenhauer) lassen nicht darauf schließen, dass die Neigung zum Helfen ein fester Bestandteil der Emotion wäre, etwas, ohne das man unmöglich sagen könnte, man zeige Mitgefühl.34 Meiner Auffassung nach dürfte das stimmen: Die Verbindung ist tatsächlich eine kausale und äußere Verbindung, keine begriffliche und innere. Wir können auch dann Mitgefühl für Menschen empfinden, wenn sich nichts für sie tun lässt: für Menschen etwa, die bei einem Hochwasser ertrunken sind, oder für weit entfernte lebende Menschen, bei denen wir keine Möglichkeit sehen, ihnen zu helfen.
Beim Zorn jedoch gilt das in die Zukunft gerichtete Ziel gemeinhin als ein Teil der Emotion, als etwas, ohne das es zwar einen gewissen Schmerz gibt, aber keinen Zorn. (Butler, wie wir bereits wissen, vertritt die Auffassung, der Zorn habe im Kern das Elend unserer Mitmenschen zum Ziel.) Wir müssen zunächst herausfinden, ob das zutrifft – ob es in diesem Fall wirklich eine begriffliche Verbindung gibt, und nicht bloß eine kausale wie in anderen Fällen. Im Anschluss müssen wir ergründen, wie der Schmerz mit der Reaktion des Zurückschlagens genauer zusammenhängt.
Zunächst sollten wir uns klarmachen, worin die Behauptung besteht. Sie besteht nicht darin, dass der Zorn seinem Begriff zufolge einen Wunsch nach gewaltsamer Rache umfasst; und sie besteht auch nicht darin, dass der Zorn den Wunsch umfasst, dem Angreifer in Eigenregie Leid zuzufügen. Denn vielleicht will ich ja nicht selbst in die Rache verwickelt werden: Möglicherweise will ich, dass jemand anderes oder das Recht oder das Leben selbst sie für mich besorgt. Ich will bloß, dass der Täter leidet. Und das Leid kann ziemlich subtil sein. Man könnte sich eine körperliche Verletzung für ihn wünschen oder Seelenpein oder dass er im Ansehen der anderen sinkt. Man könnte sich einfach wünschen, dass der Täter an seiner Zukunft (Ihr untreuer Expartner beispielsweise an seiner neuen Ehe) keine Freude haben wird. Und man kann sich als eine Form der Strafe sogar vorstellen, dass der oder die Betreffende einfach als der schlechte und unterbelichtete Mensch weiterexistieren muss, der er oder sie ist: Genauso stellt Dante sich die Hölle vor. Alles, was ich hier untersuche (und letztlich, mit einer signifikanten Einschränkung, akzeptiere), ist, dass der Zorn seinem Begriff nach den Wunsch einschließt, die Dinge mögen für den Angreifer in irgendeiner Form schlecht ausgehen, sie mögen sich auf eine Weise entwickeln, die sich irgendwie, wie vage auch immer, als eine Vergeltung für das Vergehen betrachten lässt. Die Person bekommt, was sie verdient.
Machen wir uns also daran, die Dinge zu untersuchen, und ziehen wir dafür eine Reihe unterschiedlicher Fälle in Betracht. Lassen Sie uns mit einem grundlegenden Szenario beginnen: Täter T. hat Angelas enge Freundin Rebecca auf dem Gelände der Universität vergewaltigt, an der die beiden Frauen studieren. Angelas Vorstellungen über das Geschehene, den schweren Schaden, den es bedeutet, und die ihm zugrunde liegenden missbräuchlichen Absichten sind richtig und zutreffend: Sie weiß, dass T. in seiner psychischen Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt ist, dass er die Unrechtmäßigkeit seiner Tat erfasst etc. (Ich habe eine Vergewaltigung gewählt und keinen Mord, um Angela mehr Handlungsoptionen und Wunschmöglichkeiten zu lassen, als das normalerweise bei einem Mord der Fall wäre. Und für eine Freundin habe ich mich entschieden, damit Angela einen größeren Spielraum hat, was ihre eigene Positionierung gegenüber dem Angriff und dem Angreifer anbelangt.) Zu den meisten Vergewaltigungen kommt es im Rahmen enger Beziehungen. Dieser Bereich ist aus meiner Sicht jedoch besonders vielschichtig und schließt Fragen des Vertrauens und der Trauer ein, was für Beziehungen mit Fremden nicht gilt. Daher lassen Sie mich den Fall als eine (begrifflich weniger komplizierte) Vergewaltigung durch einen Fremden konzipieren oder jedenfalls nicht als Vergewaltigung im Rahmen einer bestehenden engen Beziehung, die Vertrauen und tiefe Emotionen einschließt.
