Читать книгу Zorn und Vergebung - Martha Nussbaum - Страница 17

VII Der Zorn Gottes

Оглавление

Wenn der Zorn derart kompromittiert ist, warum ist er dann in der Regel Gott oder Göttern zugeschrieben worden, die doch ein Muster an Vollkommenheit sein sollen? Dazu ist zunächst einmal zu sagen, dass eine solche Zuschreibung keineswegs die Regel war. Der Buddhismus ist zwar nichttheistisch, doch die am meisten vervollkommneten Menschen, die Bodhisattwas, sind frei von Zorn. In Hindu-Texten wird der Zorn als Krankheit dargestellt, die ein frommer Mensch zu vermeiden anstreben sollte.62 Sowohl im epikureischen als auch im stoischen Denken existieren die Götter außerhalb der irrigerweise auf Konkurrenz beruhenden und statusbesessenen Gesellschaften, die zerstörerischen Zorn hervorbringen. So sagt Lukrez von den Göttern, sie bedürften unser nicht, „lassen weder sich beeinflussen durch würdige Opfer noch sich vom Zorn bewegen“.63 In der griechisch-römischen Religion stellen Götter durchaus keine Ideale für Sterbliche dar, sondern sie sind schlicht und einfach Wesen mit Fehlern und übergroßen Kräften. Lukrez sagt also im Wesentlichen, dass ein wahrhaft vollkommenes Wesen nichts anderes wäre als ein ebensolches Mängelwesen mit Überkräften. Diese Idee der Unempfindlichkeit eines Gottes ist die vorherrschende Idee im hellenistischen und nachhellenistischen Denken.64

Tatsächlich findet sich die Vorstellung von einem musterhaften und zugleich zornigen Gott praktisch nur in der jüdisch-christlichen Tradition. Der christliche Autor Laktanz (240–320), Berater von Konstantin, dem ersten christlichen Eroberer, verfasste ein Werk mit dem Titel Vom Zorn Gottes (De ira Dei), in dem er sowohl die Epikureer als auch die Stoiker angreift. Er sagt, es gebe keinen Grund, einen Gott anzubeten, der unsere Liebe und Aufmerksamkeit nicht braucht und der nicht in Zorn gerät, wenn sie ihm entzogen wird. Außerdem, so Laktanz weiter, brauchen wir keinen Gott zu fürchten, der nie in Zorn gerät, und das bedeute das Ende für alle Religion. Solche Argumente setzen nicht bei der epikureischen und stoischen These an, nach der ein vollkommenes Wesen keinen Zorn empfinden würde; sie laufen auf die Behauptung hinaus, dass Religion, wie wir sie kennen, die Vorstellung eines zornigen Gottes erforderlich macht.65

Allerdings ergibt sich aus Schlüsseltexten des Christentums wie des Judentums ein uneinheitliches und kompliziertes Bild in der Frage des Gotteszorns.66 Der jüdische Gott wird überwiegend als ein „eifersüchtiger“ Gott vorgestellt, der in der Aufmerksamkeit und Zuneigung des jüdischen Volks, das noch andere Optionen für seine Anbetung hat, ganz oben stehen will. Die Beziehung wird immer wieder mit einer Ehe verglichen. Es gibt andere Männer, und eine schlechte Gattin wird sich durch Geld und Macht dieser Rivalen von ihrem Ehemann abwerben lassen, weil sie vergisst, ihrem Gatten den alleinigen ersten Platz einzuräumen. Daher will auch Gott den alleinigen ersten Platz im Verhältnis zu den anderen Göttern, die ihm das jüdische Volk abspenstig zu machen versuchen.67 Die Texte sind in der Tat durchsetzt mit ganz gewöhnlichen Vergeltungsgedanken wegen einer Statusverletzung, die Gott entweder von den anderen Göttern oder dem untreuen Volk beigebracht wird, und mit Hinweisen auf die grauenhafte verdiente Strafe, die es bald treffen wird. Über jene anderen Götter und die Gojim, die ihnen folgen, werden zahllose Plagen und Krankheiten kommen, und das untreue Volk wird gepeinigt oder sogar vernichtet werden. Dies alles wird eine Erniedrigung oder Demütigung dieses Volkes oder dieser Völker im Vergleich zu Gott sein.

