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c) Die Fahrlässigkeit insbesondere

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Während der Begriff des Vorsatzes leicht zu erfassen ist, bereitet die genaue Bestimmung der Fahrlässigkeit Schwierigkeiten. Was genau muss man einer Person vorwerfen können, um ihr Handeln als „fahrlässig“ einzuordnen?

Fall 10:

Professor S kommt aus der Vorlesung. Er denkt über das Problem des Handlungsunrechts nach, das er den Studenten nicht hat klarmachen können. Geistesabwesend stößt er an einen auf dem Gehsteig befindlichen Obststand und reißt die Obstkörbe zu Boden. Der Händler H kann das Obst nicht mehr absetzen und erleidet einen Schaden. Er verlangt von S Schadensersatz.

S hat das Eigentum des H verletzt und ihm dadurch eine Schaden zugefügt. Fraglich ist, ob S ein Verschulden trifft. In Betracht kommt fahrlässiges Handeln. Die Frage, ob S fahrlässig gehandelt hat, kann man auf verschiedene Weise stellen. Man könnte zB fragen, ob S bei Anspannung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte sich anders verhalten und die Beeinträchtigung hätte vermeiden können. Bei diesem Fahrlässigkeitsbegriff (fahrlässig handelt, wer den Erfolg bei Anspannung aller ihm zur Verfügung stehenden Kräfte hätte vermeiden können) hätte S Chancen, um die Schadensersatzpflicht herumzukommen. Denn er befand sich in einem psychischen Zustand, den er nicht freiwillig gewählt hatte. Niemand, auch nicht ein Psychologe, kann uns verlässlich sagen, ob S zur Verhinderung des Erfolgs noch psychische Kräfte hätte anspannen können. Es gibt Leute, die leicht erregbar sind. Niemand kann sagen, ob sie gerade diese oder jene Erregung durch Selbstkontrolle hätten verhindern können. Es gibt Menschen, die häufig dahinträumen. Niemand kann sagen, ob sie in einer bestimmten Situation einen solchen Zustand durch Anstrengung hätten vermeiden können. Fahrlässigkeit, begriffen als Vorwurf, dass gerade dieser Handelnde bei Anspannung der gerade ihm zur Verfügung stehenden Kräfte gerade in diesem Fall hätte anders handeln und so die Rechtsbeeinträchtigung hätte vermeiden können (subjektive Fahrlässigkeit), bildet daher keine für das Zivilrecht brauchbare Kategorie.

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Für das Zivilrecht setzt § 276 II einen ganz anderen Fahrlässigkeitsbegriff: Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Es wird also nicht gefragt, wie gerade der Handelnde nach seinen Fähigkeiten hätte handeln können, sondern wie er hätte handeln sollen (objektive Fahrlässigkeit). Fahrlässig handelt, wer die „Spielregeln“, die im sozialen Kontakt zur Vermeidung unangemessener Beeinträchtigungen fremder Interessen erforderlich sind, nicht einhält. Für die Abweichung von den Regeln haftet er zivilrechtlich, gleichgültig ob gerade er nach seinen geistig-seelischen Fähigkeiten und in seiner Stimmungslage hätte anders handeln können.

Es geht – das ist die Konsequenz – nicht um einen höchstpersönlichen Vorwurf, sondern um Risikoverteilung.

Zu Fall 10: Vom Standpunkt des geschädigten Obsthändlers sieht die Interessenlage wie folgt aus: S hat ihn geschädigt, diese Schädigung geschah unter Beeinträchtigung seines Eigentums. Diese Beeinträchtigung geschah unter Verletzung der Verhaltensregeln im sozialen Kontakt, nämlich der Verpflichtung, auch bei der Fortbewegung als Fußgänger im öffentlichen Raum den Rechtsgütern anderer zumutbare Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das muss genügen, um das Schadensrisiko vom Eigentümer auf den Schädiger übergehen zu lassen. Für die Schadensersatzpflicht auch noch zu verlangen, dass gerade das Individuum S nach seiner psychischen Veranlagung und in seiner besonderen Stimmungslage die Spielregeln hätte einhalten können, geht zu weit. S hat also fahrlässig gehandelt und ist dem H zum Schadensersatz verpflichtet, mag ihn sein Nachdenken über juristische Probleme noch so sehr in Bann gehalten haben.

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Die Verhaltensregeln im sozialen Kontakt nach dem Kriterium der „im Verkehr erforderlichen Sorgfalt“ festzulegen, ist Aufgabe von Gesetzgebung und Rechtsanwendung. Für den Straßenverkehr (StVO), ferner für gewisse technische Bereiche hat der Gesetzgeber den Versuch einer Detaillierung der Verhaltensvorschriften gemacht. Überwiegend bleibt diese Aufgabe jedoch der Rechtsanwendung überlassen. Bei Festlegung der Sorgfaltspflichten ist auf ein ausgewogenes Mittelmaß zu achten. Überspannt man die Sorgfaltsanforderungen, so beengt man die Handlungsfreiheit der Menschen und behindert die Dynamik des gesellschaftlichen Verkehrs. Setzt man die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zu niedrig an, so entwertet man die geschützten Rechtspositionen und setzt die rechtmäßig erworbenen Güter der Unsicherheit aus. Das Spannungsverhältnis zwischen Handlungsfreiheit, rechtsstaatlichem Schutz und sozialstaatlicher Bindung kennzeichnet die Wertungsprobleme des Deliktsrechts.

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Die Aufgabe, die Sorgfaltspflichten zu typisieren, stellt die Gesetzesanwendung vor schwierige Probleme. Eine Fülle von Leitsätzen zeugt von den Komplikationen in einer technisierten, von ständiger Unfallgefahr bedrohten Welt. Der Pflichtenkatalog erscheint häufig unter der Rubrik „Verkehrspflichten“. Soweit es um die Pflichten geht, einen räumlichen Bereich oder eine Anlage gefahrlos zu halten, spricht man von „Verkehrssicherungspflichten“. Zu diesen Begriffen werden Verhaltenskataloge erstellt, die präzisieren sollen, was in diesem oder jenem Lebensbereich „die im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ konkret von einer Person verlangt.

Die Sorgfaltspflichten werden nach sozialtypischen Situationen variiert. Bei der Beteiligung am Straßenverkehr ist ein anderes Sorgfaltsverhalten zuzumuten, als wenn man sich in der eigenen Wohnung bewegt; gegenüber Kindern sind größere Anstrengungen im Sorgfaltsverhalten am Platze als gegenüber Erwachsenen; beim Einsatz einer gefährlichen Maschine wird ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit verlangt. Wichtig ist, dass auch die Situation des Schädigers, soweit sie nach Lebenserfahrungen typisiert werden kann, auf das Maß der Sorgfaltsanforderungen Einfluss hat. Dem Arzt kann im Bereich seines Berufsfelds anderes zugemutet werden als einem Nichtmediziner; von einem alten Menschen kann nicht immer das Gleiche verlangt werden wie von einem jungen, etc.

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