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KARL LUEGER (1844–1910)

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Seine Freunde nennen ihn den geborenen Volkstribun, seine Gegner charakterisieren ihn als Populisten reinsten Wassers. Vollmundig lässt er bei Wählerversammlungen sein donnerndes Organ hören und verliert dabei die Stimmung in der Menge keinen Moment aus den Augen. Der groß gewachsene Anwalt von der Wieden (heute der 4. Wiener Bezirk) mit dem charakteristischen blonden Haar und Bart (genannt »der schöne Karl«) kommt ursprünglich aus der liberalen Richtung und hat gemeinsam mit Georg Schönerer und dem Wiener Arzt Victor Adler 1882 am »Linzer Programm« mitgeschrieben. Das war ein deutschnationales und vor allem das erste große sozialpolitische Manifest Österreichs.

Da der »Rassenantisemit« Schönerer es aber bald auf scharf Antijüdisch umschrieb, verabschiedeten sich sowohl der Jude Adler als auch der Pragmatiker Karl Lueger aus der gemeinsamen deutschnationalen Bewegung und gründeten jeweils ihren eigenen Laden. Während Adler bald einen Flohzirkus politischer linker Sekten zu bändigen hatte, war es im Fall der christlichsozialen Bewegung Lueger, der sich geschmeidig deren diversen Strömungen anpasste, um 1893 der Gründer und Führer der »Christlichsozialen Partei« zu werden. Christlich nannte sie sich vor allem aus zwei Gründen: Sie richtete sich gegen die globalisierte, liberalkapitalistische Wirtschaftsordnung als deren Hauptrepräsentanten sie wiederum die »Finanzjuden«, also Unternehmer und Bankiers jüdischer Herkunft, bezeichnete, woraus sich der zweite »christliche« Aspekt ergibt. Der katholische Vordenker und Freund Luegers, Karl von Vogelsang (1818–1890), hatte das auf die Formel gebracht: »Antisemitismus ist eigentlich Anticapitalismus.«

Nun war der »schöne Karl« aber ursprünglich weder besonders antisemitisch eingestellt gewesen, noch je als besonders christkatholisch aufgefallen – eher im Gegenteil, er galt als Liberaler, manchen sogar als Linker! Als er aber erkannte, wohin der Zeitgeist in weiten Volksschichten Cisleithaniens, vor allem in der Reichshaupt- und Residenzstadt, wehte, ersann er für sich die ideale ideologische Wiener Melange, um an die Spitze der Macht in seiner Heimatstadt zu klettern: Er verrührte antiliberale und antisemitische mit antiungarischen Elementen, betonte ostentativ den »deutschen Charakter Wiens«, zugleich die Treue zum Kaiserhaus und zur Kirche, und holte als Beiwagenfahrer die größte nationale Minderheit, die Wiener Tschechen, mit ins Boot. Er nützte Wirtshausrunden und mobilisierte bereits vorhandene kleine Bezirkshelden für sich. Damit traf er den Nerv seiner Zeit und seiner Leut’, die ihn 1897 in einem »Lueger-Vaterunser« regelrecht anbeteten: »Vater Lueger, der du wohnst in Wien, gelobet sei dein Name, beschütze unser christliches Volk. Dein Wille geschehe allen christlichen Völkern dieser Erde. Verschaff uns keine Börse, sondern nur christliches Brod[sic!]. Vergieb[sic!] uns allen Schuldnern, die durch jüdische Wucherhände sind betrogen worden. Auch wir wollen ihnen vergeben. Führe uns nicht in Versuchung, eines anderen Sinnes zu werden, sondern erlöse uns von dem Juden-Übel. Amen.«

Im selben Jahr wird Lueger Wiener Bürgermeister, nachdem ihm Kaiser Franz Joseph, der Bedenken gegen den Agitator hegt, mehrmals die Anerkennung verweigert hat. Erst Papst Leo XIII., auf dessen Sozialenzyklika Rerum Novarum sich der Christlichsoziale beruft, erwirkt letztlich beim Kaiser die Ernennung und macht den Weg frei für Luegers bahnbrechende Reformen und Neuerungen für Wien: die Kommunalisierung von Gas- und Elektrizitätsversorgung und der Straßenbahn, die II. Wiener Hochquellenleitung und der Bau von Krankenhäusern, Schulen und sozialen Einrichtungen. Dafür erfindet der schöne schwarze Karl auch das Prinzip der unumschränkten Einparteienherrschaft, die vom Magistratsdirektor bis zur Putzfrau alle städtischen Ämter und Funktionen einheitlich einfärbt. Eine Tradition, die in Wien bis heute fröhliche Urständ’ feiert – freilich unter anderen Vorzeichen …

