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29.–30. Mai Marc

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Am nächsten Morgen war Marc schon recht früh wach. Er hatte sehr unruhig geschlafen, was ungewöhnlich war, schlief er doch im Urlaub in der Regel wie ein Murmeltier, acht oder neun Stunden, manchmal auch länger, als hole sich sein Körper zurück, was Marc ihm, wenn er arbeitete, insbesondere in Krisengebieten, vorenthielt. Immer wieder musste er an diese junge türkische Frau denken, Mine. Nicht nur, aber auch natürlich, weil sie mit ihren ungezähmten dunklen Locken, den großen, fast schwarzen Augen, den vollen Lippen und ihrer zierlichen, aber wohlproportionierten Figur unglaublich hübsch war. Vor allem aber wegen der Art, wie sie und wegen dem, was sie erzählt hatte. Mit den Armen gestikulierend, die Augen gerötet und geschwollen, aber vor Wut leuchtend, und in hervorragendem Englisch hatte sie ihm derart plastisch davon berichtet, mit welcher Brutalität die Polizisten gegen sie und die vielleicht fünfzig anderen Demonstranten vorgegangen war, dass er es bildlich vor sich sah: die Schlagknüppel, die auf Köpfe und Schultern trafen, in Rücken und Kniekehlen, das Tränengas, aus kürzester Entfernung in Gesichter gesprüht.

Er hatte in verschiedenen Ländern wilde Straßenschlachten erlebt, in denen Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen, mit Holzlatten, Eisenstangen, Baseballschlägern, manchmal sogar mit Messern und Schusswaffen angegriffen worden waren, dass ihm der Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas in manchen Fällen als legitimes Mittel der Selbstverteidigung vorgekommen war. Aber was er von Mine hörte, war etwas ganz anderes, die Reaktion der Einsatzkräfte schien einfach völlig überzogen. Er konnte natürlich nicht wissen, was passiert war, während er im Büro der Fluggesellschaft sein Ticket umbuchte und anschließend zu Mittag aß. Die Situation vorher aber – ein paar junge Menschen, Sprechchöre, eine Hand voll Plakate – war ziemlich harmlos gewesen, das hatte er schließlich mit eigenen Augen gesehen. Und wenig später Schwaden von Gas in der Luft, die geröteten Augen, der Junge mit der Kopfwunde.

Marc zog sich an und ging hinunter in den Frühstücksraum des Hotels, der um diese Zeit – es war erst halb acht – noch gähnend leer war, weil die meisten Touristen im Galataviertel bis in die frühen Morgenstunden in den zahllosen Bars und Clubs versumpften. Er bestellte einen Cappuccino und einen frisch gepressten Orangensaft und nahm sich den gesamten Stapel der auf einem Tischchen am Eingang ausliegenden Zeitungen mit an seinen Tisch, vier türkische, zwei englische, sogar die beiden deutschen, obwohl er die nicht lesen konnte. Nirgendwo fand er ein Foto oder auch nur ein paar Zeilen über den gestrigen Vorfall. Er zückte sein Mobiltelefon, wählte sich ins WLAN des Hotels ein und durchforstete die Online-Ausgaben der zahlreichen internationalen Medien, die er sich als Link auf die Startseite gelegt hatte. Nichts. Er fragte den Kellner, aber der zuckte nur mit den Schultern. Ob er nichts wusste oder Marcs Frage einfach nicht verstanden hatte, ließ die Geste offen.

