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POLITIK

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Politik ist die Organisation des Zusammenlebens der Menschen. Nichts weiter. Und doch so viel mehr. Denn unter menschlichem Leben versteht man ja nicht nur den körperlichen Stoffwechsel, selbst wenn es ohne ihn nicht geht. Genau wie einzelne Individuen den Sinn ihres Lebens suchen, richten die meisten Organisatoren des Zusammenlebens den Zweck der Politik auf ein höheres Ziel hin. Solche nennt man Ideologen.

Die urtümlichste Form der Ideologie ist noch vor der Philosophie die Religion. Sie setzt den Sinn der Politik mit dem Hang hin zu Gott oder Göttern gleich, aber nicht bloß das Streben des Einzelnen, sondern vieler, möglichst aller Mitglieder einer Gemeinschaft. Deren Bekenntnis zur gemeinsamen Religion ist die Einwilligung in das friedliche Zusammenleben. Sie wird in öffentlichen Ritualen beschworen und ständig erneuert. Als wichtige Demonstration dieses Prinzips galt in Österreich früher die katholische Fronleichnamsprozession.

Wer sich dem verweigert, signalisiert, dass er es nicht gut meint mit der Gemeinschaft oder gar Böses gegen sie im Schilde führt.

Skeptisch ist man nicht nur gegen Verweigerer von innen, sondern auch gegenüber dem von außen Kommenden, dem Fremden, dessen Gesinnung man vorerst nicht überprüfen kann. Hier helfen Glaubensbekenntnisse, die sich möglichst stammesübergreifend und überregional mit Gesten und Worten als Erkennungszeichen eignen. Das Kreuzzeichen und das gesprochene Glaubensbekenntnis des Christentums stehen dabei in einer langen Kette von früheren und nachkommenden kultischen Formeln, die den Gleichklang und Gleichschritt der Gläubigen ausdrücken.

Im Islam, dessen Sitten und Gebräuche für das Österreich des 21. Jahrhunderts immer wichtiger werden, hat das Glaubensbekenntnis, die Schahāda, gar bindenden Charakter als Initiationsformel, also als Beitrittserklärung. Wenn sie der bis dahin Ungläubige laut und »in aufrichtiger Absicht« ausspricht, reiht er sich damit gültig in die Schar der Muslime ein. Und dabei geht es vorderhand nicht um eine innerliche Glaubensüberzeugung, sondern um ein Bekenntnis zu einer Gemeinschaft hier auf Erden, also um einen politischen Willensakt. »Confession« statt »Faith«, wie der englische Aufklärer Thomas Hobbes es beschreibt.

Dadurch ist im Lauf der Geschichte ein Bekenntnisdruck entstanden, der sich nach dem Ende der europäischen Religionskriege und dem Aufbruch der Aufklärung, als aus den einzelnen Gemeinschaften die viel komplexere »Gesellschaft« wird, nahtlos auf die neuen nationalen Bekenntnisse überträgt; und danach, ab dem Zeitalter der Moderne (in Österreich mit seinem Brennpunkt Wien ist das erst in den 1880er-Jahren) in Ergebenheitsübungen gegenüber sogenannten politischen »Lagern« oder Parteien gipfelt; samt Grußformeln, Glaubensbekenntnissen, Heiligenverehrung, Pilgerfahrten und Prozessionen. Sie entwickeln ihre eigene Lagermentalität und Parteimoral mit Anhängern, Eiferern und Fanatikern. Mit dem Fanatismus ist der englische Ausdruck »Fanatical Supporter«, abgekürzt »Fan«, eng verwandt. Er braucht längst keine Religion mehr, um sich zu entfalten.

Sofort kristallisieren sich in allen Lagern mehrere Typen von Parteigängern heraus: jene, die zu orthodoxem, also machtkonformem Wohlverhalten tendieren, und solche, die etwas verändern wollen oder zum Rebellentum neigen und ganz grundsätzlich auf der »anderen Seite« stehen. Musterschüler und Ketzer markieren psychologisch erklärbare Facetten menschlichen Naturells, sie sind bei Links wie Rechts zu finden. Die dritte Gruppe ist jene der notorisch Gleichgültigen, der politischen Nullgruppler. Ihre Stunde schlägt in Österreich etwa 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, ironischerweise genau in jener Phase, da die 68er-Bewegung versucht, alle Lebensbereiche zu politisieren. Die Postmoderne (in Österreich wie so vieles verspätet) und die Konsumgesellschaft haben den gesellschaftlichen Druck, sich einer weltanschaulichen Gruppe unter- oder einzuordnen, aufgelöst und ins Gegenteil verkehrt, nämlich den gesellschaftlichen Hang zur Beliebigkeit: Wer etwas meint, ist out, wer an etwas glaubt, ist deppert. Dieser Zustand geht unmittelbar in die sogenannte »Politikverdrossenheit« über.

Wenn wir Heutigen allerdings in die Geschichte der letzten 100 Jahre zurückblicken wollen, müssen wir uns geistig von dieser Politikverweigerung und dem vertrauten Tandelmarkt frei wählbarer Ideologien auf Zeit und täglich wechselnder Weltanschauungen lösen. Denn die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kannte Heroen, Idole, Leitfiguren und Vorbilder, die leidenschaftlich umstritten waren, geliebt und gehasst wurden und zu denen sich Menschen massenhaft bekannten. So richtig aktionsfähig wurden die politischen Führer unter ihnen im Jänner 1907 mit der Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für alle Männer ab 24 Jahren. Bis dahin durfte, abgestuft in »Kurien«, vor allem wählen, wer Geld besaß und Steuern zahlte, sogenannte »Steuerträger«. Deshalb hatten konservative Aristokraten und Großgrundbesitzer auf der einen und liberale Unternehmer und Industrielle auf der anderen Seite das Parlament, den »Reichsrat«, de facto für sich gepachtet.