Fall 1: Angela empfindet Schmerz über Rebeccas Vergewaltigung. Sie fühlt, dass ihrem Sorgenkreis mit dem, was ihr sehr am Herzen liegt, schwerer Schaden zugefügt wurde, und sie glaubt ganz richtig, dass dies unrechtmäßig geschah. Sie macht sich nun daran, den Schaden zu mindern: Sie verbringt Zeit mit Rebecca, bemüht sich nach Kräften, sie bei der Therapie zu unterstützen, und verwendet überhaupt große Energie darauf, die Wunde in Rebeccas Leben verheilen zu lassen – und so die Verletzung ihres eigenen Sorgenkreises zu heilen. Wie es scheint, haben wir es bei Angelas Emotion bislang mit Trauer bzw. Mitgefühl zu tun, und ich denke, den Standardtheorien ist hier zuzustimmen, dass es sich nicht um Zorn handelt, auch wenn der Anlass für die Trauer ein Vergehen ist. Wir sollten festhalten, dass sich Angelas Emotion in diesem Fall in erster Linie auf den Schaden und den Schmerz bezieht, den Rebecca erlitten hat, statt auf die kriminelle Tat an sich, und insoweit scheint ihre Emotion Rebecca zu gelten, nicht dem Vergewaltiger.
Fall 2: Angela empfindet Schmerz über Rebeccas Vergewaltigung. Sie unternimmt all die Dinge, die sie in Fall 1 unternimmt, und zeigt so ihr Mitgefühl. Sie richtet ihr Augenmerk jedoch auch auf die Unrechtmäßigkeit der Tat, und ihr Schmerz umfasst einen speziellen Schmerz, der sich auf diese unrechtmäßige Tat bezieht – und der sich bis zu einem gewissen Grad von ihrem Schmerz über Rebeccas Leid unterscheidet. Dieser hinzukommende Schmerz ruft in ihr den Wunsch wach, auf die Unrechtmäßigkeit zu reagieren. Also bildet sie eine Gruppe zur Unterstützung von Vergewaltigungsopfern und spendet ähnlichen Gruppen Geld. Außerdem engagiert sie sich für eine bessere öffentliche Sicherheit, um Vergewaltigungen zu verhindern, und setzt sich dafür ein, dass dem Problem der sexuellen Gewalt auf dem Gelände ihrer Universität mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. (Nochmals gesagt: Ich abstrahiere von den komplexen Verhältnissen, die für Vergewaltigungen im Rahmen enger Beziehungen, wo Vertrauen und Liebe eine Rolle spielen, speziell kennzeichnend sind.) Sollten wir Angelas Emotion als Zorn bezeichnen, weil sie sich nicht nur auf Rebeccas Schmerz, sondern auch auf die Unrechtmäßigkeit der Tat konzentriert und eine nach außen gerichtete Bewegung umfasst, die so etwas wie eine Richtigstellung des Falschen anstrebt? Dies ist ein interessanter Fall, doch ich denke, dass wir Angelas Emotion normalerweise nicht als Zorn bezeichnen würden. Ich neige dazu, in ihr einen Typus von moralisch gefärbtem Mitgefühl zu sehen – eigentlich nicht viel anders als ein Mitgefühl für einen hungrigen Bekannten, das mich dazu veranlasst, mich für eine bessere Unterstützung aller durch das Sozialsystem einzusetzen. Wie in Fall 1 hat die Emotion nicht den Angreifer zum Zielobjekt; sie zielt auf Rebecca und andere Frauen in Rebeccas Lage. Der Angreifer rückt nur deshalb in den Fokus, weil Angelas Ziel für die Zukunft in der Abwendung solcher und ähnlicher Schäden besteht. Angela hat also einen allgemeinen Nutzen im Sinn (und in Fall 2 taucht zum ersten Mal die utilitaristische Vorstellung von Grenzen des Zorns auf).