Gegen neun verließ er das Hotel und ging über die Istiklal Straße, in der die Geschäfte fast alle noch geschlossen hatten, Richtung Taksim-Platz. Die Geschichte hatte sein journalistisches Interesse geweckt. Wie konnte es sein, dass in den türkischen Zeitungen nichts, aber auch gar nichts über einen Polizeieinsatz zu lesen war, bei dem es doch offensichtlich Verletzte gegeben hatte? Außerdem verspürte er nicht wenig Lust, Mine wiederzutreffen. Sich mit ihr zu unterhalten, war deutlich anregender als der banale Small Talk mit Straßenhändlern, Kellnern oder Touristen, auf den er sich in den ersten Tagen in Istanbul eingelassen hatte. Außerdem war sie deutlich hübscher als seine bisherigen Gesprächspartner. Auf dem Weg machte er, um sich noch nicht ganz von seinem Status als Urlauber zu verabschieden, an der Basilika St. Antonius Halt, einer etwa einhundert Jahre alten römisch-katholischen Kirche, die, eingerahmt von großbürgerlichen Häusern, etwas zurückversetzt an der Istiklal lag. Der Bau war nicht sonderlich spektakulär, wie Marc fand, aber immerhin hatte hier Paul VI. 1967 die erste Heilige Messe eines Papstes auf türkischem Boden gefeiert. Interessant war auch, dass Gottesdienste nicht nur in türkischer, sondern auch in englischer, italienischer und polnischer Sprache abgehalten wurden, weil die meisten Katholiken in Istanbul Ausländer waren. Marc selbst war nicht sehr gläubig. Klar, er war im christlichen Wertesystem aufgewachsen, aber mit Religion oder gar Kirche hatten schon seine Eltern wenig anfangen können. Er hatte allerdings einiges gelesen über die Schwierigkeiten religiöser Minderheiten in der nach offiziellen Angaben zu neunundneunzig Prozent muslimischen Türkei. Vor den Neubau nicht-islamischer Gotteshäuser waren hohe bürokratische Hürden – um nicht zu sagen: Schikanen – gesetzt, und immer wieder wurden Christen und selbst zum muslimischen Glaubensspektrum gehörige Alewiten Ziele von Übergriffen durch sunnitische Mobs, gab es gar Tote, wie den armenischstämmigen Journalisten Hrant Dink, der 2007 ermordet worden war.

Einige Hundert Meter vor dem Taksim-Platz setzte er sich in die Filiale einer amerikanischen Kaffeehauskette, die er normalerweise mied. Aber der Cappuccino im Hotel war ziemlich dünn gewesen, und er brauchte morgens einfach eine ordentliche Koffeindosis, um in Schwung zu kommen, außerdem gab es dort kostenfreies WLAN. Also bestellte er sich einen Latte macchiato mit einem dreifachen Espresso und wählte sich ins Netz ein. Diesmal benutzte er eine Internet-Suchmaschine und wurde fündig. In einem der sozialen Netzwerke stieß er auf zwei Seiten, die sich »Diren Gezi Parkı« und »Taksim hepimiz« nannten. Die Texte waren zwar ausschließlich in türkischer Sprache, auf den zahlreichen Fotos aber erkannte er einige der Demonstranten von gestern wieder. Die Bilder waren teilweise ziemlich drastisch, sie zeigten Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken, fliehende Demonstranten mit Panik in den Augen, Menschen mit blutenden Kopfwunden und brennende Zelte. Eines war besonders. Dafür hatte Marc einen Blick. Wenn die Fotografen, die ihn bei Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten begleiteten, ihm die Fotos des Tages auf dem Laptop zeigten, wusste er meist schon, welche später von der Fotoredaktion zur Illustration seiner Artikel ausgewählt wurden. Dieses zeigte eine Frau in einem roten Kleid, mit einer weißen Umhängetasche über der rechten Schulter, der ein Polizist aus nächster Nähe eine Ladung Tränengas ins Gesicht sprühte. Der Druck des Gases ließ ihre langen Haare nach oben stehen, als hänge sie kopfüber. Es hatte sie offensichtlich völlig ohne Vorwarnung getroffen, eine Unbeteiligte, deren Körperhaltung keinerlei Abwehrreaktion erkennen ließ, die rechte Hand den Tragegurt der Tasche umfassend, die linke am ausgestreckten Arm locker herunterhängend. Hätte er einen Artikel über Polizeigewalt geschrieben, das wäre das Bild dazu gewesen. Während er seinen dreifachen Espresso mit geschäumter Milch schlürfte, schaute er wie gebannt auf dieses eine Foto. Bis das Telefon in seiner Hand erst vibrierte und dann klingelte.

Die Tage von Gezi

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