Der Beginn von Luegers Amtsperiode 1897 ist überhaupt ein Schlüsseljahr: Der Kaiser muss seinen Ministerpräsidenten Badeni auf Druck der Straße entlassen, da dieser seinen Erlass zur deutsch-tschechischen Zweisprachigkeit für Beamte in Böhmen und Mähren nicht durchbringt, was wiederum die Nationalitätenkonflikte zu massenhaften Unruhen auswachsen lässt. Erstmals werden an der Uni Wien Frauen als ordentliche Hörer zugelassen. Die Gründung der Wiener Secession durch rebellische Kreative revolutioniert die Kunst. Die allerersten Autos rollen durch die Straßen. Die ersten Kinos werden eröffnet. Der Mitarbeiter der Wiener Neuen Freien Presse, Theodor Herzl, veröffentlicht sein visionäres Werk Der Judenstaat. Vor allem aber boomt in diesem Jahr die österreichische Wirtschaft.

Hätte es damals schon so schlau-beredte Wirtschaftsforscher wie heute gegeben, hätten sie in Interviews für Hochglanzmagazine und in TV-Shows cool analysiert: »Liebe Leutchen, was wollt ihr denn? Was habt ihr gegen den Kapitalismus? Die Zahlen sind doch gut!« Und tatsächlich steht die Donaumonarchie wirtschaftlich gar nicht so schlecht da. Die Industrialisierung hat endlich gegriffen, von Böhmen zieht sich südwärts ein Gürtel von Fabriken durch Cisleithanien, die Dampfmaschinen qualmen um die Wette. Wien wappnet sich mit einem Bauboom für eine Erweiterung auf prognostizierte vier (!) Millionen Einwohner.

Doch die Sache hat einen Haken, eine österreichische Besonderheit. Denn ein solches Wachstum würde zur vollen Entfaltung eine moderne, liberale Wirtschaftsordnung benötigen. In Österreich haben jedoch die Hochkonservativen das Sagen. Ihnen sitzt der Börsenkrach von 1873 noch tief in den Knochen. Sie wollen keine »internationalen Geschäftemacher« und »Spekulanten«. Die braucht man aber, um die modernen Technologien und Rohstoffe, Erdöl, Elektrizität, zu fördern und einzusetzen und um neue Industrien wie Motorenbau, Chemie, Elektrotechnik einzuführen. Das können nur Großunternehmen bewältigen. Vor 1914 entstehen bereits drei Viertel jener großen Unternehmen, die Österreich durch das 20. Jahrhundert begleiten werden, gut ein Viertel davon mit Investitionen aus dem benachbarten Deutschen Kaiserreich. Das Kapital dafür ist am besten an der Börse zu bekommen, man gründet Aktiengesellschaften. Doch die österreichischen Banken sind vorsichtig, Risikokapital bleibt knapp, AGs werden hoch besteuert.

Die hiesigen Politiker vertrauen dem Markt nicht, viele denken noch in Zünften und Berufsständen des Mittelalters, und so sieht denn auch die Arbeitswelt vor 1914 aus: Es gibt überdurchschnittlich viele Selbstständige im Gewerbe und in den Dienstleistungen. Das reicht von größeren Unternehmern bis zu den vielen kleinen Handwerksmeistern, die als Einmannbetriebe von der Hand in den Mund leben. Beide sind wohl selbstständig, aber der kleine Schuster oder Schneider ist weit vom Glanz des Kapitalismus entfernt. Diese Schere geht knapp vor 1900 weiter auf. Gelingt es einem Meister, aufzusteigen und bis zu 20 Arbeiter zu beschäftigen, kommt er in die gesellschaftliche Nähe der Unternehmer, der »Bourgeoisie«. Bleibt er hingegen kleiner Stückmeister, ist er von einem Lohnarbeiter kaum zu unterscheiden. Dazu kommt das Risiko des täglichen Arbeitslebens. Zwar wird 1897 eine Meisterkrankenkasse für schwere Krankheiten geschaffen, aber eine Pensionsversicherung für Selbstständige wird erst 1958 (!) eingeführt.

Neben dieser bangen Unsicherheit ist da noch etwas, das die kleinen Gewerbetreibenden eint: das Bekenntnis zu bürgerlichen Tugenden. Fleiß, Sparsamkeit, Anständigkeit, saubere Kleidung, Abgrenzung gegen die »Proleten« auf der einen Seite und Opposition zu den kapitalistischen Großunternehmern auf der anderen. Die katholischen unter ihnen streben nach traditioneller gesellschaftlicher Harmonie, die deutschnationalen nach einer idealisierten Volksgemeinschaft. Beide pflegen gerne alte, überkommene Bräuche und organisieren sich in zünftigen Vereinen. Sie wollen eine Politik, die sich an ihren wirtschaftlichen, ständischen Sachbedürfnissen orientiert, und an sonst gar nichts. Versponnene Ideologien liegen ihnen fern. Von der herrschenden Dynastie erwarten sie sich Schutz vor allen irdischen, von der Kirche vor allen jenseitigen Bedrohungen. Was sie neben der Beschädigung ihrer Interessen durch das liberale Großkapital am meisten fürchten, ist der Aufstand der Proleten in den Fabriken, die Revolution, der Klassenkampf. Denn durch ihn würden sie auch noch ihr kleines Eigentum verlieren.

