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Mine

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»Mal schauen. Aber ich glaube, ich bleibe. Die kommen sonst einfach in der Nacht und holzen die Bäume ab.«

Mine hatte fertig gepackt, zuletzt noch die Isomatte an der Seite ihres Rucksacks verschnürt, sich erhoben, ihre Arme um Vedats Nacken gelegt und ihm einen Kuss auf den Mund gedrückt. Sie hatte seine Einwände nur zur Kenntnis genommen, ihren Plan aber nicht wirklich überdacht. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde, wenn es sich als notwendig erwies, im Park übernachten.

Mine war eigentlich kein sonderlich politischer Mensch. Sie las zwar Zeitungen, hatte einige Online-Nachrichtenportale abonniert und schaute abends, wenn sie Zeit hatte, auch mal die Hauptnachrichten im Fernsehen, hatte bei den letzten Wahlen aber noch nicht einmal ihre Stimme abgegeben. Warum auch? Seit sie zehn Jahre alt war, hatte Recep Tayyip Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, kurz AKP, alle Wahlen gewonnen. Mine kannte quasi keinen anderen Premier als Erdoğan. Und dass er die letzten Wahlen – die ersten, bei der sie selbst hätte wählen dürfen – wieder gewinnen würde, daran hatte kein Zweifel bestanden. Also war sie nicht hingegangen, denn die Oppositionsparteien waren aus ihrer Sicht auch keine Alternative. Entweder waren sie, wie die Kemalisten der CHP, für den jahrzehntelangen Stillstand des Landes verantwortlich, oder, wie die nationalistische MHP, diverse sozialistische und kommunistische Splitterparteien und Kurdenverbände für die liberal erzogene Professorentochter zu radikal. Ihre Eltern hatten sich am Tag nach der Wahl besorgt gezeigt, dass die AKP, diesmal mit gut fünfzig Prozent der Stimmen, erneut die absolute Mehrheit errang und weiter allein regierte. In der Folge beklagten sie bei jeder sich bietender Gelegenheit eine schleichende Islamisierung des Landes und – meinten damit auch ihre Tochter – das mangelnde politische Engagement der Jugend. Mine empfand das als Jammern auf hohem Niveau, schließlich hatten es sich ihre Eltern in ihrer Bildungsbürgerlichkeit mit allem Komfort bequem gemacht und taten auch nicht mehr, als alle vier Jahre ein Kreuz bei der CHP zu machen. Außerdem dachte sie persönlich weniger schwarzmalerisch. Gut, die Restriktionen bezüglich des Konsums von Alkohol und die ständigen Appelle an ihre Gebärfreudigkeit – drei, besser fünf Kinder sollte eine türkische Frau nach Meinung Erdoğans zur Welt bringen – gingen auch ihr auf die Nerven. Aber hatte der nun dreimalige Premierminister nicht auch etwas bewegt im Land? In Sachen Infrastruktur etwa. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer wild fluchenden Mutter stundenlang mit dem Auto im Stau gesessen hatte, auf dem Weg zum Einkaufen oder zum Arzt, so chronisch verstopft waren die Straßen gewesen. Nun fuhr sie mit der Metro eine Station von der Haltestelle Osmanbey zum Taksim-Platz und ging den restlichen Weg zu ihrer Uni, der privaten, international ausgerichteten Bilgi Universität, im Stadtteil Kurtuluş in ein paar Minuten zu Fuß. Gut, die Straßen waren zur Hauptverkehrszeit noch immer fast genauso verstopft wie früher – es gab zwar bessere Straßen, aber auch mehr Autos – und die Wagen der Metro immer voll. Aber es war doch vieles einfacher und – wie sie fand – besser geworden, und das, obwohl sich die Bevölkerung Istanbuls seit ihrer Geburt auf den heutigen Stand von vermutlich zwanzig Millionen – so genau wusste das niemand – verdoppelt hatte.

Der Schnee ihrer Kindheit war schwarz gewesen, weil es keine Zentralheizungen gab, sondern Kamine und Ölöfen, in denen in der Not auch mal alte Autoreifen verheizt wurden und uralte, klapprige Sammeltaxen und Busse ungefilterte Dieselabgase aushusteten. Nun gab es Gasheizungen und moderne Omnibusse, die Taxen fuhren mit Gasmotoren und die meisten Autos hatten Katalysatoren und Rußpartikelfilter, und so konnte sie vom Wochenendhaus der Familie auf Büyükada, der »großen Insel« im Marmarameer, sogar die Skyline der Stadt sehen, die noch vor wenigen Jahren hinter einem gelben Streifen Smog, der wie ein Vorhang ständig zwischen Himmel und Meer hing, verborgen gewesen war. Sie fand, dass Istanbul moderner und schicker geworden war. Mit seinen Einkaufsarkaden und Hochhäusern aus Glas war es ein bisschen wie London, wo sie nach dem Abitur drei Monate an einer Sprachschule verbracht hatte, weil ihre Eltern der Meinung waren, dass ihr Englisch besser sein könnte. Auch, dass junge Mädchen, wenn sie wollten, nun in den Universitäten wieder Kopftuch tragen durften, fand sie in Ordnung. Einige ihre Kommilitoninnen und Freundinnen an der juristischen Fakultät der Uni trugen Kopftücher. Solange sie es nicht müsste! Und weil sie es nicht musste, weil sie tun und lassen konnte, was sie wollte, war es für sie gut, wie es war. Sie war zweiundzwanzig, traf sich am liebsten mit Freunden, ging ins Kino, feierte und tanzte gerne, trank Alkohol. Das ging bislang eben auch unter Erdoğan.

