Читать книгу Die Tage von Gezi - Martin Niessen - Страница 12
Marc
ОглавлениеNa, prima. Marc hatte sich, bevor er losgegangen war, mit seinem Mobiltelefon ins WLAN-Netz des Hotels eingewählt und sich auf der Seite eines Kartendienstes die Lage des Turkish Airlines Büros eingeprägt, einen Screenshot des Kartenausschnitts zu machen aber dummerweise vergessen. Nun stand er am Atatürk-Denkmal mitten auf dem Taksim-Platz, rechts das Hotel »The Marmara«, vor ihm, am anderen Ende des Platzes, das geschlossene und zum Abriss vorgesehene Atatürk Kulturzentrum. Da, wo er eigentlich hin musste, nach links, versperrte ihm ein sicher hundert Meter langer Bauzaun den Weg, den ihm sein smartes Smartphone natürlich nicht angezeigt hatte. Dahinter wirbelten mehrere Bagger und Bulldozer eine ganze Menge Staub auf. Und jetzt? Die Datenroamingfunktion seines Mobiltelefons hatte er abgeschaltet, er war erstens im Urlaub und zweitens die Türkei nicht in der EU, die Preise für Internetverbindungen also horrend. Er erinnerte sich, auf der Karte eine kleine Grünfläche gesehen zu haben, die als »Gezi-Park« verzeichnet war. Vielleicht könnte er ja da durch und so die Baustelle umgehen. Er schaute sich um. Die Absperrung endete an den Stufen, die zum Park hinaufführten, er schien also offen zu sein. Marc schritt die Stufen hoch und blieb irritiert stehen. War der Park doch geschlossen? Den weiteren Weg versperrten ihm Gitter mit der Aufschrift »Polis«, dahinter, um eine kleine Hütte herum, hockten im Schatten der Bäume mehrere Dutzend Polizisten. Dann sah er aber, dass Menschen in ziviler Kleidung durch zwei kleine Durchlässe rechts und links der Absperrungen hindurchgingen. Er passierte die Absperrungen auf der linken Seite und betrat den kleinen Park, dessen betonierte Wege Risse aufwiesen und der insgesamt ungepflegt wirkte. Er musste sich links halten, erinnerte er sich, aber die Ausgänge, an denen er vorbeikam, waren allesamt vergittert. Teile einer Mauer, die den Park offensichtlich mal umgeben hatte, waren eingestürzt und gaben den Blick auf die Großbaustelle frei, die ihm den direkten Weg zum Büro der Fluggesellschaft versperrt hatte. Er ging weiter und vernahm plötzlich so etwas wie Sprechchöre, menschliche Stimmen, die gemeinsam etwas riefen. Vor sich, unter Bäumen, entdeckte er einige Zelte, zwischen die Plakate gespannt waren. »Gezi Parkı bizim!«, stand darauf. Und »Parkımızı vermiyoruz!« Was hat das zu bedeuten?, fragte sich Marc, dessen Türkischkenntnisse sich auf die Worte für »Bitte«, »Danke«, »Guten Tag«, »Auf Wiedersehen« und »Nein danke, Bruder!« beschränkten. Er ging näher, seine journalistische Neugier trieb ihn. Sie im Urlaub abzulegen gelang ihm leider nicht immer. Eher viel zu selten. Es war ein Kreuz mit seinem Riecher, Trüffelschwein hin, gute Story her. Deswegen zog er sich auch immer an möglichst einsame Orte, im Idealfall ohne Telefon- und Internetverbindung, zurück – nur dass solche Orte immer seltener wurden und Istanbul garantiert nicht dazugehörte.
Ein Gruppe meist junger Menschen skandierte etwas, das er nicht verstand, aber es war offenbar eine kleine Demonstration, die dennoch von öffentlichem Interesse sein musste, denn um die Gruppe herum standen Kamerateams und Fotografen und auch einige Polizisten, die allerdings recht gelangweilt wirkten und die Schlagstöcke locker an den Schlaufen um ihre Handgelenke baumeln ließen. Die Fahrer zweier Bulldozer hockten in den Führerhäuschen, rauchten und schauten auf die Szene herab. Ein älterer Mann, der auf der Seite der Demonstranten stand, redete aufgeregt auf einen Polizisten und mehrere Männer in Anzügen ein.
