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MEINES VATERS BRUDER

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»Darf ich vorstellen: mein Bruder.«

»Ähhh … sind Sie sicher?

Es war nicht das erste Mal, dass mein Vater im Krankenhaus lag. Bei einem 85-Jährigen ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Leiden aller Art bemerkbar machen. So war ich aus der finsteren spitalseigenen Tiefgarage in die grell erleuchtete Oberwelt aufgetaucht, die langen Gänge entlanggewandert und hatte das Zimmer betreten, in dessen Türschildhalterung ein Zettel mit dem Namen »Johann Haidinger« steckte.

»Das ist doch sicher nicht Ihr … Bruder, Herr Haidinger.«

Sofort ahnte ich etwas. »Lassen Sie nur«, beruhigte ich die Stationsschwester und zwinkerte ihr zu. Als sie den Raum verließ, streifte mich ihr prüfender Blick – 50 Jahre Altersunterschied zwischen mir und Johann Haidinger wären doch ein bisschen viel für ein Brüderpaar gewesen …

Ich setzte mich ans Bett. »Wie geht’s dir?« Eine naheliegende Frage.

»Ah geh, das weißt du ja eh!«

So rüde pflegte mir der Papa sonst nicht zu antworten. Mein Verdacht erhärtete sich – ich war für ihn gar nicht ich. Ich war jemand anderer.

»Kalt ist es halt«, seufzte er.

»Kalt? Hier, im gut geheizten Krankenzimmer? Wie denn das?«

»Was fragst du so? Der kalte Winter! Die Mutter hat doch nicht genug …«

Und dann folgte eine persönliche Geschichte, ein Tadel für … mich? Nein, für seinen Bruder! Tatsächlich hatte mein Vater einen eineinhalb Jahre jüngeren Bruder. Da musste irgendetwas gewesen sein, in dem kalten Winter. »Welches Jahr meinst du?«

»’34. Du weißt doch – der kalte Winter 1934.«

Jetzt war es offensichtlich. Mein alter Herr war durch eine Art Spitalsschock mental abgekippt und geistig in die Kälte des Jahres 1934 zurückversetzt worden. Damals war er noch nicht 15 Jahre alt gewesen. Und ich saß hier an seinem Bett und war für ihn jener Bruder Josef, den ich als Onkel Pepi kannte und der aktuell auch schon 83 Lenze zählte. In diesen magischen Minuten war ich Johann Haidingers Bruder, der 13 Jahre alte Pepi, dem er wegen irgendwelcher kleinen Nachlässigkeiten – zumindest verbal – die Ohren langzog. Nicht zu fassen, ich saß in einer Zeitmaschine. Solch Erkenntnis ist ein bewegender Moment, vor allem, wenn er den eigenen Altvorderen betrifft. Doch ich fasste mich und fing – behutsam – an zu fragen.

Und dann ging’s los. Familiäres, Persönliches kam zutage, Erzählungen, Geschichten, Eindrücke, die ich so nie zuvor aus dem Mund meines Vaters gehört hatte. Er sprach klar, deutlich und anders als sonst, mit fast jugendlicher Stimme. Zwar wunderte er sich, dass der kleine Pepi, also ich, so dumme Fragen stellte, weil ich das ja »eh« alles wissen müsste … Trotzdem sprudelten die Geschichten vom bitterarmen Leben in der kleinen Bassenawohnung (Wasser und Klo am Gang) in der Wasnergasse in der Brigittenau (das war und ist der 20. Wiener Bezirk) und vom arbeitslosen Vater, der mit einem Lungenschuss aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen war und als Arbeiter 20 Jahre lang keine Chance auf eine fixe Beschäftigung hatte und das wenige Geld, das er zitherschlagend bei den Heurigen und in den Wirtshäusern verdiente, an Ort und Stelle gleich wieder versoff.

Von der Mutter, die den Mann und die zwei Söhne als Wäscherin in Eigenregie schlecht und recht über Wasser hielt und deren Kunden vor allem die jüdischen Familien im Haus waren.

Von den rivalisierenden »Platten«, den Kinderbanden zwischen der Brigittenau, dem Prater und der Leopoldstadt (2. Bezirk), und den Umwegen, die der Wasnergassler oft nehmen musste, um die Reviergrenzen nicht zu verletzen.

Von der Leseleidenschaft, die er entwickelte und die ihn alle (!) 91 (oder gab es gar noch mehr?) Karl-May-Bände verschlingen ließ.

