Читать книгу Die Tage von Gezi - Martin Niessen - Страница 17

Mine

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Mine hatte am Morgen alle Versuche Vedats, sie davon abzuhalten, wieder in den Gezi-Park zu gehen, ziemlich unwirsch zurückgewiesen.

»Da kannst du dich auf den Kopf stellen, aber ich werde nicht zulassen, dass sie dort weiter mit ihren Bulldozern wüten und alles abholzen.«

Vedat hatte geknickt gewirkt. Seine Stimme klang fast flehentlich.

»Tu mir einen Gefallen: Wenn du siehst, dass die Polizisten ihre Gasmasken aufsetzen, renn sofort weg, denn dann geht es los!«

Mine fühlte Wut in sich aufsteigen, die sie nur deshalb mühsam unterdrücken konnte, weil sie wusste, dass Vedat das falsche Ziel war und er es nur gut mit ihr meinte, sich ernsthaft Sorgen machte.

»Wenn wir ihnen keinen Anlass dazu geben, weil wir friedlich bleiben, sollte es dazu doch gar nicht kommen.«

»Du weißt, wie die Polizei ist, die …«

Vedat konnte nicht zu Ende sprechen, weil das Gift der Wut sich dann doch einen Weg gebahnt hätte.

»Und du müsstest das noch viel besser wissen. Du arbeitest nämlich für die!«

Vedat schaute, bedröppelt wie ein kleiner Junge, der beim Naschen ertappt worden war, auf seine Füße.

Sofort bereute sie ihren Ausbruch. Sie war ungerecht.

»Entschuldige, tut mir leid. Ich weiß, dass du nicht so bist.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob den Zeigefinger unter sein Kinn, hob es leicht an und küsste ihn auf den Mund.

»Ich passe auf, versprochen. Ich habe meine Lektion gestern gelernt.«

Als er etwas sagen wollte, legte sie den Zeigefinger auf seine Lippen, griff mit der anderen Hand ihren Rucksack und war schon draußen. Sie war mit einer Freundin verabredet, die ein Zelt aufgetrieben hatte und mit Mine zusammen an der geplanten Besetzung des Parks teilnehmen wollte. »Taksim hepimiz« nannte sich die Plattform verschiedener Interessengruppen, die sich von der Räumung des Protestcamps am Vortag nicht aufhalten lassen wollte. Ihr Aufruf, den Park mit Zelten zu besetzen, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, über E-Mails, Kurznachrichten und soziale Netzwerke, bei denen es sogar schon eigene Seiten gab. Als Mine im Park ankam, sah sie, dass aus den fünfzig Demonstranten des Vortages bereits fünfhundert, vielleicht auch mehr geworden waren. Sie zählte mindestens sechzig, siebzig Zelte, zwischen denen wieder Banner hingen. Allerdings hatte offensichtlich auch die Zahl der Polizisten zugenommen, sowohl am Eingang des Parks am Taksim-Platz als auch am nordwestlichen Ende, wo die Baumaschinen abgestellt waren. In der Mitte des Parks, auf der großen Rasenfläche, wo sie sich mit ihrer Freundin treffen wollte, stand ein großes weißes Zelt mit einigen Tischen und Stühlen. Auf dem Weg dorthin ging Mine an einer großen blonden Frau vorbei, die etwas verloren wirkte, wie sie da herumstand und in die Gegend starrte. Sie war schon neben ihr, als Mine erkannte, dass es eine Kollegin und Freundin ihrer Mutter war. Eine deutsche Architektin, die wie ihre Mutter an der Mimar Sinan Universität lehrte und der sie mehrmals im Theater oder in Galerien begegnet war. Eine nette Frau und um einiges jünger als ihre Mutter. Sie hatten sich direkt geduzt.

»Hallo Kathrin, was machst du denn hier?«

Kathrin hatte sich umgedreht, schaute etwas irritiert und brauchte eine kurze Weile, bis sie antwortete.

»Oh, hallo Mine. Ich nehme an, das Gleiche wie du – protestieren.«

»Cool. Ist meine Mutter etwa auch hier?«

»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe sie zumindest noch nicht gesehen. Wollte sie auch kommen?«

»Keine Ahnung, ich dachte nur, ihr habt vielleicht darüber gesprochen.«

»Nein haben wir nicht, ich bin ziemlich spontan einer Gruppe Studenten hierhin gefolgt.«

Mine nickte verstehend.

»Du, ich bin mit einer Freundin verabredet, die muss ich jetzt mal suchen. Aber wir sehen uns hier sicher noch. Und echt cool, dass du mitmachst. Wir sehen uns!«

Mine ließ Kathrin stehen und ging weiter zur Mitte des Parks, wo sie ihre Freundin Şebnem in einer Gruppe vom Kommilitonen entdeckte, die im Kreis um einen Gitarrenspieler herum saßen. Mine hatte sich gerade dazugesellt, mit großem Hallo ihre Freundin und die anderen umarmt, auf beide Wangen geküsst und sich dazwischengehockt, als aus der nordwestlichen Ecke des Parks, wo die Baumaschinen standen, ein dunkles, grollendes Geräusch zu hören war. Offensichtlich waren die Motoren der Bulldozer und Bagger angelassen worden. Sofort entstand ein gellendes Pfeifkonzert, alle sprangen auf und rannten in die Richtung, aus der die Pfiffe und erste Sprechchöre kamen. Auch Mine, die ihren Rucksack einfach liegen ließ, rannte mit. Tatsächlich hatten die Bulldozer begonnen, mit dem Abriss der Mauer fortzufahren, mit dem sie gestern begonnen hatten, bis der BDP-Abgeordnete sie gestoppt hatte. Zwischen den großen Kettenfahrzeugen und den Demonstranten – Mine schätzte ihre Zahl auf vielleicht zweihundert, sie wuchs aber ständig weiter an, weil von überall her Menschen hinzugelaufen kamen – stand eine Einheit der Bereitschaftspolizei und hielt die wütende Menge mit Schilden und drohend erhobenen Schlagstöcken zurück. Immer wieder aber gelang es einzelnen Demonstranten, durchzubrechen oder die Polizeikette zu umlaufen und sich vor die Bulldozer zu stellen und sie zu stoppen. Sofort stürzten sich meist mehrere Polizisten auf sie, zwangen sie mit Schlägen auf die Knie und zerrten sie weg, unter eine Gruppe von Bäumen, wo sie sich, von weiteren Beamten umringt, auf den Boden hocken mussten. Der Lärm war ohrenbetäubend: das Röhren der Maschinen, Schreie, Pfiffe, Sprechchöre, Sirenen von Polizeifahrzeugen. Offensichtlich hatten die Einsatzleiter Verstärkung angefordert.

Mitten in diesem Chaos, in der nach vorne und wieder nach hinten wogenden, stetig anwachsenden Menge der Demonstranten, stand, ihre Empörung größer als ihre Angst, Mine. Zum zweiten Mal nun erlebte sie, wie der Gezi-Park Schauplatz einer Konfrontation wurde zwischen Staatsmacht und Bürgern, die sich ihr widersetzten. Zum zweiten Mal war sie, die unpolitische Mine, die gerne feierte, tanzte und Alkohol trank, einer dieser Bürger. Mine nestelte in dem Gedränge ihr Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. Die von Marc.

Die Tage von Gezi

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