Читать книгу Die Tage von Gezi - Martin Niessen - Страница 18

Marc

Оглавление

»Marc, hörst du das? Du musst sofort kommen, die Polizei schlägt schon wieder zu! Du musst dir das ansehen und darüber berichten!«

Die Anruferin hatte sich keine Zeit genommen, ihn zu begrüßen oder sich vorzustellen, sondern direkt losgeredet, genauer gesagt geschrien. Marc aber hatte die aufgeregte Stimme trotz der lauten Nebengeräusche sofort erkannt. Es war Mine, die junge Türkin, die er am Vortag zusammen mit dem jungen Pärchen nach dem Polizeieinsatz am Rand des Gezi-Parks getroffen hatte.

»Hallo Mine. Langsam, langsam. Was ist los?«

»Ich bin im Park. Du musst sofort kommen, die wollen einfach weitermachen und alles abreißen. Und die Polizei prügelt schon wieder mit ihren Schlagstöcken auf die Leute ein und verhaftet sie. Komm bitte!«

»Okay, ich komme. Bitte sei vorsichtig, bis gleich!«

Marc beendete das Gespräch, steckte sein Telefon ein, ließ den noch halb gefüllten Becher stehen und verließ das Café schnellen Schrittes Richtung Taksim-Platz. Obwohl er die Schreie und die Sirenen im Hintergrund gehört hatte und die Situation tatsächlich bedrohlich klang, schmunzelte Marc und dachte an gestern zurück, als Mine mit verquollenem Gesicht und vom Gas geröteten Augen, in denen eine naive, fast kindliche Empörung blitzte, auf ihn eingeredet, vom Park, den Bäumen und der Regierung erzählt hatte, die sich einen feuchten Kehricht um den Willen der Bürger scherte. Diese zierliche, hübsche, mutige junge Frau war also wieder im Gezi-Park, und wieder schien die Staatsgewalt mit Gewalt zurückzuschlagen.

Er nahm den gleichen Weg, den er am Vortag genommen hatte, die Stufen am Taksim-Platz hoch, nach links an den Absperrungen vorbei, an denen, so schien es ihm, heute noch mehr Polizisten standen, die ihn aber wieder passieren ließen, und eilte durch den kleinen Durchgang in den Park. Schon hier waren die Tumulte zu hören. Er beschleunigte seinen Schritt noch einmal, rannte fast. Die Zahl der Zelte hatte deutlich zugenommen, allerdings saß niemand drum herum. Der Lärmpegel nahm weiter zu, das Pfeifkonzert war ohrenbetäubend. Da, wo sich auch gestern schon die Demonstranten den Baumaschinen entgegengestellt hatten, am hinteren Ende des Parks, waren es nun nicht nur fünfzig, sondern sicherlich vier-, fünfhundert Menschen, die sich in einer dichten Traube versammelt hatten. Die Menge war in ständiger Bewegung, vor und zurück, nach rechts, nach links, und brandete immer wieder wie eine Welle gegen einen massiven Polizeikordon, hinter dem zwei Bulldozer eine Mauer einrissen und dabei ordentliche Mengen Staub aufwirbelten. Marc musste unwillkürlich an Gemälde von mittelalterlichen Schlachtfeldern denken, auf denen Heere im Schwarzpulvernebel geschlossen aufeinanderprallen. Immer wieder versuchten einzelne Demonstranten oder kleine Gruppen aus der Schlachtordnung auszubrechen und die geschlossenen Reihen der Polizei zu durchbrechen oder zu umlaufen. Wenn sich dann Polizisten mit erhobenen Schlagknüppeln auf sie stürzten, auf sie einprügelten und schließlich mit auf den Rücken gebogenen Armen abführten, schwollen das Pfeifkonzert und die Buhrufe noch weiter an.

Mehrere Minuten lang beobachtete Marc die Szene und versuchte gleichzeitig, Mine in der Menge auszumachen, fand sie aber nicht. Dann, ganz plötzlich, kehrte Ruhe auf der Seite der Demonstranten ein, als habe jemand einen Stecker gezogen. Ein Mann in einem karierten Freizeithemd hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und stand nun direkt vor den Polizisten und redete auf sie ein. Er hatte Papiere in der Hand, mit denen er vor ihnen herumwedelte und auf die er immer wieder zeigte. Ein Uniformierter, der sich im Hintergrund gehalten hatte, ohne Helm, Schild und Schlagstock, dafür aber mit reichlich goldenen Streifen auf den Schultern, drängte sich durch die Reihe der Polizisten und redete mit dem Mann im karierten Hemd, nahm die Papiere in die Hand, schaute darauf, sagte noch ein paar Worte zu seinem Gegenüber und ging zurück durch die Reihen der offensichtlich ihm unterstellten Polizeitruppen auf die Bulldozer zu. Mit einer knappen, aber deutlichen Bewegung seiner Hand signalisierte er den Fahrern, die Maschinen zu stoppen. Deren Motoren erstarben, sofort brandete auf der Seite der Demonstranten Jubel auf. Dem Mann im karierten Hemd wurde auf die Schultern geklopft, dann verschwand er in einer Traube von Menschen, die feiernd um ihn herumtanzten. Die Polizisten zogen sich zurück. Marc staunte. Sollte die Staatsgewalt in diesem Land tatsächlich so schnell kapitulieren? Welche Position hatte der Mann im karierten Hemd, welche Argumente?

Wie aus dem Nichts tauchte Mine vor ihm auf und fiel ihm um den Hals.

»Wir haben gewonnen, Marc. Wir haben gewonnen.«

»Mal langsam, junge Frau.«

Marc lachte und schob Mine sanft von sich, während er ob ihrer plötzlichen Herzlichkeit insgeheim hoffte, dass sie nicht in Begleitung eines Ehemannes, erwachsener Brüder oder Cousins gekommen war.

»Wer war der Typ, der mit den Polizisten gesprochen hat?«

»Das war Sırrı Önder von der BDP, der hat denen irgendetwas von einer fehlenden Genehmigung für den Abriss erzählt und sie gestoppt.«

»Aber das hat er gestern doch auch schon versucht. Sonderlich lange gehalten hat das ja nicht.«

Es tat Marc leid, das freudestrahlende Wesen, das ihm da gegenüberstand, in seiner Euphorie zu bremsen, aber er musste noch nicht einmal seine journalistische Erfahrung bemühen, um zu wissen, dass das noch nicht das Ende der Geschichte war. Dafür reichte der gesunde Menschenverstand.

»Vielleicht hast du recht, jetzt aber haben wir erst einmal gewonnen.«

Mine schien sich ihre gute Laune partout nicht verderben lassen zu wollen.

»Kommst du mit? Wir gehen jetzt erst einmal einen Kaffee trinken.«

Marc schaute hinüber zu den Baumaschinen, aus denen gerade die Fahrer kletterten und die Türen abschlossen. Die Polizisten hatten ihre Helme abgenommen, sie zu ihren Schilden und Schlagstöcken ins Gras gelegt und sich daneben gehockt. Nur von den Demonstranten, die beim Versuch, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, festgesetzt worden waren, war nichts mehr zu sehen. Sie waren offensichtlich abgeführt worden.

»Okay, warum nicht.«

Die Tage von Gezi

Подняться наверх