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b) Die Verwirkung

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Der Gedanke des Vertrauensschutzes bildet auch die Grundlage der Verwirkung. Diese im Gesetz nicht ausdrücklich genannte Rechtsfigur ist von Wissenschaft und Rspr unter Berufung auf § 242 entwickelt worden. Sie bildet einen bedeutsamen Anwendungsbereich des Einwands der unzulässigen Rechtsausübung wegen widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium, BGH NJW-RR 2004, 649, 650). Man versteht darunter Fälle, in denen sich jemand bei Ausübung eines Rechts in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzt und dadurch legitime Verhaltenserwartungen des Betroffenen enttäuscht.

Beispiel für widersprüchliches Verhalten:

V hat dem M Geschäftsräume auf 2 Jahre vermietet. Zusätzlich ist vereinbart, dass sich der Mietvertrag automatisch um ein Jahr verlängert, wenn nicht spätestens zwei Monate vor Ende der Mietzeit eine schriftliche Kündigung durch den einen oder den anderen Teil erfolgt. Da M vier Monate vor Ende der Mietzeit die Gelegenheit hat, andere geeignete Räume zu finden, fragt er bei V nach, ob dieser vorhabe, zu kündigen. Der Vermieter verneint. Im Vertrauen darauf lässt der Mieter die anderweitige Gelegenheit ungenutzt. Nun kündigt der Vermieter wider Erwarten gleichwohl das Mietverhältnis fristgemäß zum Ende der vereinbarten Mietzeit, obwohl ihm M keinen Anlass dafür gegeben hat. Man kann hier sagen: Zwar besteht die Befugnis des Vermieters auf Grund des Vertrags, durch eine Kündigungserklärung das Vertragsverhältnis zu beendigen. Er hat aber durch sein Verhalten ein Vertrauen des M auf die Fortsetzung des Mietverhältnisses erweckt, das er nicht ohne triftigen Grund enttäuschen darf. Die Kündigung widerspricht seinem vorhergehenden Verhalten und ist treuwidrig.

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Bei der Verwirkung kommt zum widersprüchlichen Verhalten ein Zeitelement hinzu. Die Verwirkung setzt folglich voraus (zusammenfassend BGHZ 146, 217, 220; BGH NJW 2003, 824; BGH NJW 2014, 1230 Rn 13).

a) dass der Berechtigte das Recht eine Zeit lang nicht geltend gemacht hat, obwohl er es hätte können (Zeitmoment) und

b) dass der andere Teil sich aufgrund dieses Verhaltens des Berechtigten darauf einstellen durfte und auch eingestellt hat, das Recht werde nicht mehr geltend gemacht werden (Umstandsmoment), sowie

c) dass sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten des Berechtigten in seinen Maßnahmen so eingerichtet hat, dass ihm nunmehr durch die Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstünde (BGH NJW 2014, 1230 Rn 13).

Das Zeitelement betreffend gelten – anders als bei der Verjährung – keine festen Fristen, es kommt auf die Art des Rechts und auf die Umstände an (siehe zB für Unterhaltsansprüche BGH NJW 2007, 1273). Letztlich ist nicht die Frist entscheidend, sondern das beim Betroffenen erweckte Vertrauen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr ausüben. Der Zeitablauf allein vermag die Verwirkung nicht zu begründen (BGH NJW 2014, 1230 Rn 13).

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Besondere Bedeutung hat die Verwirkung bei der Ausübung von Gestaltungsrechten. Hat jemand das Recht, wegen einer Vertragsverletzung des Partners den Vertrag zu kündigen, so kann er sein Kündigungsrecht verwirken, wenn er, nachdem er von der Vertragsverletzung Kenntnis erhält, eine gewisse Zeit nichts unternimmt und so bei dem Partner den Eindruck erweckt, er werde von seinem Kündigungsrecht keinen Gebrauch machen (vgl BGH NJW 2002, 669)

Prüfungsschema Voraussetzung der Verwirkung:

1. Der Berechtigte hat sein Recht eine Zeit lang nicht geltend gemacht, obwohl er dazu in der Lage war;
2. der Verpflichtete (oder sonst Betroffene) durfte dem Verhalten des Berechtigten bei objektiver Beurteilung entnehmen, dass er mit einer Rechtsausübung nicht mehr zu rechnen brauche;
3. der Verpflichtete hat sich auf die Nichtausübung des Rechts tatsächlich eingerichtet;
4. durch die verspätete Durchsetzung des Rechts würde dem Verpflichteten (oder sonst Betroffenen) ein unzumutbarer Nachteil entstehen;
5. die spätere Geltendmachung des Rechts ist mit Treu und Glauben nicht zu vereinbaren.

Literatur:

Zur Verjährung: H. Oetker, Die Verjährung. Strukturen eines allgemeinen Rechtsinstituts, 1994; K. Oppenborn, Verhandlungen und Verjährung, 2008; C. Meller-Hannich, Die Einrede der Verjährung, JZ 2005, 656; S. Blaschke, Aktuelle Probleme des Verjährungsrechts, Jura 2009, 481; L. Kähler, Vom bleibenden Wert des Eigentums nach der Verjährung des Herausgabeanspruchs, NJW 2015, 1041; F. Eichel, Verjährung in Dauerschuldverhältnissen, NJW 2015, 3265.

Zur unzulässigen Rechtsausübung/Verwirkung:

C.-W. Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971; T. Stauder, Die Verwirkung zivilrechtlicher Rechtspositionen, 1995; H.J. Wieling, Venire contra factum proprium und Verschulden gegen sich selbst, AcP 176, 334; A. Teichmann, Venire contra factum proprium – Ein Teilaspekt rechtsmissbräuchlichen Handelns, JA 1985, 497; ders., JuS 1990, 269; R. Weber, Die Entwicklung des § 242 zum „königlichen Paragraphen“, JuS 1992, 631; J. Petersen, Die Grenzen zulässiger Rechtsausübung, Jura 2008, 759; J. Schürnbrand, Zwingender Verbraucherschutz und das Verbot unzulässiger Rechtsausübung, JZ 2009, 133.

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