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Kathrin

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Kathrin hatte am Morgen eine Vorlesung. Wie immer war sie mit dem Bus die drei Stationen von Kuzguncuk zum Anleger in Üsküdar gefahren, auf die Fähre nach Kabataş gestiegen, die zur Hauptverkehrszeit mit einer zweiten Fähre im Sieben-Minuten-Takt, genau die Zeit, die die Schiffe für die Querung des Bosporus brauchten, pendelte, und hatte dann die Tram genommen, um eine Station später, in Fındıklı, fast direkt vor ihrer Uni wieder auszusteigen. Fünfzehn Minuten, maximal zwanzig, brauchte sie von Haustür zu Haustür. Nicht schlecht, dachte sie häufig – wenn man in einer Stadt mit zwanzig Millionen Einwohnern lebt. Das Öffentliche Personennahverkehrssystem hatte sich in den letzten Jahren tatsächlich erheblich verbessert, das musste man der AKP und Premierminister Erdoğan, der zuvor Oberbürgermeister von Istanbul gewesen war, lassen. Indirekt hatte damit auch ihre heutige Vorlesung zu tun. »Planen im Bestand« war der Titel. Es ging um die städtebauliche Herausforderung, Historisches zu erhalten und gleichzeitig den Anforderungen an moderne Mobilität gerecht zu werden. Sie ging kurz in ihr Büro, um den Laptop zu holen, auf den sie als Beispiel einige Pläne von einem Großprojekt in Aksaray, an dem sie vor einigen Jahren mal am Rande mitgearbeitet hatte, kopiert hatte, um sie über den Beamer an die große Leinwand zu werfen.

Als sie pünktlich zu Vorlesungsbeginn um neun Uhr am Hörsaal ankam, hörte sie lautes Stimmengewirr. Sie öffnete die Tür und sah, dass kaum einer der Studenten, wie sonst üblich, saß. Fast alle standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Es gab, das konnte sie heraushören, nur ein Thema: Offensichtlich hatte sich das gewaltsame Vorgehen der Polizei im Gezi-Park herumgesprochen. Auch wenn weder die Abendnachrichten im Fernsehen noch die Tageszeitungen darüber berichtet hatten, Kathrin hatte zumindest nichts gesehen. Die ausufernde Gewalt, die so häufig bei Polizeieinsätzen gegen Demonstranten zu beobachten war, war ihr selbst auch schon häufiger aufgestoßen. Sie hatte bei einer Demo gegen den Abriss des Emek-Theaters einmal miterlebt, wie hemmungslos Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer selbst gegen friedliche Protestler eingesetzt wurden. Und die Pläne für diese nostalgische Kasernenkopie auf dem Gelände des Gezi-Parks und die gesamte Neugestaltung des Taksim-Platzes hielt sie, gelinde gesagt, für eine städtebauliche Katastrophe. Der Park selbst, immerhin von dem bekannten französischen Architekten und Städteplaner Henri Prost auf persönliche Einladung Kemal Atatürks 1936 entworfen und knapp fünfzehn Jahre später fertiggestellt, war allerdings auch keine Glanzleistung. Zumindest war er ziemlich verwahrlost. Wegen des Vorfalls gestern nun aber gleich den Lehrplan über den Haufen zu werfen und eine spontane Diskussion über Wert und Nutzen städtischer Grünflächen gegenüber denen eines Einkaufszentrums zu beginnen, ging ihr dann doch zu weit. Sollten sich die Gemüter an so etwas Profanem wie den Planungsschwierigkeiten bei der Verkehrsführung und dem Bau einer Fußgängerverbindung zwischen Metro und Tram in Aksaray abkühlen, bei der die knapp fünfhundertfünfzig Jahre alte Murat Paşa Moschee hatte mit einbezogen werden müssen. Und so verschaffte sie sich mit lauter Stimme Gehör, bat, dass sich die Anwesenden setzen mögen, wartete eine Minute, bis ihrer Aufforderung Folge geleistet worden war und begann mit der Vorlesung. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wie sie wenig später feststellen musste. Ihre Studenten blieben unruhig, beteiligten sich kaum, überall steckten Köpfe zusammen, wurde getuschelt. Kathrin verkürzte ihr Programm und beendete die Vorlesung nach einer knappen Stunde, dreißig Minuten vor der Zeit.

