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KARL KRAUS (1874–1936)

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»Des hätt’ sich der Kraus auch für nach dem Krieg aufheben können, dieser Defaitist …«, maulte ein Zuhörer und setzte eine grimmige Miene auf. In einem Vortragssaal war es, und wir schrieben nicht das Jahr 1919, sondern 1999. Soeben hatte ich einem aufmerksamen Publikum einige Szenen aus den Letzten Tagen der Menschheit vorgetragen, hatte Homolatsch, Pogatschnigg und Kasmader bei der Vereinssitzung der Cherusker zu Krems die aufrechte Resitant mit »Hedl«-Rufen hochleben und den volksbeseelten anonymen Wiener von einer Parkbank die Ansprache schlechthin halten lassen: »Wie ein Mann wollen wir uns mit fliehenden Fahnen an das Vaterland anschließen in dera großen Zeit! Sind wir doch umgerungen von lauter Feinden!«

Das Monumentaldrama Die letzten Tage der Menschheit erschien in Fortsetzungen in Kraus’ satirischer Zeitschrift Die Fackel, die er 1899 bis 1936 praktisch im Alleingang schrieb und herausgab. Es beleuchtet grell die Grausamkeit der Kriegsgesellschaft, und Kraus arbeitet dabei mit unzähligen Originalzitaten.

Kann es denn wirklich sein, dachte ich, dass dieses Werk heute noch patriotischen Widerwillen bei jenen auslöst, deren längst verwichene (Ur-)Großväter Ziel der unbestritten messerscharfen und hammerharten Attacken des literarisch hochbewaffneten Pazifisten Karl Kraus gewesen sind – nach so vielen Jahrzehnten? Seit Helmut Qualtingers genialer Interpretation der Letzten Tage hatte man sich hierzulande, in Österreich, angewöhnt, über die grotesken Verzerrungen zu lachen – immer schallender und flacher war dieses Lachen geworden, je mehr Zeit uns trennte von jenen »in blutigem Traum verwahrten Jahre[n], da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten«. Plötzlich geriet dagegen die Reaktion meines Zuhörers des Jahres 1999 zum aufblitzenden Blick zurück auf die Unmittelbarkeit des Geschehens, ließ sein Grimm die beklemmenden Umwelten der Jahre 1914 bis 1918, oder eigentlich bis 1945, ahnen, die Kraus provozierte(n). Ich war dem Brummbären dankbar. Er gab dem Werk einen tragischen Moment lang das zurück, was ihm abhandengekommen war: das mitfühlende Publikum.

In dieser großen Zeit betitelt, war 1914 aus dem Großbürgersohn und Sonderling Karl Kraus in der Dezember-Nummer der Fackel die schreiende Kritik am jungen Krieg herausgebrochen. Bereits zuvor hatte Kraus seine Anklage nie auf einzelne Personen gerichtet, sondern auf Systeme und Zustände geschleudert. So befand er 1914, am Vorabend des Weltkrieges, in der Fackel: »Das aktive Böse dieser Welt ist heute in Westeuropa in der Form der Formlosigkeit in Presse und Publikum zu Hause, in Parlamentarismus, Wählerschaft, Bank- und Geldwirtschaft, lauter anonymen, vollkommen verantwortungslosen, nicht fassbaren Massenmächten.« Verantwortungslosigkeit von rechts wie links, reich und arm, bei hohen wie niederen Ständen, war dem Kritiker zeitlebens ein Greuel. Sie bekämpfte er bis zuletzt auch noch 1934, selbst um den Preis eines Sympathieschwenks von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung hin zu Bundeskanzler Dollfuß, dem allein er zutraute, den Nationalsozialismus aufhalten zu können.

Noch 1927 hatte Kraus nach dem Sturm auf den Justizpalast den Wiener Polizeichef Schober wegen dessen blutigen Vorgehens gegen die Brandleger zum Rücktritt aufgefordert – im Fall Dollfuß’ wog für Kraus die Entschiedenheit, mit der jener Österreich verteidigte, schwerer als die schockierenden Hinrichtungen der Aufständischen des Jahres 1934 …

Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Bleiben Sie dran, alle diese Stationen im Drama Österreichs werden wir noch erreichen!