Fall 3: Angela empfindet Schmerz etc. wie in den Fällen 1 und 2. Wie in Fall 2 liegt ihr Augenmerk auf der Unrechtmäßigkeit von T.s Tat, und sie setzt sich vielleicht für allgemeine Maßnahmen zur künftigen Verhinderung von Schäden dieser Art ein. Diesmal jedoch konzentriert sie sich auch auf T. Sie sucht den Schaden zu heilen, indem sie dafür sorgt, dass der Angreifer leidet. Weil ihrem Sorgenkreis Schaden zugefügt wurde, will sie, dass T. etwas passiert (ob durch rechtliche oder außerrechtliche Mittel). Hier nun scheint es, als wären wir schließlich beim Zorn angelangt, wie er in der philosophischen Tradition aufgefasst wird: einer nach Vergeltung strebenden und mit Hoffnungen verbundenen Bewegung nach außen, die auf das Leid des Angreifers aus ist, zum Zwecke und als Möglichkeit der Linderung des eigenen Schmerzes oder der Entschädigung dafür.
Die Frage ist nunmehr: warum? Warum würde eine intelligente Person die Ansicht vertreten, dass es ihren eigenen Schmerz lindert oder beendet, wenn dem Angreifer Schmerz zugefügt wird? Es scheint, als sei hier eine Art magisches Denken am Werk. In der Realität wird durch harte Strafen kaum je ein Schaden repariert. Soweit sich das sagen lässt, macht es Rebeccas Lage kein Stück besser, wenn man ihrem Schmerz den von T. hinzufügt. In einem Fernsehinterview nach dem Mord an seinem Vater wurde Michael Jordan gefragt, ob er wollen würde, dass man den Mörder hinrichtet, sollte er je gefasst werden. „Warum? Das würde meinen Vater nicht zurückbringen.“35 Eine so ausgesprochen vernünftige Antwort ist allerdings selten, und vielleicht würde das nur jemand zu denken und auszusprechen wagen, der auf dem Gebiet der Männlichkeit derart tadellose Referenzen vorzuweisen hat wie Jordan.36
Vergeltungsgedanken sind in der Vorstellung der meisten von uns tief verwurzelt. Letztlich gehen sie auf metaphysische Anschauungen von einem kosmischen Gleichgewicht zurück, die sich schwer abschütteln lassen und die möglicherweise Teil unserer evolutionären Ausstattung sind.37 Tatsächlich beruht das erste erhaltene Fragment der westlichen Philosophie – die berühmten Worte des griechischen Denkers Anaximander, die aus dem 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung stammen – auf einer wirkmächtigen Analogie zwischen der Institution der Strafe und dem Wechsel der Jahreszeiten: Von diesen heißt es, sie würden sich gegenseitig „Strafe und Entschädigung zahlen“ für ihre turnusmäßigen Übergriffe, indem das Heiße und Trockene das Kalte und Nasse hervortreibt (nicht sonderlich erfolgreich allerdings in Chicago). Dies ist unsere natürliche Art zu denken, warum auch immer. Viele geschätzte literarische Werke beinhalten entsprechende Auffassungen von „verdienter Strafe“, an denen wir intensives ästhetisches Vergnügen finden.38 Ob das Vergnügen, das wir aus ihnen ziehen, von einem früheren Denken in Vorstellungen eines kosmischen Gleichgewichts herrührt oder ob Erzählungen dieser Art (das ganze Genre der Detektivgeschichte beispielsweise) unseren Hang zu einem solchen Denken nähren und verstärken, lässt sich nicht sagen. Wahrscheinlich trifft beides zu. Unbestritten aber denken wir auf diese Weise und ziehen Vergnügen aus Erzählungen, in denen der Täter leidet, wodurch vermeintlich ein Ausgleich geschaffen wird für die verübte schreckliche Tat. Die Ästhetik kann jedoch genauso in die Irre führen wie unsere evolutionäre Vorgeschichte. Aus unserer Genugtuung folgt nicht, dass solche Sichtweisen auch einleuchtend sind. Es macht Rebeccas Vergewaltigung nicht ungeschehen, wenn T. vergewaltigt wird. Es macht die Toten nicht wieder lebendig, wenn auch ihr Mörder getötet wird.39
Damit kommen wir zu einer Alternative zu dieser Form magischen Denkens, die zunächst vernünftig erscheint. Bei ihr liegt ein Fokus auf der Vorstellung einer Geringschätzung oder Herabminderung der Person.