Von den frühen Kinoerlebnissen, dem Stummfilm-Westernhelden Tom Mix oder dem opulenten Fritz-Lang-Filmepos »Die Nibelungen«, das vom Pepi entweiht wurde, der im Wallenstein-Kino nach der heimtückischen Ermordung Siegfrieds durch den fiesen Hagen von Tronje mitten in die ergriffene Stille des Publikums laut und deutlich seinem älteren Bruder die Frage stellte: »Hansi, ist der Tom Mix jetzt tot?« Nie wieder, so der wütende Hansi, wolle er den dummen Pepi ins Kino mitnehmen.

Von Hansis Lieblingstante, die in Kaisermühlen wohnte und die ihm für seine Besuche das Fahrgeld für die Straßenbahn zusteckte, das er lieber fürs Kino zweckentfremdete und dafür den einstündigen Fußmarsch in Kauf nahm.

All diese Basis-Geschichten waren mir an jenem Tag des Jahres 2004 aus langjähriger familiärer Erzählung zwar bereits bekannt gewesen, doch gerade aus dieser Detailkenntnis heraus konnte ich die neuen Eindrücke der Zeitmaschine deuten und die richtigen Nachfragen stellen.

Etwa eine Dreiviertelstunde dauerte die Reise ins Wien des Winters 1933/1934. Es waren bittere Momente, aber auch heitere Aspekte, die der 14 Jahre alte 85-Jährige Revue passieren ließ. Zwei Motive zogen sich durch: Er hungerte zwar nicht, aber er fror. (Hansi bekam erst mit 16 Jahren seine erste lange Hose.) Und er sprach in dieser mentalen Rückführung nicht über Politik. Überhaupt nicht. Nicht einmal der Februaraufstand von Teilen des sozialdemokratischen Schutzbundes, der auch als Bürgerkrieg des Februar 1934 bezeichnet wird, kam vor. Und das, obwohl doch seine Familie davon zumindest emotional betroffen gewesen sein musste; der arbeitslose Vater war ein naturgewachsener Sozialdemokrat, ebenso die Mutter. Bis heute ist dieser Februaraufstand in Österreich Auslöser überschäumender Emotionen und Wechselstube politischen Kleingelds.

Um nichts davon ging es bei meines Vaters rasanter Fahrt bis auf die Felgen seiner Jugend, sondern um ganz anderes: Heizen, Essen, Eltern, Sorgen, Leben. Keine wohlabgewogene, weise Rückschau, bloß eine Äußerung aus der Situation heraus, als wäre sie 1934 in ein Mikrofon gesprochen und die Aufnahme seither nicht mehr bearbeitet worden. »Unplugged« nennen es Studiomusiker, einen »eingefrorenen Posthornton« etwas poetischer gestrickte Anhänger deutscher Literatur. Mit dem entscheidenden Bonus, dass ich Fragen stellen und Einwände bringen konnte.

Wie viele Zeitzeugen (für was auch immer) habe ich als Historiker vor und nach meinem Vater befragt und als Journalist interviewt. Wie viele gewichtige und bedeutsame Persönlichkeiten waren darunter. Aber keiner von ihnen hat mich so wie er in einer Zeitmaschine mitgenommen.

Das Ganze ging mir natürlich nahe, aber vor allem dämmerte mir, wie kurz 70 Jahre Distanz sein können und dass keine Rückschau Nachgeborener auf vergangene Zeiten jemals allen Aspekten des Gewesenen, des Stattgefundenen gerecht werden kann. Was ist denn wichtig, und was nicht? Gegen selbst Erlebtes und subjektiv Empfundenes kann der geschliffenste Historiker nicht anstinken, mag er akademisch gesehen tausendmal recht haben. Und das Ausgestandene bleibt irgendwo in uns gespeichert – ein Leben lang. Andererseits kann ein Würstchen, während es in seinen Zeitumständen wie in einem Sandwich eingeklemmt ist, die Konturen weiterer Zusammenhänge im großen Würstelstand selten ermessen. Eine aussagekräftige Gesamtschau wird erst im Nachhinein möglich. Die Würstelstandsrevision (mit oder ohne Senf und Kren) nennt man dann Geschichtsschreibung.

Deshalb wird es auf dieser Reise Richtung Österreichs Gegenwart auch nicht nur um hohe Herren (und Damen), sondern um die Jedermänner und -frauen gehen, ihre Schicksale, ihre Ideen, darüber, was sie ersehnten und erlitten, woran sie sich erinnern und was sie lieber vergessen würden.

Die Zeitreise von Vater und Sohn ist übrigens ein einmaliges Ereignis geblieben. Wenige Tage danach war der alte Herr wieder daheim und klar bei Sinnen.

»Wie geht’s dir?«

»Danke, bestens. Hast du schon von der Netrebko gehört, dieser neuen jungen Opernsängerin? Diesem russischen Sopran? Die soll ja …«

Uff! Gott sei Dank! Er war zurück im Jahr 2004. Alles wieder beim Alten.

Jedermanns Land

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