Meine Damen und Herren, darf ich vorstellen: der Mittelstand! Man nennt ihn auch Kleinbürgertum, eingekeilt zwischen Industrie und Arbeiterschaft. Er ist die Hauptzielgruppe christlichsozialer Agitation, und die entfaltet manch Trommelfeuer gegen eine spezielle Gruppe von Menschen. Wer besitzt die großen, räuberischen Firmen und Konzerne? Jüdische Industrielle. Wer führt in der gottlosen roten Arbeiterbewegung das große Wort und hetzt die Proleten gegen Besitz und Ordnung auf? Jüdische Intellektuelle. Bei wem müsst ihr was borgen, wenn ihr krank werdet oder euch auch sonst die Luft ausgeht? Bei jüdischen Banken und Geldverleihern. Wer zieht euch das Geld aus dem Sack, wenn ihr medizinisch behandelt werden oder um euer Recht kämpfen müsst? Jüdische Ärzte und Advokaten. Wer verschandelt das Stadtbild in bestimmten Wiener Bezirken? Orthodoxe Ostjuden aus Galizien. Und wer belügt euch auch noch über die Zustände? Liberale jüdische Journalisten.

Auch wenn nicht in allen diesen Berufen und Funktionen Menschen jüdischer Herkunft tatsächlich so dominant sind, wie die antisemitische Propaganda behauptet, so ist ihre Präsenz ausreichend, um die Judenfeindschaft stark zu schüren. 1914 sind ein Drittel der Wiener Gymnasiasten und ein Viertel der Studenten der Wiener Universität Juden – bei einem Bevölkerungsanteil von unter zehn Prozent. Denn auch arme Juden wissen, dass ihre Kinder nur durch höhere Bildung eine Chance haben, und da ihnen Beamtenkarrieren weitgehend verschlossen bleiben, ergreifen sie freie Berufe. Nach dem Ersten Weltkrieg werden in Wien mehr als 50 Prozent der Rechtsanwälte, Ärzte und Zahnärzte Juden sein, bei Apothekern sind es 33 Prozent.

Das befeuert den Antisemitismus der Christlichsozialen und auch anderer Parteigänger in Stadt und Land, des Greißlers, des Gastwirts oder des Mechanikermeisters. Intellektuelle Argumente sind dabei traditionell nicht willkommen, wie ein legendär gewordener Ausspruch des Wiener Gemüsehändlers und Abgeordneten Hermann Bielohlawek im Reichsrat erweist: »Schon wieder ein Buch, da hab’ i g’fressn! Ich bin ein praktischer Mann!« Bis in die 1960er-Jahre bleibt das Schimpfwort »Saujud« Bestandteil bürgerlichen Vokabulars, ob 1930 vom nachmaligen Bundeskanzler Julius Raab gegen den Sozialdemokraten Otto Bauer oder nach 1945 von Zwischenrufern aus den Reihen schwarzer Abgeordneter gegen Bruno Kreisky (SPÖ) geschleudert, obwohl doch der Nachkriegs-ÖVP antisemitische Politik fernlag. Warum dann diese Töne?

Weil, wie so vieles bei den Christlichsozialen, auch der Antisemitismus »pragmatisch«, also berechnend, eingesetzt und dort wieder fallen gelassen wird, wo er nichts einbringt oder gar kontraproduktiv ist. So beklagt 1932 der schwarze Parteiobmann von Wien, Robert Krasser: »Bei der Eroberung Wiens durch Lueger war eine der zündenden Ideen der Antisemitismus. Aus staatspolitischen Gründen ist es damit in unserer Partei bedenklich still geworden.« Schon Lueger selbst hat einmal gesagt, dass er den Antisemitismus für einen »Pöbelsport« hält, den man getrost wieder bleiben lassen könne, sobald man sein Ziel damit erreicht habe. Dieser lapidare Umgang mit dem verbalen Antisemitismus mag erklären, warum er das Dritte Reich und die Shoa überlebt und in manchen bürgerlichen Kreisen bis lange nach 1945 weiterbestanden hat. Man sei ja dabei nicht »ideologisch« motiviert, so wie die Nazis, gegen die man schließlich gekämpft hat, mag sich so mancher ÖVPler dabei gedacht haben, deshalb dürfe man ja …

