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KARL MAY (1842–1912)
Оглавление»Ich werde Dir zeigen wie man scalpirt. Nicht rasch, mit drei Schnitten und einem Rucke, sondern fein langsam, wie man sich die Scalplocke des Feindes auf die Haut des Büffels malt.«
»Gnade! Gnade!«
»Du bist eine Memme. Wimmere fort.«
Starker Tobak im Roman mit dem lieblichen Titel Waldröschen. Karl May, der Desperado unter den Literaten und zugleich erfolgreichste und bestverkaufte deutsche Schriftsteller des 19. und wohl auch des 20. Jahrhunderts, lässt seinen Helden Büffelstirn, den Indianerhäuptling der Miztecas, einen feindlichen französischen Sergeanten bei lebendigem Leib skalpieren und ihm nach den Ohren auch die Nase abschneiden. Die wahrscheinlich grausigste Szene aller May-Romane beschreibt die durchaus abzusehende Reaktion des Traktierten mit den Worten: »Er brüllte nicht mehr, denn das, was er that, die Töne, welche er ausstieß, waren kein Brüllen mehr zu nennen. Es giebt sogar kein Thier, welches im Stande wäre, so fürchterliche, entsetzliche, grauenhafte Laute auszustoßen.«
Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde trug 1884 den verheißungsvollen Untertitel Großer Enthüllungsroman über die Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft und wurde dieser Ankündigung auch in vollem Umfang gerecht, wenn der Autor aus Sachsen, der bekanntlich nichts von all den Abenteuern selbst erlebt hatte, sondern nur aus seiner Fantasie schöpfte, ein paar Seiten nach Skalpierung und Nasenschnitt zwei seiner imaginierten Indianerbrüder wärmstens aufeinandertreffen ließ:
»Schi tische – mein Bruder!«, sagte Bärenherz mit überströmender Liebe.
»Schi nta-ye – mein Bruder!«, antwortete Bärenauge, nun auch seinerseits die Arme um ihn schlingend.
[…] Sie schlangen die Hände ineinander, blickten sich in die Augen und konnten sich nicht sattsehen aneinander. Da endlich drückte Bärenherz den Bruder fest an sich […]
»Dein Angesicht ist schön!«, sagte Bärenherz.
»Und das deinige das Angesicht eines großen Häuptlings.«
»Ich bin nicht Häuptling, ich bin dein Bruder!«
»Und ich bin dein Bruder und dein Diener. Ich habe dich sehr lieb!«
Sie umarmten sich, drückten einander an das Herz und küßten sich. Sie schoben einander von sich ab, um sich wieder anzusehen, zu umarmen und zu küssen.
Sie waren so glücklich, so froh, wie zwei Kinder, zwei Knaben, welche noch nicht Männer sind, und also die Stimme des Herzens sprechen lassen können.
Na servus, meine Herren, denkt sich der Konsument von heute, oder im May’schen Duktus eines verballhornten Westmann-Französisch: Uff, Meschurs! Psychotherapeuten und andere Seelendeuter hatten und haben nach wie vor große Freude an Stellen wie diesen, die den Autor, einen verurteilten Dieb und Betrüger, als gewaltlechzenden Brutalinski und lasziven Homoerotiker erscheinen lassen könnten.
Seinerzeit kam das beim jugendlichen Leser aber nicht so an. Szenen wie diese befruchteten vielmehr das Verhältnis von schwärmerischen Jugendlichen untereinander. »Blutsbrüderschaften« unter Burschen waren keine Seltenheit und kamen ganz ohne homoerotische Tendenzen oder gar homosexuelle Ausformungen aus. Sie erweiterten den überkommenen europäischen Begriff der Ritterlichkeit um eine empfindsame Komponente, die in den modernen Jugendorganisationen nach 1900 ausgelebt wurde, beim »Wandervogel« und anderen »bündischen« Bewegungen, die den Mief des 19. Jahrhunderts abstreifen wollten und hinaus in die Natur wanderten. Die Vorstellung einer heimatlichen »Wildnis« war entscheidend von den Fantasien Karl Mays mitgeprägt.
Wie dem auch sei: Wäre es bei Gewalt und eigentümlicher Romantik geblieben, könnte man May getrost in die Gruppe jener Autoren von Dekadenzromanen einreihen, deren das Fin de siècle so reich war. Schriftsteller wie der populäre Otto Julius Bierbaum oder einige Zeit nach ihm Karl Hans Strobl schickten verkorkste Helden durch morphingeschwängerte Handlungsstränge, von Ausschweifung und Wahnfantasien getriebene Scheiternde. Nicht so Meister May, denn Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind aus ganz anderem Holz: Friedensengel unterwegs! Selbst in dem anfangs zitierten Waldröschen, in dem der grausame, aber »gute« Häuptling Büffelstirn wütet, folgt unmittelbar auf die innige Kussszene der beiden Bärenbrüder die Erklärung des Erzählers: »Man sage nicht, daß die Indianer Wilde sind. Man hat sie zu dem gemacht, was sie scheinen. Sie sind ebenso gute, treue, liebe und ehrliche Menschen, wie alle anderen Leute. Wer sie kennen gelernt hat, der weiß das.«
Wegweisende Worte in einer Zeit, in der das deutsche Kaiserreich gerade in seinen neuen Besitzungen in Übersee schwelgte und in den Kolonialreichen von Briten, Belgiern und Franzosen das Leben von Hottentotten, Zulus und anderen indigenen Völkern allenfalls in klingender Münze für Frondienste einen Gegenwert fand, und als Zehntausenden gesunden indischen Mädchen auf Geheiß der Briten die Daumen amputiert wurden, damit sie durch ihr fleißiges Spinnen nicht länger die englische Textilindustrie gefährdeten …
Mays Abenteuerromane hingegen spielen erst gar nicht in den Kolonien, die Österreich zudem gar nicht hat, sondern zum großen Teil in den USA und im Osmanischen Reich. Als er 1901 für Josef Kürschners Jubelwerk über den von der europäischen Allianz in China niedergeschlagenen Boxeraufstand sehr zum Missfallen des Herausgebers Et in terra pax – und Friede auf Erden als voluminöses Plädoyer gegen Krieg und Kolonialismus ablieferte, war es klar, dass dieser Autor nichts mit Hurrapatriotismus und deutscher Überheblichkeit zu tun hatte, wenn auch die edelsten seiner Romanhelden sich selbst in den entlegensten Winkeln der Welt pfiffigerweise als Deutsche entpuppten – sogar der so weise wie weiße Pseudo-Indianer Klekih-petra, der ein durch und durch edelmütiger Veteran der 1848er-Revolution ist.