Fall 4: Angela ist von Schmerz geplagt etc. Sie glaubt, dass T.s schlimme Tat nicht nur ein Vergehen ist, durch das einem Menschen, der ihr am Herzen liegt, schwerer Schaden zugefügt wurde. Es ist auch eine Kränkung oder Abwertung ihrer eigenen Person. Ihr gehen Gedanken durch den Kopf wie: „Dieser Kerl glaubt, die Würde meiner Freundin ungestraft verletzen zu können, und gleichzeitig meint er, dass er mich herumschubsen kann – dass ich einfach nur dasitze, während meine Freundin eine Kränkung erfährt. Dadurch setzt er mich herab und verletzt mich in meiner Selbstachtung.“ Hier kommt die Verbindung zwischen Schmerz und Vergeltung durch die aristotelische Vorstellung zustande, nach der es sich bei der von T. zugefügten eudämonistischen Ego-Verletzung um eine Art Demütigung oder Herabsetzung handelt. Angesichts der Tatsache, dass T. weder Angela noch auch nur Rebecca kennt, erscheint es zwar unplausibel, in T.s Tat eine Herabsetzung von Angelas Person zu sehen, doch Angela fühlt sich durch T.s Schädigung ihrer Freundin in ihrem Ego verletzt und damit in ihrem Status herabgemindert. Dementsprechend glaubt sie, das Gleichgewicht ließe sich wiederherstellen, indem T. dadurch eine Herabminderung erfährt, dass ihm Schmerz zugefügt oder er gar gedemütigt wird.40
Dies ist die Denkweise vieler Kulturen, vergangener und bestehender. In den meisten Hauptsportarten liegt ein Schwergewicht auf der Revanche für eine Verletzung, und Spieler gelten als schwächlich und unmännlich, wenn sie im Rahmen des Erlaubten (und ein wenig darüber hinaus) nicht zurückschlagen. Es ist zwar offensichtlich, dass die Verletzung eines Spielers diejenige eines anderen nicht beseitigt, doch liegt der Fall anders, wenn sich der Fokus statt auf die Verletzung auf die Einstufung und Demütigung richtet: Hier ist es plausibel, den Vergeltungsschlag als eine Aufhebung der Demütigung durch den Erstschlag aufzufassen. Die Geringschätzigkeit im Sinne der Herabminderung erstreckt sich über eine ganze Reihe von Fällen, wenn diese auch nicht alle mit Zorn einhergehen. Es fällt Menschen sehr leicht, gedanklich von einem eudämonistischen Anliegen („Dies ist Teil meines Sorgenkreises mit allem, was mir am Herzen liegt“) zu einem narzisstisch-statusfokussierten Anliegen („Bei diesem geht es nur um mich und meinen Stolz oder meine soziale Stellung“) zu wechseln. In solchen Fällen wird ein Zurückschlagen in Vergeltungsabsicht als symbolische Wiederherstellung des Gleichgewichts von Status, Mannhaftigkeit oder was auch immer aufgefasst.