Wir haben es hier mit dem beim Zorn so häufig vorkommenden statusfokussierten Denken zu tun, allerdings mit dem Unterschied, dass Gott all diese Dinge geschehen lassen kann. (Und beachten wir, dass Gott, weil er Gott ist, durch die Tat eines Menschen nicht wirklich persönlich verletzt werden kann, außer im Hinblick auf den Status. Gott kann nicht ermordet oder gewalttätig bedroht oder vergewaltigt werden. Wenn Gott Zorn empfindet, handelt es sich bei dabei demnach mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um statusfokussierten Zorn.)

Es gibt allerdings Zeiten, in denen Gott sich stärker rein auf die eigentliche Unrechtmäßigkeit der Schadenshandlungen konzentriert – insbesondere, aber nicht nur in den prophetischen Büchern und hauptsächlich in Passagen über die Gier und die schlechte Behandlung Fremder. Diese Verstöße werden als in sich selbst unrecht betrachtet, nicht bloß als Angriffe auf den Status Gottes. Dessen Zorn rührt in solchen Fällen nicht von einer Statusverletzung her. Zornig ist er, weil seine tiefe und eigentliche Sorge dem Tun und Leiden des Menschen gilt. Wenn Gott über die Unrechtstaten der Menschen untereinander in Zorn gerät, so trägt er Laktanz zufolge auf diese Weise Sorge für die Guten und Gerechten und sucht ihre Interessen zu befördern. Laktanz erkennt dabei zwei unterschiedliche Aspekte: Erstens wird der Missetäter durch die auf den Zorn folgende Strafe unschädlich gemacht, was den Weg für die Guten und Gerechten ebnet. Zweitens schreckt die Furcht vor göttlicher Strafe Missetäter ab, was die Welt für die Guten und Gerechten sicherer macht.68

Man kann sehen, dass Laktanz – der hier einen markanten Zug der biblischen Darstellung des göttlichen Zorns richtig zusammenfasst – zu einem Proto-Utilitaristen wird, der die Funktion des Zorns in zukunftsbezogenen, rein auf das Wohl ausgerichteten, welfaristischen Aspekten sieht. Man kann der Aussage zustimmen, dass der Zorn manchmal eine nützliche Abschreckungsmethode ist und dass Strafe durch Unschädlichmachen dem Wohl förderlich sein kann – auch wenn nicht so klar ist, warum es den Zorn braucht statt gut gestalteter Institutionen. In jedem Fall unterscheidet sich dieses Bild vom Zorn Gottes sehr stark von dem auf den Status fokussierten Bild, das Laktanz zuvor zeichnete (bei dem er wiederum andere Bibeltexte korrekt zusammenfasste). Und man kann sehen, dass diese Art von wohlwollendem Zorn wahrscheinlich eher zum Übergang hinführt als die andere Art. Auch wenn Vergeltung aller Art sogar in sogenannten „welfaristischen Zusammenhängen“ ausgemalt wird, so bewegen sich die Texte doch vielfach ziemlich schnell auf eine als friedlich, kooperativ und versöhnt imaginierte Zukunft zu.

Kurz gesagt, weist der Zorn des jüdischen Gottes all die Facetten und Komplexitäten des menschlichen Zorns und all die gleichen Probleme und Perspektiven auf.

