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2. Zu den Voraussetzungen der deliktischen Haftung

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Die entscheidende Frage ist, unter welchen Voraussetzungen der deliktische Schadensersatzanspruch entsteht. Ein erster Blick in das Gesetz lässt auf schwierige Wertungsfragen schließen. Das Gesetz formuliert nämlich nicht einen einzigen Anspruchstatbestand, sondern eine Vielzahl von Anspruchsnormen, deren Anwendungsbereiche sich überschneidnen können. Darunter ragen die §§ 823 I, 823 II, 826, 839 BGB durch eine verhältnismäßig abstrakte Fassung der Tatbestände hervor; daneben gibt es eine ganze Reihe speziellerer Anspruchsnormen (zB §§ 824, 825, 831, 832 BGB). Eine deliktische Schadensersatzpflicht entsteht, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen auch nur einer dieser Normen im konkreten Sachverhalt erfüllt sind. Die Voraussetzungen des deliktischen Schadensersatzanspruchs lassen sich daher nicht allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweilige Anspruchsnorm bestimmen.

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Gleichwohl gibt es einige Grundprinzipien, von denen sich der Gesetzgeber bei der Gestaltung des Deliktsrechts hat leiten lassen.

(1) Schadenseintritt. Voraussetzung eines deliktischen Schadensersatzanspruchs ist stets, dass einer Person (Geschädigter) durch eine andere (Schädiger) ein Schaden entstanden ist. Es ist dies eine Selbstverständlichkeit, die man jedoch nicht übersehen darf: Nicht Rache, nicht Strafe zum Zwecke der Sühne oder Abschreckung ist der Zweck der zivilrechtlichen Deliktsansprüche, sondern die Schadloshaltung.

Ob dies auch für den Schmerzensgeldanspruch gilt, ist heute str., siehe Rn 371.

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Die Tatsache allein, dass eine Person eine andere geschädigt hat, kann den Ersatzanspruch aber nicht auslösen. Es wäre unangemessen, wenn man eine Handlung schon deshalb als „unerlaubt“ werten würde, weil sie für einen anderen schädigende Auswirkungen hat. Denn dann müssten die im sozialen Kontakt miteinander lebenden Personen jegliches Handeln unterlassen. Der Kaufmann, der durch niedrige Preise Kunden anzieht, schädigt die Konkurrenz, aber in durchaus erlaubter Weise. Wer es durch eine Diebstahlsanzeige ermöglicht, dass der Dieb gefasst und dass ihm seine Beute abgenommen wird, schädigt den Dieb, dies aber im Einklang mit der Rechtsordnung. In der Konkurrenz um die wirtschaftlichen Güter schädigen wir uns gegenseitig fortwährend, indem wir einander Erwerbsquellen abschneiden oder vereiteln. Die bloße Schädigung anderer allein bildet noch kein Delikt. Anders ausgedrückt: Es besteht keine allgemeine Pflicht, sich so zu verhalten, dass die Vermögenslage der anderen ungeschmälert bleibt oder sich optimal entwickelt. Es ist dies eine Grundannahme jedes auf Handlungsfreiheit und Konkurrenz bauenden Wirtschaftssystems.

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(2) Verletzung deliktisch geschützter Rechtspositionen. Zur Schädigung müssen aus den genannten Gründen besondere Wertungen hinzukommen, welche die Schädigungshandlung als unerlaubt erscheinen lassen. Das Deliktsrecht des BGB wertet eine Handlung als unerlaubt unter zwei Gesichtspunkten:

(a) Unerlaubt ist eine Handlung, welche ein absolutes Recht und dem gleichgestellte Rechtsgüter verletzt (§ 823 I).

(b) Unerlaubt ist ferner eine Handlung, die geschützte Interessen, auch wenn sie nicht die Zuweisungsdichte eines subjektiven Rechts erreichen, auf eine besonders missbilligte Art und Weise beeinträchtigt.

Bei (b) ist nicht schon die Beeinträchtigung der Interessen für sich gesehen, sondern ihre besondere Modalität für die Bewertung als „unerlaubt“ maßgebend. Derartige Tatbestände enthalten zB die §§ 823 II und 826. Die Vorschrift des § 826 erklärt jede vorsätzliche, unter Verstoß gegen die guten Sitten vorgenommene Schädigung eines anderen für unerlaubt; geschützt sind demnach sämtliche Interessen einer Person, die geschädigt werden können, aber eben nicht gegen jede Beeinträchtigung, auch nicht gegen jede vorsätzliche oder fahrlässige; vielmehr nur gegen die sittenwidrig-vorsätzliche. Nach § 823 II liegt ein Delikt vor, wenn jemand einen anderen unter Verstoß gegen ein Gesetz schädigt, das den Schutz des anderen bezweckt. Auch hier ist nicht die vorsätzliche oder fahrlässige Interessenbeeinträchtigung an sich, sondern die Begehungsart (Gesetzeswidrigkeit) Grundlage des deliktischen Unwerturteils.