Jean Hampton, deren Analyse der meinen sehr ähnlich ist, drückt sich so aus: Wenn Menschen sicher sind, werden sie in einer Verletzung keine Herabsetzung sehen; doch fühlen sich Menschen selten so sicher. Insgeheim fürchten sie, dass der Angriff ein wirkliches Defizit an Werten bei ihnen selbst aufgedeckt habe, und sie hoffen, die Abwertung des Angreifers werde beweisen, dass dieser sich vertan habe.41 Meinem Empfinden nach deckt Hamptons Darstellung nicht alle Fälle ab: Deutlicher gesagt, nehmen Menschen ihr öffentliches Ansehen womöglich einfach sehr wichtig, und sie können ganz offensichtlich erkennen, dass es durch Herumgeschubstwerden tatsächlich herabgemindert wurde. Selbst in der von Hampton umfassten Teilmenge der Fälle ist die Furcht, die sie beschreibt, viel plausibler, wenn es sich bei dem Wert, um den sich die Menschen sorgen, um den relativen Status handelt, der leicht beschädigt werden kann, als wenn es sich dabei um irgendeinen inneren Maßstab oder Wert handelt, auf den das nicht zutrifft.
Plötzlich leuchtet der Gedanke an Vergeltung ein und ist nicht mehr bloß magisch. Für jemanden, der in den Kategorien von Herabminderung und Statuseinstufung denkt, ist die Vorstellung, dass Vergeltung den Schaden wiedergutmacht oder aufhebt, nicht nur plausibel, sondern sie entspricht der Wirklichkeit. Das heißt nach dieser Logik: Wenn Angela erfolgreich Vergeltung übt (ob nun auf dem Wege des Rechts oder auf irgendeinem anderen, doch immer mit Blick auf die Statusverletzung), so wird dadurch tatsächlich ein Umschlag herbeigeführt, der die als Herabsetzung verstandene Verletzung aufhebt. Angela trägt den Sieg davon, und der einst mächtige Angreifer schmort leidend im Gefängnis. Sofern das hervorstechende Merkmal von T.s Tat in Angelas Abwertung besteht, sorgt die durch Vergeltung bewirkte Umkehrung wirklich für die Herabsetzung seiner und die (relative) Aufwertung ihrer Person.
Zu beachten ist hierbei, dass diese Vorstellungen nur dann Sinn ergeben, wenn der Fokus rein auf dem relativen Status liegt und nicht auf irgendeiner für sich bestehenden Sache (wie etwa Gesundheit, Sicherheit, körperliche Unversehrtheit oder auch Freundschaft, Liebe, Wohlstand, eine ausfüllende wissenschaftliche Tätigkeit oder eine andere Errungenschaft), die durch die unrechtmäßige Tat gefährdet wurde und die im Übrigen vielleicht etwas ist, das Status verschafft. Die Vergeltung kann diese Dinge weder verschaffen noch zurückbringen. Angela kann nur dann glaubhaft hoffen, durch das Zurückschlagen und das damit einhergehende Leidenlassen des Angreifers einen Umschlag herbeizuführen, wenn sie sich in ihren Überlegungen ausschließlich auf den relativen Status konzentriert. (Demnach müssten Wissenschaftler, die andere, von denen sie kritisiert wurden, gern schlechtmachen und sich davon einen gewissen Nutzen versprechen, rein auf Ansehen und Status gepolt sein. Denn es ist offensichtlich, dass es die eigene Arbeit weder besser noch die Mängel rückgängig macht, die eine andere Person darin gefunden hat, wenn man deren Ruf schädigt.)
Es ist klar, dass Angela in der Verletzung, die sie erlitten hat, keine Herabsetzung sehen muss. Aus diesem Grund ist Aristoteles’ Definition zu eng begrenzt. In Angelas Fall wäre es in der Tat seltsam, wenn sie die Sache so auffassen würde; schließlich ist T. ein Fremder, der von ihrer Verbindung zu Rebecca nichts weiß. Dennoch ist diese Art, eine Verletzung aufzufassen, weitverbreitet und selbst in solchen Fällen häufig anzutreffen, in denen Menschen dies eifrig abstreiten würden.42 Aus diesem Grund ist Aristoteles’ Definition wiederum hilfreich.