Wenn wir uns nun Jesus zuwenden, stehen wir vor dem gleichen großen Problem wie zuvor: Die Texte sind uneinheitlich und in dem Fall liefern sie dramatisch unterschiedliche Bilder von Jesus’ Haltung gegenüber den irrenden Sterblichen. Ohne Frage enthält das Neue Testament viele Texte, in denen furchtbare Vergeltungswünsche ausgesprochen werden. Die Offenbarung des Johannes beispielsweise springt unruhig von Gedanken zur Rechtfertigung der Duldsamen und Sanften zu den grausamsten Fantasien der Vernichtung, die über jene kommen soll, die sich nicht zu der neuen Religion bekennen. Aber wie steht es mit den Evangelien? Seit Langem gilt die Meinung – die von Augustinus im Gottesstaat überzeugend geltend gemacht worden ist –, dass die Emotionen Jesu aufrichtige Emotionen sind, welche die ganze Verletzlichkeit eines sterblichen menschlichen Wesens zeigen, dem Schmerz und Verlust furchtbar nahegehen. Demnach war Jesus kein guter Stoiker. Bei Augustinus stehen allerdings Trauer und Freude im Mittelpunkt, und ein Mensch kann diese Emotionen haben, ohne zu zürnen. Verfällt Jesus nun also in Zorn? Unglücklicherweise ist es so, dass ein Schlüsseltext an genau dieser Stelle einen inhaltlichen Haken enthält. In Matthäus 5,22 spricht Jesus: „Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“. In manchen Manuskripten wurde an dieser Stelle das Wort „wahllos“ (eikei) eingefügt, mit dem Resultat, dass Jesus nur einen unbegründeten Zorn verurteilt.69 Und Jesus gerät zumindest einmal in Zorn, in der bekannten Szene, in der er die Geldwechsler aus dem Tempel wirft. Selbst das aber ist nicht entscheidend.

Eine bemerkenswerte Darstellung dieser Textstelle wird vom Eskimovolk der Utku geboten, das Jean Briggs in Never in Anger untersucht, einer der fesselndsten Arbeiten der beschreibenden Anthropologie im 20. Jahrhundert.70 Die Utku glauben, dass Zorn immer kindisch ist und eine Bedrohung für die intensive Zusammenarbeit darstellt, ohne die eine Gruppe unter widrigen klimatischen Bedingungen nicht überleben kann. Obwohl der Zorn bei Kindern geduldet und sogar mit Nachsicht behandelt wird, gelten sowohl die Erfahrung des Zorns als auch seine äußeren Anzeichen bei Erwachsenen als ganz unangebracht. Briggs suchte nach einer Möglichkeit herauszufinden, ob das Volk die Emotion an sich missbilligte oder nur ihren äußeren Niederschlag; da die Utku gläubige Christen waren, befragte sie sie auch über die Geldwechslerszene. Es war eindeutig, dass sie der Vorfall störte. Als gute Christen fühlten sie sich genötigt, das Verhalten von Jesus gutzuheißen; es passte jedoch nicht zu ihrem Bild von einem guten Erwachsenencharakter. Sie fanden eine geistreiche Lösung. Jesus, so sagte ihr der Utku-Häuptling, schalt die Geldwechsler, allerdings nicht aus wirklichem Zorn: Er habe es „nur einmal“ getan, um sie zu bessern, weil sie „sehr böse, sehr böse“ gewesen seien „und sich weigerten, ihm zuzuhören“.71 Ihr Bild von Jesus als moralisches Ideal machte es ihnen unmöglich, ihm wirklichen Zorn zuzuschreiben – dafür aber erlaubten sie dem idealisierten Jesus beachtlicherweise den Einsatz von zornigem Verhalten als Weckruf.

Hatten die Utku unsere Vorstellung von einem Zorn des Übergangs im Sinn und unterschieden sie ihn vom (üblichen) Zorn? Meiner Ansicht nach ist es wahrscheinlicher, dass sie dachten, Jesus habe eine Vorstellung gegeben, ohne dabei eine Emotion aus der Familie des Zorns zu haben – eine Möglichkeit, die von jenen ergriffen werden kann, die abschrecken wollen, ohne zu riskieren, einen falschen Weg zu nehmen. (Wir werden auf diese Idee in Kapitel 5 näher eingehen.)

Die biblischen Texte sind für Menschen geschrieben, die in der Mehrzahl einfache Botschaften nötig haben. Die Vorstellung von einem zornigen Gott kann in solchen Fällen nicht nur ein nützliches Signal dafür sein, worin das Fehlverhalten liegt, und zugleich eine Abschreckung davor, sondern auch eine nützliche Motivationsquelle, um soziale Probleme zu beheben (also Gott in der Intensität der Besorgnis nachzuahmen). Dennoch ist das Verzerrungspotenzial enorm, wenn Gott und sein Zorn als ein moralisches Ideal für die Menschen betrachtet werden. Daher sind Texte, die einen kurzen Zorn schildern, der in einen konstruktiven Übergang mündet, entschieden vorzuziehen, wie die weise Deutung Jesu durch die Utku.

Zorn und Vergebung

Подняться наверх