»Frau Professor, was sagen Sie denn dazu?«

Eine Studentin rief ihr hinterher, als sie den Hörsaal mit dem Laptop unter dem Arm verließ. Sie tat, als habe sie die Frage nicht gehört und ging schnellen Schrittes Richtung Mensa. Im Gang kam ihr ihre Kollegin Zübeida entgegen.

»Kathrin, hast du gehört, was gestern passiert ist?«

Kathrin nickte.

»Ja, und? Machst du mit?«

Zübeida wirkte ganz aufgeregt.

»Mitmachen? Wobei?«

Zübeida guckte sie etwas überrascht an.

»Na, protestieren. Im Park. Ein paar Kollegen gehen jetzt hin. Viele meiner Studenten sind schon da.«

Kathrin staunte. Zübeida, die wie sie in Kuzgungcuk wohnte, war Mitte fünfzig, hatte drei Militärputsche, die blutigen Unruhen in den Kurdengebieten und Hunderte niedergeknüppelte Demonstrationen in ihrem Land miterlebt und war dennoch Feuer und Flamme für den Widerstand von ein paar Baumschützern in einem kleinen Park? Was passierte hier?

»Ich überleg’s mir«, sagte Kathrin, wollte weitergehen, überlegte es sich dann – warum, wusste sie nicht wirklich – anders.

»Warte, ich komme mit.«

Draußen, vor dem Haupteingang des Unigebäudes, hatten sich bereits Dutzende Studenten versammelt, viele trugen Rucksäcke, an die Isomatten und Schlafsäcke geschnallt waren und zusammengerollte Stoffbahnen, offensichtlich Plakate, in den Händen, manche schwenkten türkische Flaggen. Zwischen ihnen erkannte Kathrin weitere Mitglieder des Lehrkörpers, die sich den Studenten offensichtlich anschlossen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung zur Tramstation und Kathrin trieb einfach mit. Die Studenten wirkten aufgekratzt, die Stimmung war friedlich-fröhlich, einige starteten Sprechchöre:

»Parkımızı vermiyoruz. Gezi hepimiz.«

Wir geben unseren Park nicht her, Gezi gehört uns allen.

»Toll, dass Sie mitmachen.«

Kathrin drehte sich zu der Sprecherin um, die direkt hinter ihr auf dem Bahnsteig stand. Es war die Studentin, die sie bereits beim Verlassen des Hörsaals angesprochen hatte. Kathrin lächelte etwas unsicher. Dann rollte die Tram ein. In Kabataş stiegen sie um in die Füniküler, eine Tunnelseilbahn, die hoch zur Metrostation am Taksim-Platz führte. Vom Ausgang der Füniküler zum Eingang des Parks waren es vielleicht fünfzig Meter. Der Platz war, obwohl es noch Vormittag war, bereits ziemlich voll und von allen Seiten strömten kleine Gruppen zumeist junger Leute herbei und weiter Richtung Park. Viele schwenkten Fahnen, Kathrin erkannte die Logos verschiedener Gewerkschaften und kleinerer, zumeist linker Parteien. Auf selbst gemalten Plakaten und Bannern konnte sie »Stopp demolition of Gezi-Park!« lesen, oder »Occupy Gezi«. Unwillkürlich musste sie lächeln. Schon war das Ganze internationalisiert. Aber wie hatten die sich nur so schnell organisiert?