An dieser Stelle müssen wir eine Unterscheidung einführen, die wir in späteren Kapiteln brauchen werden. Es gibt einen besonderen Status, den gute politische Institutionen zu Recht sehr wichtig nehmen: die für alle gleiche Menschenwürde. In diesem Sinne lässt sich die Vergewaltigung plausibel als Verletzung eines Würdenträgers betrachten, nicht bloß als Verletzung der körperlichen Integrität. Es ist richtig und wichtig, dass Rechtsinstitutionen diesem Umstand Rechnung tragen, wenn sie sich mit Vergewaltigern und Vergewaltigung befassen. Darauf zu achten, dass allen – von Natur aus und unveräußerlich – die gleiche Würde zukommt, ist jedoch weder eine relative Sache noch eine der Konkurrenz. Was auch immer den Vergewaltiger erwartet, eine Verletzung seiner eigenen Würde sollten wir uns ebenso wenig wünschen, wie wir seiner Verletzung der Würde des Opfers zugestimmt haben. Am wichtigsten ist es, zu verstehen, dass es das Opfer nicht erhebt, wenn man seinen Peiniger in seiner Würde herabsetzt. Würde ist kein Nullsummenspiel; darin unterscheidet sie sich völlig vom relativen Status.43
Nehmen wir nun einmal an, Angela denkt nicht so, sondern stoppt bei Fall 3. Sofern es sich bei ihrer Emotion um Zorn handelt und nicht einfach um eine Kombination aus Trauer und Mitgefühl, wünscht sie dem Angreifer zunächst irgendetwas Schlechtes für die Zukunft und denkt (auf magische Weise), dass die Dinge dadurch wieder ins Lot kommen und der Angriff irgendwie ausgeglichen oder gar aufgehoben wird. So zu denken, ist menschlich. Wenn es ihr jedoch wirklich um Rebecca geht und nicht um ihre eigene Statusverletzung, wird sie wahrscheinlich nur kurz so denken. Magische Fantasievorstellungen von einem Ersatz können eine sehr starke Wirkung entfalten – bei den meisten vernünftigen Leute aber werden sich als kurzlebig erweisen. Angela wird sich von ihnen abwenden und dafür einer anderen Reihe von zukunftsgerichteten Haltungen zuwenden. Sofern sie Rebecca und anderen Frauen in ihrer Lage wirklich helfen möchte, wird sie sich auf die charakteristischen Reaktionen der Fälle 1 und 2 konzentrieren: Sie wird Rebecca dabei helfen, mit ihrem Leben zurechtzukommen, aber auch Hilfegruppen gründen und versuchen, das Problem der Vergewaltigungen auf dem Gelände von Universitäten publik zu machen, sowie die Behörden drängen, einen besseren Umgang damit zu finden.
Eines dieser in die Zukunft gerichteten Projekte kann durchaus die Bestrafung von T. einschließen. Beachten wir jedoch, dass Angela, sofern sie vernünftige und rationale Überlegungen darüber anstellt, wie die Welt für Vergewaltigungsopfer verbessert werden kann, über die Bestrafung von T. ganz anders denken wird als in Fall 4. Dort betrachtete sie die Bestrafung als „Zurückzahlung“ oder Vergeltung – oder konkreter noch als Herabsetzung oder Demütigung von T., die eine Umkehrung der Positionen von ihr und T. herbeiführte: die Frauen (und vor allem sie selbst) oben, die schlechten Männer (und namentlich T.) am Boden. Jetzt wird sie die Bestrafung von T. wahrscheinlich im Licht des künftigen Wohls betrachten, das sich durch die Strafe wirklich erreichen lässt. Die Strafe kann verschiedene Formen annehmen: spezielle Abschreckung, Unschädlichmachen, allgemeine Abschreckung (einschließlich der Abschreckung durch öffentliche Bekundung wichtiger Werte), und vielleicht, stattdessen oder zusätzlich, die Besserung von T. Angelas Streben nach dem künftigen Wohl könnte jedoch auch die Schaffung einer besseren Gesellschaft mit besseren Bildungseinrichtungen und weniger Armut umfassen und damit eine vorgängige Verbrechensabschreckung. All diese Dinge bleiben der Erörterung in Kapitel 6 vorbehalten.