Die Anwendungsbereiche der Deliktstatbestände können sich überschneiden. Zerschneidet zB ein Fußballspieler die Reifen am Pkw des Schiedsrichters, weil er sich benachteiligt fühlt, so ist sowohl der Tatbestand des § 823 I (Eigentumsverletzung) als auch der des § 823 II/§ 303 I StGB als auch der des § 826 erfüllt. Die drei Anspruchsnormen kommen nebeneinander zum Zuge, haben aber ein- und dasselbe Leistungsziel: Der Schiedsrichter erhält den Schaden nur einmal ersetzt (Rn 228).

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Die beiden Kriterien, nach denen eine Handlung als unerlaubt gewertet werden kann – nämlich (a) die Verletzung bestimmter Rechte und (b) die Interessenbeeinträchtigung auf besonders missbilligte Weise – müssen sorgfältig unterschieden werden. Gleichwohl treffen sie im Gedanken des Interessenschutzes zusammen. Denn auch die subjektiven Rechte, deren Verletzung nach § 823 I zum Schadensersatz verpflichtet (a), beziehen sich auf Interessen, für deren Verfolgung und Verwirklichung dem Rechtsinhaber eine Bestimmungsgewalt zugewiesen ist. Die nach (a) geschützten Interessen unterscheiden sich von den nach (b) geschützten allein durch die Exklusivität der Zuweisung des Interessenfeldes. In dem nach § 823 I geschützten Recht (a) wird dem Rechtsinhaber die Befugnis, bestimmte Interessen zu verfolgen und zu verwirklichen, mit einem derartigen Grad von Ausschließlichkeit zugewiesen, dass schon die vorsätzliche oder fahrlässige Beeinträchtigung dieser Interessen an sich die Handlung unerlaubt macht (Besonderheiten beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht, Rn 332). Andere Interessen (b) sind hingegen nur gegen bestimmte Modalitäten der Beeinträchtigung geschützt. So gibt es kein absolutes Recht am Interesse der Erhaltung und Vermehrung des Vermögens, sondern lediglich den Schutz gewisser Vermögensrechte (zB Eigentum) nach § 823 I und darüber hinaus den Schutz des Vermögens gegen bestimmte unerlaubte Formen der Beeinträchtigung (zB gegen betrügerische Schädigung, § 823 II BGB/§ 263 StGB; gegen sittenwidrige vorsätzliche Schädigung, § 826).

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(3)Verschulden. Selbst die Elemente (1) der Schädigung (2) durch Beeinträchtigung geschützter Rechte und Interessen genügen allein noch nicht, um den Schadensersatzanspruch zu begründen.

Fall 9:

Jemand fährt mit seinem Fahrrad auf der Straße. Ein Kind, das vor einem Hund Angst bekommen hat, läuft plötzlich auf die Fahrbahn direkt vor das Rad. Obwohl der Radfahrer sofort ausweicht, wird das Kind verletzt und muss ärztlich versorgt werden. Ist der Fahrer dem Kind zum Schadensersatz verpflichtet?

Der Fahrer hat einen Schaden verursacht (ärztliche Behandlungskosten); er hat – so können wir jedenfalls mit § 823 I sagen – „den Körper verletzt“, mithin das Recht des Kindes auf körperliche Integrität objektiv gesehen beeinträchtigt. Dennoch erheben sich gegen den Schadensersatzanspruch Bedenken. Man wird sagen: Der Fahrer ist doch nicht „schuld“ daran, dass ihm das Kind in das Rad lief und dadurch verletzt wurde.

In der Tat wird eine Person nicht schlechthin dafür haftbar gemacht, dass sie durch ihr Verhalten die geschützten Rechte und Interessen anderer beeinträchtigt. Da der Mensch nicht vollkommen ist, werden auch die größten Sorgfaltsanstrengungen Unglücksfälle nicht verhindern. Es wäre dann ungerecht, jemanden allein deshalb haften zu lassen, weil er den Unglücksfall mitverursacht hat. Im sozialen Kontakt kommen die Menschen notwendig mit den geschützten Interessen anderer in Berührung. Es geht darum, das Risiko für die damit verbundene Beeinträchtigung angemessen zu verteilen. Dabei ist davon auszugehen, dass jeder ein gewisses Risiko für seine Güter selbst zu tragen hat, weil ihre Beeinträchtigung dem Leben in menschlicher Gesellschaft immanent ist. Deshalb verlangt das Deliktsrecht, bevor es eine Schadensersatzpflicht entstehen lässt, außer der Schadensverursachung und der Beeinträchtigung von geschützten Rechten und Interessen noch ein subjektives Zurechnungselement: das Verschulden (Verschuldensprinzip). Das Verschulden setzt die Fähigkeit der handelnden Person zur Verantwortung („Verschuldensfähigkeit“) voraus, (§§ 827, 828, siehe Rn 280).

