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BÜHNENSPIELE

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Für die Oper hatte Papa Haidinger ein großes Faible, das er auch mir vererbt hat. Vielleicht liegt das in den Psycho-Genen der alten Wiener? Lästerzungen vergleichen Österreich gerne mit einem Operettenstaat, und ein freches Sudelstückchen der 1970er-Jahre von Otto M. Zykan war gar Staatsoperette betitelt.

Theater soll zu Recht der künstlerischen Freiheit unterliegen und zuweilen nicht mit grellen Farben geizen. Derbheiten inklusive. Immerhin ist Österreich das Land der großen Scheltredner. Beginnend im 17. Jahrhundert mit den kurzweiligen Predigten eines Abraham a Sancta Clara, zieht sich diese Tradition bis in die Gegenwart zu dem schon etwas weniger kompakten Peter Handke (Publikumsbeschimpfung, 1966: »Kriegstreiber«, »Glotzaugen«, »Rotzlecker«, »Untermenschen«, »Gernegroße«, »Gauner«, »Schrumpfgermanen«, »Ohrfeigengesichter«), dem üppigen Spätwerk Thomas Bernhards in den 1970er- und 1980er-Jahren, und den redundanten Bühnenspielen der Trägerin des Literaturnobelpreises 2004, Elfriede Jelinek. Von ihren Fans in Politik und Kulturszene auf den Schild gehoben, sorgten sie für programmierte Skandale, die im Sinne dieser Eliten schöne Publicity und guten Verdienst einbrachten. Gesellschaftlichen Wandel bewirkten sie erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung, als diese Art von Literatur in die Lehrpläne der Schulen Einzug gehalten hat, im Deutschunterricht nicht nur die letzten marginalen Reste des klassischen Kanons aus Goetheschillergrillparzer verdrängte, sondern auch immer mehr mit Geschichte verwechselt wurde und im einschlägigen Unterricht an die Stelle echter Quellenkunde getreten ist. Ein Missverständnis.

Denn selbst der geniale Herr Karl-Monolog (1961) von Carl Merz und Helmut Qualtinger sagt weniger über die breite Palette an tatsächlichen Lebenswelten der 1930er- und 1940er-Jahre aus als vielmehr über den Zustand der österreichischen Gesellschaft der 1960er, die belustigt bis schockiert auf diesen Text reagierte, das ganze Ausmaß seiner Doppelbödigkeit aber kaum begriff. Ganz zu schweigen von künstlerischen Aktionen der 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahre mit immer wiederkehrenden stereotypen Requisiten wie Hitlerbärtchen, SA-Uniformen und Holzpferden von Alfred Hrdlicka über Christoph Schlingensief bis Hubsi Kramar. Ihr Aktionismus verdient Beachtung im Rahmen kulturgeschichtlicher Abhandlungen, ist vielleicht noch aufschlussreich für elitäre Diskussionen seiner Entstehungszeit, bleibt aber für die Analyse der historischen Vorgänge, auf die er sich beziehen will, weitgehend wertlos.

Trotzdem werden wir jetzt für eine ganz schöne Zeit in einem speziellen, großen Theater verweilen, dessen Akteure nämlich tatsächlich Geschichte gemacht haben und noch machen. Seine Bühne misst knapp 840 000 Quadratkilometer, hat mittlerweile achteinhalb Millionen Mitspieler am Ort und ein paar Externisten. Sie geben das Stück eines Landes, das vor 100 Jahren aus einem ramponierten Großreich herausgebrochen wurde und mit einem hungernden Volk inmitten eines kriegsbeschädigten Europa angefangen hat. Heute besteht es aus übergewichtigen Wohlstandsbürgern und ist das zehntreichste Land der Erde. Vor 100 Jahren erlebten nur rund zwei Drittel aller Neugeborenen den 30. Geburtstag; gegenwärtig liegt die statistische Lebenserwartung der Österreicher bei 80,7 Jahren, und sie wäre noch höher, würden sich hierzulande nicht so viele frühzeitig zu Tode saufen.

Das Leib- und Magenstück dieser Bühne ist der Jedermann, eine kleinere Variante des Doktor Faust – ohne Teufelspakt, dafür mit Prass, Völlerei, Wehleidigkeit, Reue und Himmelfahrt. Eine verdächtig österreichische Melange.

Aber auch in anderer Hinsicht ist die Alpenrepublik das Land der Jedermänner und -frauen. Ihre Grenzen sind seit jeher nicht ganz dicht. Jedermann kann hier ein und aus gehen, und gerade deshalb gebiert es neben langweiligen Systemerhaltern auch immer wieder Kreative von Weltrang und zwischendurch auch einmal ideologische Narren. Manche sehen im österreichischen Jedermann des 20. Jahrhunderts einen elastischen Diplomaten, andere einen gesinnungslosen Lumpen; doch sitzt ihm hier wie da stets der Schalk im Nacken. Selbst wenn der Tod ihm winkt, ist die Lage hoffnungslos, aber nicht ernst. Er hat gut lachen, denn er hat’s im Lauf eines Jahrhunderts ganz schön zu etwas gebracht und eines der lebenswertesten Fleckchen dieser Erde geschaffen – eine schier unglaubliche Verwandlung. Wie hat er das nur hingekriegt?

Tja, offenbar waren Inszenierung und Regie doch nicht so schlecht. Obwohl sie etwas schleppend begannen, dann fatale Schwächen entwickelten, sich zwischendurch einmal in die Selbstauslöschung verabschiedeten, um dann zurückzukehren und durchzustarten. Wir werden vor allem jenes Ensemble von Geistern und Gestalten kennenlernen, das Österreich ins 20. Jahrhundert hievte und bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg trug, um dann noch Szenen der letzten Jahrzehnte zu betrachten, die viele von uns selbst erleb(t)en.

Auf der Bühne unseres Welttheaters und hinter seinen Kulissen bewegen sich jede Menge Darsteller, Hauptpersonen und Nebenfiguren, Solisten und Komparsen, Regisseure, Dramaturgen und Strippenzieher, Beleuchter und anderes Bühnenpersonal. Vorhang auf für unsere Österreich-Vorstellung der letzten 100 und mehr Jahre!

Jedermanns Land

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