1911 hatte sich der schon 1899 aus der Kultusgemeinde geschiedene Jude Karl Kraus nach katholischem Ritus taufen lassen, 1923 trat er aus der Kirche wieder aus. Dem – aussichtslosen – Kampf gegen Niedertracht und Dummheit hingegen hielt er die Treue und schonte niemanden. Keine Seite, keine Person. »Mit unseren Feinden haben wir nur die Dummheit gemeinsam, einen und denselben Gott für den Ausgang des Kriegs verantwortlich zu machen, statt uns selbst für den Entschluß, ihn zu führen. Was die Staatsmänner der Feinde betrifft, so können sie nicht dümmer sein als die unseren, weil es das in der Natur nicht gibt«, lässt Kraus in den Letzten Tagen der Menschheit sein Alter Ego, den »Nörgler«, sagen. Dieser Maxime folgend, legt er nicht nur die Bösartigkeit und Niedertracht der eigenen, der österreichischen, Gestalten bloß, sondern verfolgt ihre Spuren auch bei deren Gegnern.

Eine wenig bekannte Szene ist die in Verdun angesiedelte Misshandlung deutscher Kriegsgefangener durch die französischen Offiziere Gloirefaisant, de Massacré und Meurtrier. General Gloirefaisant befiehlt den Bajonettkampf nach Campbell, bei dem auf Leber, Augen und Nieren des Feindes gezielt wird. Nur so könne man dem Problem zu vieler Kriegsgefangener vorbeugen. Kurz zuvor hat Hauptmann de Massacré 180 Gefangene mit dem Bajonett niedermachen lassen und freut sich auf das Kreuz der Ehrenlegion, das er eine Woche später erhalten soll. Bei alledem bleiben dennoch deutsche und österreichische Typen wie der »Kaiserjägertod« die Hauptakteure des Grauens. Nachdem sich beim Leser der erste Schrecken gelegt hat, wird er indessen feststellen müssen, dass trotz Lokalkolorit gerade den provinziellsten Figuren eine makabere Universalität eignet, die über Österreich und den Ersten Weltkrieg hinausgeht.

Seine Kollegen, die Literaten, spießte Kraus auf die spitzeste seiner Federn, zumal jene, die sich inner- und außerhalb des »Kriegspressequartiers« in den Dienst der Propaganda begaben. Mit geradezu pathologischem Hass stellt er in den Letzten Tagen der Menschheit der Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse, Alice Schalek, nach, und kompromittiert ihre schwülstige Blutprosa in allen Details, schuf er aus dem Herausgeber desselben bürgerlichliberalen Blattes die hybride Figur des »diktierenden Benedikt«, der in einem Artikel die Fische, Hummer und Seespinnen der Adria preist, die lange nicht so gut genährt waren als jetzt, da sie die Leiber der versenkten italienischen Schiffsbesatzungen zum Mahl vorfinden. »Was in dieser entgeistigtesten Zeit zusammengeschmiert wurde – es ergäbe täglich eine Million Tonnen versenkten Geistes, die wir einmal an den geschädigten Genius der Menschheit werden zurückzahlen müssen.« Sagt der Nörgler und verdammt unter der Fahne der Bestialität vor allem die »wenigen Dichter, die sich von ihr fortreißen ließen«.

Den Prosaisten Hans Müller etwa, der über seine eigenen martialischen Feuilletons in Tränen der Rührung ausbricht; oder den Priesterdichter Ottokar Kernstock, der »Mit uns sind die himmlischen Scharen all, / Sankt Michel ist unser Feldmarschall« murmelt – laut genug für die lauschenden Massen; oder den populären Dichter Richard Dehmel, der blankes Eisen ins Feindesfleisch treiben lässt; und schließlich den Literaten Alfred Kerr, dessen Rumänenlied auf die abtrünnigen Verbündeten in der Erkenntnis ungewaschener Füße am Balkan gipfelt. Sie waren in Österreichs Lager, in dem der lagerlose Karl Kraus nie sein wollte. Vielleicht macht ihn diese Haltung in heutigen Augen so modern und zugleich so zeitlos wie die Bestie Mensch, die er vorführt. Kraus wird bis zu seinem Tod 1936 der erbarmungsloseste Kritiker österreichischer Realitäten bleiben.

Noch sind wir aber mitten im Krieg, dem mörderischsten, den die Welt bis dahin erlebt hat. Und sein oberster Kriegsherr ist für die Österreicher ein weiterer Karl. In katholischer Lesart darf man ihn seit 2004 als Seligen ansprechen, denn die Kirche hat ihn solcherart geehrt:

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