»Hallo, ich bin Marc aus England. Könnt ihr mir erklären, worum es hier geht?«
Marc fragte ein junges Pärchen, das Hand in Hand am Rand der Demonstration stand.
»Sie wollen die Bäume abholzen und statt des Parks ein Einkaufszentrum bauen. Dagegen protestieren wir.«
Der flaumbärtige Junge und seine zierliche Freundin schauten ihn mit ernsten Augen an.
»Die kommen hier einfach hin und reißen unseren Park ab! Die fragen nie, sondern machen einfach!«
Das Englisch der beiden war ziemlich gut, seines hatte einen amerikanischen Einschlag, ihres war Oxford pur.
»Wir sind Studenten an einer Uni hier in der Nähe und wir haben die Nase voll. Die können nicht einfach machen, was sie wollen. Gestern ist ein Bautrupp gekommen und hat fünf Bäume abgeholzt. Wir haben uns dann vor die Bagger gestellt und sie daran gehindert, noch mehr Bäume auszureißen. Aber jetzt sind sie schon wieder da und wollen weitermachen.«
In den Augen der jungen Frau funkelte Wut.
»Ich verstehe. Und wer ist der Mann da vorn?«
Marc zeigte auf den älteren Herrn, der noch immer wild gestikulierend mit den Anzugträgern und dem Polizisten diskutierte.
»Das ist ein Abgeordneter der BDP. Er versucht, das hier zu stoppen.«
Das politische System der Türkei war nicht gerade Marcs Spezialgebiet, aber er meinte sich zu erinnern, dass die BDP eine liberale kurdische Partei war.
»Warum interessiert Sie das?«
Nun war Neugier in ihren Augen.
»Berufskrankheit. Ich bin Journalist, aber eigentlich im Urlaub hier.«
»Sie sollten hierüber mal berichten!«
»Ich sage es meinen Kollegen, danke.«
Marc verabschiedete sich. Proteste gegen das Fällen von ein paar Bäumen in einem Istanbuler Park waren nun wirklich keine Geschichte, für die es sich lohnte, kostbare Urlaubszeit zu vergeuden, so sehr ihn die Empörung des jungen Paares auch rührte. Er ging weiter und verließ den Park am entgegengesetzten Ende. Entlang des Bauzauns lief er ein Stück zurück und schlug sich dann in eine Seitenstraße, in der er das Büro der Fluggesellschaft vermutete. Nachdem er noch ein paar Mal nachgefragt und dabei auf den Ausdruck seines elektronischen Tickets mit dem Logo von Turkish Airlines gezeigt hatte, fand er es auch, betrat das klimatisierte Kundenzentrum, zog eine Nummer und setzte sich auf einen der letzten freien Stühle im Warteraum vor den Schaltern. Es dauerte fast eine Stunde, bis seine Nummer endlich über einem der Schalter aufleuchtete, und eine weitere, bis er den Rückflug nach London um zehn Tage nach hinten verlegt, fast zweihundert Türkische Lira Gebühr und Aufpreis für die höhere Buchungsklasse gezahlt und ein neues Ticket ausgestellt bekommen hatte. Weil er hungrig war, suchte er sich ein kleines Restaurant in der Nähe und bestellte sich Adana Kebab, scharfes, auf einem Spieß gegrilltes Hackfleisch vom Rind, mit Reis und Salat. Dazu trank er einen Becher Ayran, ein Joghurtgetränk, das zu Fleisch und auf Wunsch mit frischer Minze gereicht wurde. Leicht gepfeffert und gesalzen, so hatte es ihm an seinem zweiten Tag ein Kellner beim Mittagessen erklärt, ein erfrischender Durstlöscher.