Mit Et in terra pax schrieb sich May jedenfalls in das Herz der österreichischen Friedensaktivistin Bertha von Suttner, die ihn fortan als Bruder im Geiste und engen Verbündeten betrachtete. Am 22. März 1912 erfüllte sich Suttners Wunsch. Der ob seiner Flunkereien angefeindete und verbal von seinen Kritikern und Neidern quer durch die Öffentlichkeit geohrfeigte, doch bei seinen Lesern umso populärere Karl May hielt in den Wiener Sofiensälen den wegweisenden Vortrag Empor ins Reich der Edelmenschen. Der 70 Jahre alte Schriftsteller floss regelrecht über vor poetischer Friedenssehnsucht, sprach dynamisch und – trotz deutlichen Sächselns – wohlklingend, erinnerte sich noch Ende der 1980er-Jahre der damals letzte überlebende Zuhörer, der Karl-May-Forscher Franz von Cornaro. »Karl May meinte, was er sagte«, resümierte der 90-jährige Cornaro, der auch Bertha von Suttner im Publikum gesehen hatte.
Eingeladen hatte der Akademische Verband für Literatur und Musik, die Einnahmen sollten dem Männerheim im 20. Wiener Bezirk, Meldemannstraße 27, zugutekommen. Dort wohnte zu dieser Zeit der junge Adolf Hitler, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er unter den Zuhörern war. Belege gibt es dafür aber keine, und selbst wenn, hätte er wahrscheinlich den antirassistischen Friedensideen Karl Mays nicht viel abgewonnen, wenn auch die Fama behauptet, dass später in Hitlers Reichskanzlei sämtliche Bände von Mays Erzählungen gehortet waren. Aber dort wurden bekanntlich auch Mickey-Mouse- und Charlie-Chaplin-Filme vorgeführt und Mendelssohn-Schallplatten gehört. Der Diktator war ein Oberheuchler. Mays Einfluss auf seine Gedankenwelt kann – so er überhaupt vorhanden war – als verschwindend gering angesehen werden.
Für Karl May war es sein letzter öffentlicher Auftritt. Er erkältete sich im unwirtlichen Wien und starb – in die Villa Shatterhand in Radebeul zurückgekehrt – acht Tage nach seinem Vortrag, am 30. März 1912. »Wenn ich nur eines dieser Werke hätte gestalten können, dann hätte ich mehr erreicht!«, meinte seine Friedensfreundin Bertha von Suttner. Beiden gönnte das Schicksal eine Sterbestunde, die sie die Katastrophe der Weltkriege nicht mehr erleben ließ (Suttner starb am 21. Juni 1914, wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges).
Das Lebensbild des Schriftstellers Karl May, der die deutsche und österreichische Jugend des 20. Jahrhunderts so nachhaltig beeinflusst hat, schillert in allen Farben. Der sozial eingestellte, aus tiefstem Weberelend stammende Villenbewohner, ein katholisch inspirierter, protestantisch getaufter Esoteriker, der in seinem Frühwerk sogar die guten Indianer brutal das Skalpmesser schwingen lässt, die dann in späteren Schriften fast ausschließlich zu Edelmenschen mutieren, war ein konservativer, patriotischer Sachse mit einer klaren Vorstellung von oben und unten, doch freiheitsliebend, pazifistisch, gegen Kolonialismus anschreibend, ein leicht anarchistischer Biedermann mit Zuchthausvergangenheit, Weltreisender mit dem Finger auf der Landkarte, Idol für Generationen junger und älterer Menschen. Und ein Mann mit vielen Gegnern: Dass Kirche(n), Sozialdemokratie, Nazis und Kommunisten seine Schriften abwechselnd empfahlen, verpönten und verboten, machte ihren Reiz umso größer und ließ jeden zweiten kleinen Buben des Bürgertums oder der Arbeiterschaft durch den Kara-Ben-Nemsi-Effekt und die Winnetou-Welle selbst zum »edlen Wilden« werden, wenn er als Wandervogel, Pfadfinder oder Roter Falke die Wälder und Wiesen der eigenen Heimat durchstreifte. Wie tat das der Seele wohl, da doch Österreich nie Kolonien in Übersee besessen hatte und sich die Abenteuer mangels realer Möglichkeiten in den Köpfen abspielen mussten!
Das gerade Gegenteil von May war der nächste Herr Karl, der, wiewohl ebenfalls Pazifist, nicht in tröstliche Fernen führte, sondern das triste Hier und Jetzt drastisch in Echtzeit präsentierte: