Читать книгу Die Tage von Gezi - Martin Niessen - Страница 14
Mine
ОглавлениеVedat lag auf dem Sofa und schaute fern, als Mine am frühen Abend nach Hause kam. Sie hatte noch über eine Stunde lang auf den englischen Journalisten eingeredet, ihm von den Plänen der Regierung erzählt, auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum zu errichten und damit eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu dem Konsum zu opfern, wie auch schon das über einhundert Jahre alte Emek-Theater in der Istiklal Straße einer Shopping Mall weichen sollte und die Polizei Anfang April Proteste von Künstlern, darunter der griechisch-französische Regisseur Costa-Gravas, mit Wasserwerfern und Tränengas beendet und unter anderen den berühmten Filmkritiker Berke Göl festgenommen hatte. Immer wütender war sie geworden. Die Regierung verschachere die kulturelle Identität der Stadt an den Kommerz, Premierminister Erdoğan sei ein Banause, der, als man beim Bau der Metro, die einmal unter dem Bosporus hindurchführen soll, die Überreste eines alten römischen Hafen gefunden hatte, abfällig von ein paar Keramikscherben gesprochen habe. Marc, der Journalist, hatte ihr aufmerksam zugehört und sie nur gelegentlich mit einer Zwischenfrage unterbrochen. Am Ende war er aufgestanden, hatte gesagt, dass er ihren Unmut verstehe, er aber nun mal im Urlaub sei, ihr aber immerhin seine Telefonnummer gegeben und versprochen, mit den Kollegen im Istanbuler Büro des Nachrichtenmagazins, für das er arbeitete, zu sprechen.
»Und? Wie war’s?«
Vedat schaute auf, als sie ins Wohnzimmer trat.
»Ist das dein Ernst? Das fragst du mich?«, giftete Mine.
»Du müsstest doch wissen, wie es war!«
»Was? Ich? Wissen? Wieso?«, stammelte er verdutzt.
»Und was ist mit deinen Augen los? Hast du geweint?«
Mine dreht sich zur Seite und schaute in den Spiegel, der in seinem verschnörkelten Rahmen über der alten Holzkommode, einem Erbstück von ihrer Großmutter, hing, und erschrak. Ihre Haare standen noch wilder vom Kopf ab als sonst, die Partie um ihre Augen war stark gerötet und angeschwollen.
»Geweint?«
Sie wandte sich wieder Vedat zu.
»Das kommt vom Gas, das deine netten Kollegen mir ins Gesicht gesprüht haben!«
»Was?«
Vedat war aufgesprungen, auf Mine zugestürzt und hatte sie mit beiden Armen an den Schultern gepackt.
»Was ist passiert? Erzähl!«
»Ich muss mich setzen, lass uns in die Küche gehen. Ich brauche jetzt erst einmal einen Tee.«
Vedat trottete hinter Mine her, die sich auf einen Stuhl an dem kleinen Küchentisch fallen ließ, während er Tee, den er wahrscheinlich wie immer direkt aufgesetzt hatte, nachdem er nach Hause gekommen war, in zwei Gläser goss, eines davon zusammen mit der kleinen Zuckerschale vor Mine stellte und sich dann neben sie auf den zweiten Stuhl setzte.
»Erzähl!«
Mine versuchte, ruhig zu bleiben. Was konnte Vedat dafür? Aber ihre Schultern, ihr ganzer Körper bebte vor Wut, Schreck und Fassungslosigkeit, als sie ihm berichtete, was im Gezi-Park passiert war. Vedat hörte sprachlos zu, bis sie fertig war.
»Und du hast davon nichts gewusst? Du bist doch bei der Polizei, das musst du doch mitbekommen haben!«
»Nein, nichts. Meine Einheit hat ganz normal Bereitschaft geschoben, wir haben den ganzen Tag in der Kaserne gehockt.«
Die gewalttätigen Übergriffe der Polizei gegen Demonstranten jeder Art waren gelegentlich Anlass für Diskussionen am Küchentisch gewesen, und immer hatte sich Vedat ihr gegenüber davon distanziert, aber nie Einzelheiten von seinen eigenen Einsätzen erzählt. Sie hatte es irgendwann aufgegeben, ihn danach zu fragen, sie bekam ohnehin immer die gleichen Antworten. Dass es sich um einige schwarze Schafe bei der Polizei handelte, die gelegentlich über das Ziel hinausschössen und so weiter.
»Versprich mir, dass du bei so etwas nicht mitmachst!«
Mine hatte sich auf seinen Schoß gesetzt, ihn umarmt und geküsst, er in ihrer Umarmung genickt.
»Die haben in der Kaserne nichts davon erzählt.«
Vedat zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Und im Fernsehen haben sie auch nichts darüber gebracht.«
»Lass gut sein, du schaust einfach die falschen Kanäle.«
Sie stritten sich manchmal, wenn Mine Halk TV oder Ulusal Kanalı einschaltete, zwei kleine, unabhängige Nachrichtensender, die politisch eher links – Vedat würde sagen: »zu links« – einzuordnen waren. Er guckte, wenn nicht einen der zahlreichen Sportsender, was meist der Fall war, staatliches TRT oder CNN Türk. Meistens gab sie nach und klappte dann ihren Laptop auf, um sich die Nachrichten, die sie interessierten, aus dem Netz zu holen. Oft war das ohnehin nicht. Die türkische Politik ödete sie an, lauter testosterongeschwängerte Typen mit Schnauzbärten, die ständig nur herumschrien – egal ob im Parlament oder im Interview. Und zu Hause, bei ihren Eltern, diese endlosen Diskussionen, die nie zu etwas anderem führten als dicken Köpfen am nächsten Tag, weil mindestens genau so viel geraucht und getrunken wie geredet wurde.
»Übrigens ist unser Zelt weg. Und mein Schlafsack auch. Das haben die einfach alles an Ort und Stelle angezündet oder mitgenommen. Ich konnte nur noch meinen Rucksack retten.«
»Ich hake mal nach, vielleicht findet sich das Zeug ja noch.«
Es klang dahingesagt. Vedat war schon auf dem Weg zur Wohnungstür, um in einem kleinen Restaurant unten an der Ecke Köfte mit Reis und Salat für das Abendessen zu holen. Mine telefonierte währenddessen mit ihrer Mutter, die natürlich besorgt und empört war über das, was ihre Tochter ihr über die Geschehnisse im Gezi-Park erzählte. Erst als Mine ihr tausendmal versichert hatte, dass mit ihr alles in Ordnung sei, und versprach, sich in Zukunft rechtzeitig vor dem Einschreiten der Polizei von solchen Kundgebungen zu entfernen – ganz verbieten könne und wolle sie ihrer Tochter ihr Engagement ja nicht –, beendete sie das Gespräch mit einem immer noch besorgt klingendem »Pass auf dich auf!«, just in dem Moment, als Vedat mit der Tüte vom Restaurant in der Hand zur Tür hereinkam. Sie aßen schweigend auf dem Sofa, die Plastikteller auf den Knien, und schauten sich auf DVD eine Raubkopie von »Ice Age 4« an, die Vedat zwei Tage zuvor mit nach Hause gebracht hatte. Das Telefon blieb den ganzen Abend über stumm, ebenso die Türklingel. Offensichtlich hatte ihre Mutter dem Vater nichts erzählt, der sonst sofort zurückgerufen hätte oder gleich vorbeigekommen wäre, um seine einzige Tochter einer umfassenden medizinischen Untersuchung zu unterziehen und anschließend befreundete Anwälte aus dem Schlaf zu klingeln, damit sie Istanbuls Polizeibehörden mit einer Klagewelle überzogen. Mine duschte, dann legte sie sich neben Vedat ins Bett.
»Ich gehe da morgen wieder hin!«
Sie beugte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen Gutenachtkuss auf den Mund.
»Lass uns beim Frühstück darüber sprechen.«
Vedats Antwort war nur noch ein Murmeln. Dann drehte er sich um und gab schon Sekunden später nur noch die ruhigen Atemgeräusche eines Schlafenden von sich.