Nachdem er bezahlt hatte, beschloss er, den gleichen Weg zurückzugehen, um sich nicht in der Großbaustelle zu verlaufen. Als er den Park dort betrat, wo er ihn verlassen hatte, war von den Demonstranten weder etwas zu hören noch zu sehen. Dafür waren die Grünflächen zwischen den Bäumen nun von mehreren Dutzend Polizisten bevölkert, an deren Anblick ihn etwas irritierte. Erst, als seine Augen plötzlich zu tränen begannen und er diesen stechenden Geruch in der Nase hatte, den er von Einsätzen als Reporter kannte, von den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo etwa, wusste er, was ihn da irritierte: Die Männer in den dunkelblauen Uniformen und weißen Helmen trugen Gasmasken. Offensichtlich war hier gerade Tränengas gegen die Demonstranten eingesetzt worden. Zwei von ihnen kamen auf ihn zu. Einer zog den Helm aus, schob die Gasmaske auf die Stirn und sagte etwas auf Türkisch zu ihm. Marc zuckte mit den Schultern.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich verstehe nicht. Ich spreche kein Türkisch.«
Der Polizist antwortete erneut auf Türkisch, Marc zuckte wieder mit den Schultern und versuchte, weiterzugehen. Die Spitze eines Schlagstocks, die auf seine Brust tippte, hielt ihn zurück. Verdammt, was war hier los?
Marc schaute über die Schultern der beiden Polizisten in den Park. Die Demonstranten waren weg, die Zelte auch, nur die Reste von einigen Plakaten lagen zerknüllt auf dem Boden.
»Closed. Park closed.«
Ein dritter Polizist, Helm und Gasmaske unter den linken Arm geklemmt, war hinzugetreten und wies Marc mit drei Worten auf Englisch und seinem Schlagstock unmissverständlich den Weg. Marc fügte sich, obwohl die Sache ihn zu interessieren begann, aber man musste ja nicht gleich mit dem Kopf durch die Wand, vor allem nicht im Urlaub. Oft genug hatte er mit den Sicherheitskräften diverser Länder zu tun gehabt, um zu wissen, dass dies nicht der Moment war, sich auf eine Konfrontation einzulassen. Er zuckte noch einmal mit den Schultern und ging dann in die Richtung, die ihm der Schlagstock wies, aus dem Park heraus und vor dem Divan Hotel nach rechts, die Straße entlang, die am Hotel Intercontinental vorbei hinunter zum Stadion von Beşiktaş und zum Dolmabahçe-Palast führte. Auf einer Treppe am nordöstlichen Ende des Parks saß eine Gruppe junger Männer und Frauen. Sie hockten auf den Stufen unter von der Polizei offensichtlich als Absperrung gespanntem Flatterband.
Er erkannte das junge Pärchen wieder, das bei den Demonstranten gestanden hatte. Sie schluchzte an seiner Schulter, er, den Arm um ihre Schultern gelegt, schaute aus geröteten Augen ins Nichts. Neben ihnen hockte ein Mann, ebenfalls kaum älter als Anfang zwanzig, presste ein Taschentuch an seine rechte Schläfe, zwischen den Fingern hindurch lief Blut über Wange und Hals und färbte den Kragen seines T-Shirts rot.
»Was ist passiert?«
Marc setzte sich zu ihnen.
»Die haben plötzlich und ohne Vorwarnung mit Tränengas geschossen, uns mit Schlagstöcken aus dem Park geprügelt und die Zelte eingerissen und mitgenommen!«
Dem jungen Mann standen immer noch Entsetzen und Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Seine Freundin hob den Kopf.
»Aus dem Nichts haben die auf uns eingeschlagen! Wir haben nichts getan, nur dagestanden!«
Ihre Stimme war tränenerstickt, aber in ihren Augen blitzte blanke Wut.
»Sind Sie der Journalist aus England?«
Die Frage kam von einer jungen, sehr hübschen Frau mit dunkler Lockenmähne, die inmitten der Gruppe hockte. Marc nickte.
»Hi, ich bin Mine. Sie müssen uns helfen!«