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KARL RENNER (1870–1950) UND KARL SEITZ (1869–1950)

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Wenig weist in den ersten Lebensjahren des Bauernsohns aus dem südmährischen Ort Untertannowitz auf einen künftigen Staatskanzler hin. Doch immerhin absolviert der Musterschüler Karl Renner das Gymnasium in Nikolsburg (heute Mikulov) mit Auszeichnung, und das, obwohl seine Eltern so wenig besitzen, dass sie sogar ins Armenhaus ziehen müssen. In Wien studiert er Rechtswissenschaften, und sein Förderer, der Nationalökonom Eugen Philippovich, verschafft ihm eine Stelle im Archiv des Reichsrats. Renners Ideale sind die deutsche humanistische Tradition und die Besserung der Situation der Armen, für die er schon aus seiner eigenen Herkunft heraus ein ausgeprägtes Gefühl hat. Er dockt bei der Sozialdemokratischen Partei an. Dabei zeigt sich von Anfang an sein starker Hang zum Pragmatismus, den manche als Opportunismus klassifizieren. Als er 1907 als Abgeordneter in den Reichsrat einzieht, kennt man ihn in der Partei bereits als Publizisten, der sich auf Nationalitätenfragen, das Genossenschaftswesen und auf soziale Reformen spezialisiert hat. Ziele wie Umsturz oder gar Revolution sind ihm fremd.

Trotzdem erkennt der nüchterne, aber intellektuell helle Kopf in der sozialdemokratischen Bewegung so etwas wie eine Heilslehre, deren – wie er sich später ausdrücken wird – »Bethlehem« der Einigungsparteitag in Hainfeld 1889/1890 gewesen sei. Dass die österreichischen Sozialdemokraten zwar wie die Kommunisten den Übergang der Arbeitsmittel in den Besitz der »Arbeiterklasse« fordern, in der Praxis allerdings den Zusammenbruch des Kapitalismus einfach abwarten wollen, macht die spezifische Note des Austromarxismus aus, und diese Zurückhaltung ist nicht zuletzt Männern wie Karl Renner zu verdanken. Radikal linke Sozialisten wie Friedrich Adler (der Sohn des Parteigründers und Mörder des Ministerpräsidenten Stürgkh) kritisieren Renner für diese Weichmacherei.

Aus ganz anderem Holz scheint der zweite rote Karl geschnitzt zu sein. Der niederösterreichische Lehrer Karl Seitz ist SDAP-Parteimitglied der ersten Stunde und im niederösterreichischen Landtag Intimfeind des christlichsozialen Parteichefs Karl Lueger. Der fährt schwere Geschütze gegen Seitz auf und bewirkt diverse Maßregelungen, die ihn und einen anderen roten Bildungsfunktionär namens Otto Glöckel treffen. 1901 zieht der feurige Redner Seitz in den Reichsrat ein. Im Unterschied zu Renner ist er vorerst ein Fan des russischen Bolschewikenführers Lenin. 1917 gelingt es ihm über Kontakte zu schwedischen Sozialisten, einen Freund und Parteigenossen des linken Flügels aus russischer Kriegsgefangenschaft loszueisen, der dort selbst zum »Menschewiken« geworden ist, also zum Verfechter eines sozialrevolutionär-sozialistischen, haarscharf am Kommunismus vorbeischrammenden Gedankenguts: Otto Bauer (1881–1938).

Dieser hochintellektuelle Sohn aus jüdisch-großbürgerlichem Haus und versierte Jurist wird zum Evangelisten des Austromarxismus, eines Sozialismus jenseits des Sowjetkommunismus, zum Großhirn der Sozialdemokratie, aber auch zum »talentiertesten Unglück der Partei«, wie der alte Victor Adler angeblich (si non è vero …) bemerkt haben soll. Warum? Nun, so manche in der Partei sehen wohl die Gefahren der politischen Zündelei, die der sprachgewaltige Charismatiker Otto Bauer, formal in der zweiten Reihe hinter Karl Seitz, betreibt. Seitz, der nach Adlers Tod am 11. November 1918 Parteivorsitzender wird, aber vor allem sein Stellvertreter Bauer sind als Linke ideologische Gegengewichte zum Pragmatiker Karl Renner. In Wahrheit geht Adlers moralische Autorität keineswegs auf seinen Nachfolger Seitz, auch nicht auf Renner, sondern eben auf Otto Bauer über. Warum Bauer dann nicht gleich selbst Vorsitzender wurde? Nun, die definitiv nicht antisemitische Sozialdemokratie wollte aus Rücksicht auf den allgemein obwaltenden Zeitgeist wohl einen jüdischen Parteichef vermeiden … Im Zentralorgan der Partei, der Arbeiter-Zeitung, beschwören Adler und andere wie der Chefredakteur Friedrich Austerlitz für die 120 000 Mitglieder der Partei eine Art sozialistische Parallelwelt herauf, mit viel Pathos in Rede und Schrift.

Otto Bauer ist ein politischer Verbalerotiker, ein »großer Illusionist« wie ihn sein Biograph Ernst Hanisch nennt. Und er ist ein Idealist, bar jedes Zynismus. Sein junger Genosse Franz Olah erinnert sich an einen außerordentlich freundlichen und herzlichen Menschen. Im persönlichen Umgang wirkt Bauer zurückhaltend, ja geradezu schüchtern. In seinen politischen Äußerungen dagegen blüht er regelrecht auf, fantasiert in Reden und Artikeln gerne von der »Stimmung der Massen«, auf die er sich immer dann beruft, wenn es ihm in den Kram passt. Entspricht der allgemeine Trend einmal nicht seiner eigenen Meinung, dann müssen die Massen eben so lange »erzogen« werden, bis sie das »Richtige« glauben. Diesem Prinzip, dem schon die Moralisten der Französischen Revolution gehuldigt haben, folgen Sozialdemokraten und auch Exponenten anderer linker Parteien in Österreich im Wesentlichen bis heute.