Zurück in die Zeit vor 1914: Ähnlich wie in Wien verhält es sich auf dem Land. Die bäuerliche Bevölkerung ist für die ständischen Argumente genauso empfänglich und beschert den Christlichsozialen Siegesläufe, die durch die Hilfe der vielen kleinen katholischen Kapläne und Priester noch angeheizt werden. Die sind recht kritisch gegen die kirchliche Obrigkeit, also aus damaliger Sicht linkskatholisch eingestellt. Ausnahmen dieser schwarzen Dominanz sind die schon erwähnten Grenzgebiete deutscher Zunge wie Kärnten, wo die nationalen Konflikte mehr zu zählen scheinen als die sozialen, und dort, wo die katholische Kirche traditionell nichts zu melden hat, vor allem in protestantischen Gegenden. Hier gründet sich stattdessen eine nationale Agrarierpartei, der spätere »Landbund«. Mag man gemeinsam gegen die Juden sein – bei der Kirche trennen sich die Wege von Christlichsozialen und antiklerikalen Deutschnationalen.

Daneben gründet der Christlichsoziale Leopold Kunschak eine eigene Bewegung für katholische Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich dem Klassenkampf der »Roten« nicht anschließen wollen.

Nach dem Tod Luegers fällt praktisch die Sonne vom Himmel, und man fährt bei der Reichratswahl 1911 vor allem in Wien eine katastrophale Wahlniederlage ein. Wären es Kommunalwahlen gewesen, hätten jetzt die Sozialdemokraten die größte Fraktion im Gemeinderat, doch in Wien gilt noch bis 1918 das Kurienwahlrecht nach Steuerleistung, was die Christlichsozialen bis zum Ende der Monarchie in der Hauptstadt an der Macht hält. Stärkste Gruppierung in Cisleithanien wird der »Deutsche Nationalverband« – die ethnischen Konflikte überlagern mittlerweile alle anderen Themen, der hausbackene Stammtisch-Antisemitismus scheint abgenutzt. Die Deutschnationalen können das viel besser: Die überlegene, aber bedrohte deutsche Kultur müsse sich gegen Juden und Slawen schützen, denn im Unterschied zu den alten Liberalen glauben die Nationalen nicht daran, dass ein Jude ein guter Deutscher sein kann, mag er sich noch so sehr dazu bekennen. Seine »Rasse« schließt ihn aus der Volksgemeinschaft aus. Ganze Akademikerzirkel und völkische Studentenverbindungen widmen sich »rassepolitischen« Fragen. Sogar der »Alpenverein« erlässt einen »Arierparagraphen«. Von der deutschnationalen Sozialreform und dem demokratischen Programm bleibt nur mehr der Antiklerikalismus übrig, wozu sich am radikalen alldeutschen Rand eine offene Ablehnung des übernationalen Habsburgerstaates gesellt. So wie sie später in den 1970er-Jahren neomarxistisch werden, sind die Universitäten vor 1914 deutschvölkisch dominiert, ist das bürgerliche Vereinswesen der Turner und Sänger kornblumenblau beziehungsweise schwarz-weiß-rot (Farben des Wilhelminischen Deutschland) statt schwarz-gelb (Habsburgs Farben).

Den Christlichsozialen dämmert, dass ihr Pragmatismus nicht mehr ausreicht, um dagegen Politik zu machen. Fortan wird die Partei katholischer, intellektueller, fördert eigene Studentenverbindungen (die meisten davon im »Cartellverband«, kurz »CV«) und Akademikerverbände als Vorfeldorganisationen. Und weil die meisten Universitätsabsolventen im Beamtenstaat Österreich in den öffentlichen Dienst treten, werden Beamte und andere Staatsdiener wie Schullehrer eine weitere Trägerschicht der Christlichsozialen. Als publizistisches Organ hält man sich die Zeitung Reichspost mit deren Chefredakteur Friedrich Funder. Man wird von einem Aristokraten, Aloys Prinz von und zu Liechtenstein, geführt, gewinnt einen hohen Sympathisanten, Thronfolger Franz Ferdinand, entwickelt sich nach und nach zur staatstragenden und zugleich ersten ständeübergreifenden »Volkspartei«. In der Breite liegt aber auch ihre Schwäche. Eine zentral geführte Stoßkraft haben die Christlichsozialen nämlich nicht, denn sie bestehen aus fragilen Einzelteilen, Berufs- und Länderorganisationen, deren Führungspersönlichkeiten meist sehr eigensinnig sind, aber immerhin vereint in der Angst vor einem weiteren Herrn Karl. Er mag zwar längst tot sein, aber sein Gespenst geht auch in Österreich nach wie vor um:

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