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(4) Kausalität. Der so umrissene Deliktstatbestand – Schadenszufügung durch unerlaubtes, dem Täter als Verschulden zurechenbares Tun – skizziert das Grundgerüst der unerlaubten Handlung. Dabei ist schon unterstellt, dass die genannten Elemente ursächlich miteinander verknüpft sind (Ursächlichkeit, Kausalität). Die Ursächlichkeit des Handelns für die Rechtsverletzung oder den Schadenseintritt ist oft evident. In vielen Fällen bedarf es aber genauerer Prüfung, welche Verletzungs- und Schädigungsfolgen dem handelnden Menschen als von ihm verursacht zuzurechnen sind.

Der deliktische Schadensersatzanspruch setzt Ursächlichkeit in doppelter Hinsicht voraus:

das Verhalten des Anspruchsgegners muss ursächlich für die Rechtsgutverletzung gewesen sein (haftungsbegründende Kausalität, zB der von X erzeugte Lärm ist ursächlich für gesundheitliche Störungen bei Y);
die Rechtsgutverletzung muss ursächlich für den geltend gemachten Schaden gewesen sein (haftungsausfüllende Kausalität, zB infolge der gesundheitlichen Störungen bei Y ist eine ärztliche Behandlung nötig geworden, es sind folglich Kosten angefallen).

Ursächlich im Sinne beider Kausalitätsverknüpfungen ist grundsätzlich jeder Umstand, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Diese sog. Äquivalenztheorie bildet auch im Zivilrecht den Ausgangspunkt. Doch sondert man in einem zweiten Schritt (besonders bei der haftungsausfüllenden Kausalität) diejenigen Ursachen aus, die nur unter ganz außergewöhnlichen, nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen zur Bedingung des Erfolges wurden (Adäquanztheorie, str.).

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(5) Weitere Normelemente. Über die unter (1) – (4) genannten hinaus gibt es weitere allgemeine Normelemente, welche die Voraussetzung eines Deliktsanspruchs näher eingrenzen.

(a) Die Lehre vom Schutzbereich (Schutzzweck) der Norm versucht, die deliktische Haftung in sinnvollen Grenzen zu halten. Eine missbilligte schädigende Handlung löst nur dann die Schadensersatzpflicht aus, wenn die verletzte Norm das beeinträchtigte Recht oder Schutzinteresse gerade vor dieser Art von Verletzung und dieser Art von Schädigung schützen will. Diese Lehre spielt eine besonders wichtige Rolle beim Tatbestand des § 823 II, gilt aber für das Deliktsrecht allgemein.

(b) Mit Hilfe der Begriffe „unmittelbar Geschädigter – mittelbar Geschädigter“ wird der Kreis der schadensersatzberechtigten Personen näher umschrieben. Bei Verletzung eines absoluten Rechts (§ 823 I) ist grundsätzlich nur der „unmittelbar Geschädigte“, dh derjenige, dessen Recht verletzt wurde, zum Schadensersatz berechtigt. Andere Personen, die nicht in ihrem Recht verletzt, aber in ihrem Vermögen geschädigt sind („mittelbar Geschädigte“), können nur in gesetzlich bestimmten Ausnahmefällen aus dem Verletzungsereignis Schadensersatzansprüche für sich ableiten (zB in den Fällen der §§ 844, 845). Entsprechendes gilt bei § 823 II: „Unmittelbar Geschädigter“ ist hier derjenige, den das verletzte Gesetz schützen will.

(c) Probleme ergeben sich, wenn der Schaden durch unerlaubte Handlungen mehrerer Personen verursacht ist (siehe die Regelungen des § 830).

(d) Besonders brisant ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen jemand für das Verhalten eines anderen deliktisch einstehen muss (§§ 831, 832, dazu unten Rn 906 ff).

(e) Es kann sein, dass ein Schaden zwar auf eine unerlaubte Handlung eines Dritten zurückzuführen ist, dass der Verletzte aber selbst an der Entstehung des Schadens durch sein Verhalten mitgewirkt hat („Mitverschulden“). Dann ergibt sich die Frage, inwieweit dieser Umstand die Haftung des Dritten mindert oder ausschließt (siehe die Regelung des § 254).

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