Vedat, zwei Jahre älter als Mine, machte das alles mit. Nur wenn er sie mit zu seinen Eltern nach Hause in Kasımpaşa nahm, bat er sie manchmal, etwas anderes anzuziehen, einen etwas längeren Rock etwa. Sie tat das dann, obwohl sie insgeheim bezweifelte, dass Vedats Vater oder Mutter je an ihrer Kleidung gemäkelt hätten, die so aufreizend ohnehin nie war. Aber sie tat es dennoch gerne, hatte schließlich gewusst, dass sie einen Mann heiratete, der aus anderen Verhältnissen stammte als sie selbst. Und sie akzeptierte, dass seine Eltern eben religiöser waren als ihre, dass der Vater ständig die Holzkugeln der Tesbih durch die Finger gleiten ließ, regelmäßig zum Freitagsgebet ging, im Spind seiner Dienststelle einen Gebetsteppich hatte, um, wenn er nicht gerade auf Streife war, das ein oder andere der täglich fünf Gebete zu verrichten. Das hatte ihr Vedat erzählt. Es störte sie auch nicht, dass im Wohnzimmer über der Couch neben dem obligatorischen Bild von Kemal Atatürk, dem Staatsgründer und »Vater der Türken«, eines von Premierminister Erdoğan hing. Vedats Vater und damit auch Vedat und der Rest der Familie hatten natürlich AKP gewählt, deren Logo, eine Glühbirne, Licht und Aufbruch symbolisieren sollte, den es in Kasımpaşa ja auch tatsächlich gegeben hatte. Das war an jeder Straßenecke zu sehen. Also gab man dem Sohn des Viertels seine Stimme. Es war ihr gutes Recht, Erdoğan zu wählen, fand Mine. Auch wenn sie es eben nicht tat. Gar nicht zur Wahl gegangen war.

Die Sache mit dem Park aber fuchste Mine. Sie mochte Bäume, ihr vor der glühenden Sommersonne schützendes Grün, unter dem sie mit Kommilitonen in vorlesungsfreien Zeiten saß und schwatzte, das Rauschen der Blätter, das sie bei geöffnetem Fenster ihres Schlafzimmers auf Büyükada in den Schlaf wiegte, das leuchtend rot und gelb verfärbte herbstliche Laub. Der Gezi-Park, dem Hotel »The Marmara« – einst bestes Haus am Platz – gegenüber, war im derzeitigen Zustand sicher keine Zierde, da gab sie Vedat insgeheim recht. Er wirkte ungepflegt und vernachlässigt, die Steinplatten der vor Jahrzehnten angelegten Wege waren zersprungen, abgesunken, aufgeworfen, der Springbrunnen lief eigentlich nie und wurde als Mülleimer missbraucht. Aber es gab Bäume. Und Rasenflächen, die im August, September zwar nicht mehr grün, sondern braun waren, aber Mine und ihren Freundinnen und Freunden die Möglichkeit boten, in längeren Pausen zwischen den Vorlesungen nach einem kurzen Spaziergang den stickigen Gängen und Sälen der Uni zu entkommen. Und das sollte nun dem Nachbau einer osmanischen Kaserne weichen, mit einem kleinen Militärmuseum und integriertem Einkaufszentrum. Schnell hatte sich an der Uni eine kleine Gruppe von Studenten und auch einiger Dozenten gebildet, die dagegen waren, viele schon aus Prinzip – weil sie nicht gefragt worden waren. Die Pläne waren der Öffentlichkeit nicht vorgestellt, die Anwohner in der Planungsphase nicht beteiligt worden. Die Stadtverwaltung hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt. Nicht nur der Gezi-Park, der gesamte Taksim-Platz sollte umgestaltet werden, dafür musste die Verkehrsführung der mehrspurigen, zum Platz führenden Straßen geändert werden. Damit hatten Bautrupps gegen den Protest einer Bürgerinitiative und trotz laufender Gerichtsverfahren schon vor Monaten begonnen. Bagger und Lastwagen wirbelten hinter Absperrungen aus Metall Staub auf, wo der Tarlabaşı Boulevard in die Cumhuriyet Straße überging, die nach Nişantaşı führte, dem Stadtteil, in dem Mine geboren und aufgewachsen war und in dem sie nun mit Vedat eine eigene Dreizimmerwohnung bewohnte, die ihre Eltern ihnen zur Hochzeit geschenkt hatten. Seit dem Beginn der Arbeiten war das ewige Verkehrschaos in der Stadt noch größer geworden. Aber Mine konnte ja die Metro benutzen.

Vedat schnürte sich im engen Flur gerade die schweren Stiefel und zog die dunkelblaue Uniformjacke über, deren Aufdruck, das wusste Mine, ihn stolz machte. Denn er war kein einfacher Streifenpolizist wie sein Vater, er war Mitglied der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinsatztruppe der Polizei, die zur Abwendung von Gefahren für die öffentliche Ordnung, vor allem bei Versammlungen und Kundgebungen eingesetzt wurde.

»Komm doch einfach dazu, wenn du mit deiner Schicht durch bist. Ruf mich an und ich sage dir, wo wir sind.«

Sie drückte ihm einen Kuss auf den Mund, schulterte ihren Rucksack, zwängte sich an ihm vorbei und hatte die Wohnungstür hinter sich zugezogen, bevor Vedat noch irgendetwas erwidern konnte.

Die Tage von Gezi

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