1907 wurde alles anders. Erst das Prinzip »One man, one vote« lieferte die Grundlage dafür, dass der Wille der Massen des österreichischen Reichsteils im Parlament abgebildet wurde, wenn auch der Reichsrat nicht annähernd die Kompetenzen hatte wie das heutige Parlament in der demokratischen Republik. Die Regierung wurde vom Kaiser berufen und war nur ihm verantwortlich. Im anderen Reichsteil, dem Königreich Ungarn, galt überhaupt bis zum Schluss für den dortigen Reichstag das nach Besitz und Steuerleistung abgestufte Klassenwahlrecht. Im österreichischen Reichsrat bildeten neben den Deutschen auch die anderen Nationalitäten ihre eigenen Fraktionen und vertraten die Interessen von Tschechen, Slowenen, Südslawen (Kroaten und Serben), Polen, Ukrainern (die man damals Ruthenen nannte), Italienern, Rumänen und Juden. Einige von ihnen waren es, die den Reichsrat über weite Strecken handlungsunfähig machten, indem sie sich gegenseitig mit Schimpftiraden, Dauerreden oder bloßer Verweigerung aushebelten. Besonders die tschechischen Abgeordneten erwiesen sich, wenn ihnen etwas nicht passte, als Meister dieser sogenannten »Obstruktionspolitik«. Aber auch die anderen noblen Herren Abgeordneten beschimpften einander aufs Gröbste, wie der 1897 im Publikum sitzende amerikanische Schriftsteller Mark Twain (Stirring Times in Austria) bemerkt und protokolliert: »Schandbube, elender«, »Gassenjungen«, »Judenknecht«, »[…] die Großmutter auf dem Misthaufen erzeugt worden«, »Sie Judas«, »Bordellritter«, »Ostdeutsche Schundsau«, »Halt den Mund, elender Lausbub du«, »Ehrabschneider«, »Haderlump«, »Spitzbube«, »Bordellvater«, »polnischer Hund« …

Damit hier jedoch kein falscher Eindruck entsteht: Die Monarchie hat einige sehr vernünftige und brauchbare Gesetze gebracht, die noch lange nachwirken, so vor allem das Staatsgrundgesetz von 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, das mit einigen Zusätzen bis heute in Österreich Verfassungsrang hat. Darin sind folgende wichtige Grundrechte festgelegt: Freiheit und Freizügigkeit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz, Unverletzlichkeit des Eigentums, Freiheit der Wissenschaft, Religions- und Versammlungsfreiheit, das Briefgeheimnis und die Meinungsfreiheit, die damals Presse- und Gewissensfreiheit genannt wird. Die Habsburgermonarchie war zwar keine Demokratie, aber ein Rechtsstaat.

Mir ist bewusst, dass das jetzt ein kleines Politik-Seminar wird, aber bleiben Sie dran! Es lohnt sich, wenn wir die Herren Karln verstehen wollen. Und die wiederum lassen uns Österreich begreifen – wenn das überhaupt möglich ist. Konzentrieren wir uns auf den österreichischen Reichsteil, den man inoffiziell nach dem Grenzfluss Leitha »Cisleithanien« nannte, der indes so amtlich wie schwammig »Die im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder« hieß, und blicken wir hier wieder auf diejenigen, die dann 1918 das Staatsvolk der jungen Republik bilden würden: den Großteil der deutschsprachigen Österreicher, oder – wie man damals sagte – der Deutschen der Monarchie.

Die bis dahin bedeutenden »Honoratiorenparteien« der wirtschaftsstarken konservativen und liberalen Eliten verloren bei der Reichsratswahl im Mai 1907 an Stimmen und Einfluss, und es traten jene großen drei Richtungen ins parlamentarische Rampenlicht, deren Hauptdarsteller zum Großteil aus der vormals sogenannten »Deutschen Linken« des 19. Jahrhunderts hervorgegangen waren und im jungen 20. Jahrhundert Politik machen sollten: zum einen die deutschnationalen Parteien unter der Führung von Männern wie Karl Hermann Wolf (dem ersten Karl in unserer Sammlung, der vom politischen Selbstzerstörungstrieb seines Vorläufers Georg Ritter von Schönerer profitierte), die vor allem dort viel Zuspruch erhielten, wo die Deutschen der Monarchie in einer Grenz- oder Konfliktsituation mit anderen, meistens slawischen Nationalitäten standen, also in Böhmen, Mähren, Kärnten und der Steiermark; und zum Zweiten in den Städten wie Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck und Brünn mit ihren antiklerikalen Bürgern, Akademikern und Studenten. Zum anderen die Sozialdemokraten, die sensationelle Zweitstärkste wurden. Und zum Dritten die Christlichsozialen, die als stärkste Kraft fast alle Wahlkreise des heutigen Österreich gewannen, darunter auch Wien. Auch wenn sich bei der folgenden Wahl 1911 die Reihenfolge umdrehte und die »Roten« an den christlichen »Schwarzen« (die von ihren Gegnern nach der Farbe der katholischen Priestersoutanen so benamst wurden) vorbeizogen, war der imposante Gründer und Chef-Karl der Schwarzen bis weit über seinen Tod 1910 hinaus eine Identifikationsfigur für seine große Anhängerschaft:

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