Das hat große Wirkung auf die Anhänger der Bewegung, denn im Unterschied zu den bürgerlichen Parteien mit ihren vielfach verhaltensoriginellen, eigenbrötlerischen Spitzenfunktionären gibt bei den Sozialisten die Parteiführung tatsächlich den Takt an. Geschlossenheit – vor allem nach außen – ist Programm. Das übertüncht manch innere Gegensätze und verhindert die Spaltung der Sozialisten in mehrere Parteien, wie das in den 1920er-Jahren in Deutschland passiert. Dafür kommt die österreichische SDAP nie zur vollendeten Kampfkraft, das »marxistische Zentrum«, wie der Sozialphilosoph und kritische wissenschaftliche Begleiter der Sozialdemokratie, Norbert Leser, es beschreibt, hat stumpfe Zähne. Auch zeigt sich bei einigen Roten ein gewisser Hang zum liberalen Demokratismus, vor allem bei jenen Liberalen unter ihnen, die sich nicht den Großdeutschen anschließen wollen und in Österreich keine linksliberale Partei wie etwa die deutsche DDP vorfinden. Das erweitert zwar das Spektrum der SDAP, verwässert aber den Klassenkampf. Die Sozialdemokratie entwickelt somit einen orthodox-marxistischen und einen sozial-reformerischen Flügel.

Trotz – oder wegen – ihres beschworenen Internationalismus schielt die Partei stark nach Deutschland. Sowohl der »rechte« Renner als auch der »linke« Bauer sind – bei allen gesamtösterreichischen Theorien, die sie entwickeln – letztlich ausgesprochene Deutsch-Nationale und wünschen sich dann, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet, den Anschluss an ein deutsches Reich – an ein sozialistisches, wohlgemerkt (nicht das Deutschland Bismarcks, sondern jenes von Liebknecht und Bebel, wie Bauer sagt).

Nach außen hin erklären die Parteigrößen dagegen weiterhin unbeirrt, dass nationale Fragen im Marxismus keine Rolle spielen. »Die Arbeiter haben kein Vaterland«, sagt Marx im Kommunistischen Manifest. Das macht die Sozialdemokraten zwar zu einer Partei, die den übernationalen Gesamtstaat der k. u. k. Monarchie nicht ablehnt; allerdings bekommt man so natürlich keine Stimmen auf dem flachen Land der rustikalen Patrioten und kann die gerade modernen nationalistischen Strömungen der habsburgischen Vielvölker nicht einfangen. Tschechische und polnische Sozialdemokraten spalten sich früh von der SDAP ab.

Und mit dem harschen Antiklerikalismus, dem man ebenfalls huldigt, kommt man bei den katholischen kleinen Leuten auf dem Land erst recht nicht an. So wird die Partei vor allem in den Städten erfolgreich. Während die pragmatischen und wetterwendigen Schwarzen kaum eine geschlossene politische Moral entwickeln, ertrinken die Roten fast in ihrer öffentlich angerührten moralinsauren Suppe aus pathetischen Tönen. Das erweist sich dann in der Republik als fatal, da sie besonders in Wien pragmatische Politik machen, die ihnen die Bürgerlichen wegen ihrer unverdrossenen Kampfrhetorik aber nicht abnehmen und ihrerseits eine harte Gegenpropaganda in Gang setzen.

Im Alltag bindet die SDAP ihre Anhänger eng an sich. Sie neigt dazu, ihre Mandatare anzustellen und ist damit die Erfinderin des Berufspolitikers. Von den Kinderfreunden über die Naturfreunde bis zu den Radfahrern organisiert sie die Genossen und ihre Familien in eigenen Gruppierungen, in einer Gegenwelt zu jenen bürgerlichen Vereinen, die sich den Menschen aus der Arbeiterschaft verschließen. Sie gibt den Arbeitern Selbstbewusstsein und schafft kollektive Identität, eine »Corporate identity«. Das bleibt so bis zur Ausschaltung der Partei 1934. Für die großen sozialen Errungenschaften des Roten Wien, eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, zeichnet unter anderem Karl Seitz als Bürgermeister verantwortlich, für den staatsmännischen Part der Bewegung Karl Renner.

Fehlt nur noch die gute Laune. Hier kommt der nächste Karl ins Spiel – wie Otto Bauer ein Illusionist, aber jenseits aller Parteigrenzen. Er stammt nicht aus Österreich, hat aber bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein Generationen von Österreichern wie Deutschen ein Bild der großen weiten Welt vermittelt, das sich in den Hirnen und Herzen festsetzte. Die Helden seines Universums erziehen mehr junge Menschen als manche Partei. Brutal geht es dort zu, aber auch edelmütig, und wer in den Weiten des Wilden Westens oder in den Tiefen Kurdistans etwas erreichen will, muss Deutscher, möglichst Sachse, sein. Aber auch die kleinen Österreicher kriegen ihre Chance – zumindest in der Fantasie, die er angeregt hat:

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