Dann sah sie die Mannschaftswagen der Polizei, die dort aufgefahren waren, wo – seit Taksim eine Großbaustelle war – die Busse des Flughafenshuttles hielten, am nordöstlichen Ende des Platzes, vor dem Atatürk Kulturzentrum, dessen Zukunft – Abriss oder Erhalt als Museum – ebenfalls heiß umstritten war. Es waren Fahrzeuge der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinheit, die bei Versammlungen eingesetzt wurde und als besonders brutal verschrien war, mit vergitterten Fenstern und Rammblechen vor der Motorhaube. In deren Schatten hockten die Polizisten, ihre Schilde an die Wagen gelehnt, die Helme davor abgelegt. In der angrenzenden Seitenstraße meinte sie, einen Wasserwerfer auszumachen. Ihr Schritt wurde unwillkürlich langsamer, als sie noch immer in der Gruppe der Studenten und Kollegen die Stufen zum Park hinaufging. Der Zugang war oberhalb der Stufen mit Gittern der Polizei bis auf zwei kleine Durchlässe rechts und links abgesperrt. Dahinter standen, ebenfalls behelmt und mit Schilden und Schlagstöcken ausgerüstet, Polizisten der Zabita, der normalen Polizei des Bezirkes Beyoğlu. In einem vergitterten Geviert um die kleine Polizeistation des Parks, mehr eine Hütte als ein Gebäude, hockte eine ganze Hundertschaft im Schatten der Bäume. Sollte sie umkehren? Das könnte eine heiße Sache werden. In diesem Moment hakte die junge Studentin sie unter und zog Kathrin mit einem aufmunternden Lächeln in Richtung des linken Durchlasses. Als sie, noch immer am Arm der Studentin hängend, an den Absperrungen vorbei auf die offene Fläche in der Mitte des Parks trat, stand sie vor einer kleinen Zeltstadt. Dreißig, vierzig kleine Zelte in allen möglichen Farben standen am Rand, auf den Rasenflächen unter den Bäumen. Plakate waren zwischen die Bäume gespannt, mit Slogans, die sie die Studenten auf dem ganzen Weg hierhin bereits in Sprechchören hatte rufen hören. Im Schutz eines größeren, weißen Pavillonzeltes in der Mitte waren zwei Tische aufgestellt, auf denen ein Megaphon lag, dahinter standen ein paar Stühle. Zwei-, vielleicht dreihundert zumeist junge Menschen in ihren frühen Zwanzigern saßen in Gruppen davor zusammen, sangen zum Spiel von Gitarren und Darbukas, kleinen Trommeln, oder diskutierten rege. Dazwischen hockten oder standen auch einige Ältere, die Kathrin, wenn es nicht gerade Kollegen von der Uni waren, nicht kannte. Ihr Blick streifte über die Gesichter und blieb an dem eines gut aussehenden Mannes hängen, der um die dreißig sein musste. Der Mann schaute abwechselnd ernst und lächelte viel, dabei redete er unaufhörlich. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor. Aber woher? Dann fiel es ihr ein. War das nicht Can Bonomo, der bekannte Sänger? Musste wohl so sein, schließlich saß eine ganze Traube junger Frauen um ihn herum und hing an seinen Lippen. Promis waren also auch hier. Was er sagte, konnte sie über die Entfernung allerdings nicht verstehen. Die ganze Atmosphäre hatte etwas von einem spontanen Volksfest. Ihr gefiel diese bunte, fröhliche Versammlung, ein Gefühl des Unwohlseins aber blieb.

»Hallo Kathrin, was machst du denn hier?«

Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Neben ihr stand, sie hatte ihre Annäherung nicht bemerkt, eine zierliche junge Frau. Sie brauchte einen Moment, dann fiel es ihr wieder ein. Es war die Tochter einer Kollegin, Kunsthistorikern und wie sie Professorin an der Mimar Sinan, mit der sie mittlerweile eine lockere Freundschaft verband, seit sie sie auch außerhalb der Uni mehrfach auf Kulturveranstaltungen getroffen hatte. Dabei hatte die Kollegin ihr irgendwann auch mal ihre Tochter vorgestellt, die sie gelegentlich bei Theateraufführungen, Ausstellungen und Konzerten begleitete, manchmal zusammen mit einem jungen Mann, der sich als Ehemann der Tochter herausgestellt hatte. Daran erinnerte sich Kathrin, weil es sie erstaunt hatte, dass eine so junge Frau aus dieser gesellschaftlichen Schicht bereits verheiratet war. Sie hatten manchmal nach den Veranstaltungen in irgendeiner nahen Bar zusammen noch ein Glas Rotwein getrunken und sich unterhalten. Glücklicherweise fiel ihr auch der Name der jungen Frau ein. Mine hieß sie. Und noch etwas: War ihr Mann nicht Polizist?

Die Tage von Gezi

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