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Vorwort

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Es war reiner Zufall, dass ich Zeuge wurde. Zeuge einer kleine Revolte, die sich an dem Abriss eines Parks entzündete, der einem Einkaufszentrum weichen sollte und sich zu einer Bewegung auswuchs, die weite Teile eines Landes erfasste, das ich seit mehr als zwanzig Jahren kannte und das mir sehr ans Herz gewachsen war. Ich wurde letztendlich Zeuge des Erwachens einer türkischen Zivilgesellschaft und einer Lehrstunde für das, was Demokratie ist und was nicht.

Wie Marc, eine der Hauptfiguren im vorliegenden Roman, war ich am 28. Mai durch Zufall im Istanbuler Gezi-Park, als es dort zu den ersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kam. In den folgenden Tagen und Wochen erlebte ich, wie sich Menschen mit viel Kreativität, Entschlossenheit und Mut einer zunehmend autoritärer und brutaler handelnden Regierung widersetzten, deren Argumente Wasserwerfer, Tränengas und Polizeiknüppel waren. Es ging nicht mehr um das Abholzen von ein paar Bäumen, sondern – um dieses große Wort zu bemühen – um Freiheit. Zumindest um die Freiheit, über den eigenen Lebensstil zu entscheiden. »Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie viele Kinder ich zu bekommen habe, und mich nicht als Trinkerin beschimpfen lassen, weil ich abends ein Glas Rotwein trinke«, sagte mir eine Frau Mitte vierzig, die im schwarzen Businesskostüm mit Freundinnen im Gezi-Park saß und der angedrohten Räumung trotzte. »Es schmeckt nach Freiheit«, riefen Demonstranten, während ich im Tränengasnebel nur noch nach Luft schnappte.

Für eine kurze Zeit existierte mit der Kommune von Gezi in der tief gespaltenen türkischen Gesellschaft eine Utopie, in der es egal war, ob man Türke oder Kurde, Kemalist oder Kommunist, hetero oder homosexuell war, als Frau ein Kopftuch trug oder nicht. Die türkische Regierung ließ den Park mit brutaler Gewalt räumen. Aber der Geist, der dort entstand, ist aus der Flasche.

»Die Tage von Gezi« ist ein Roman, der sich vor dem realen Hintergrund der Ereignisse in Istanbul zwischen Ende Mai und Ende Juni 2013 abspielt. Die Hauptakteure in diesem Roman sind frei erfunden, ebenso ihre Handlungen, wenn auch auf persönlichen Erfahrungen oder denen von Freunden und Bekannten basierend. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan ist natürlich nicht erfunden, ebenso wenig diverse andere Mitglieder der Regierungspartei AKP und weitere Personen der Zeitgeschichte, die hier namentlich genannt werden. Und selbstverständlich finden auch Pinguine, Kochtöpfe, die »Frau in Rot«, der »Stehende Mann« und viele andere, die zu Symbolen der Widerstandsbewegung wurden, ihren Platz in diesem Buch. Genauso wie ihre Sprechchöre, Graffitibotschaften und Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Ich habe die Romanform gewählt, weil es für mich nach meinen persönlichen Erlebnissen in diesen fünf Wochen keine zwei Meinungen gab. Und ich diese eine, meine, Meinung nicht den journalistischen Prinzipien der Neutralität und Objektivität opfern wollte. Die Geschichte möge mir verzeihen.

Martin Niessen, im Mai 2014

»Demokratie ist für uns eine Straßenbahn, aus der wir aussteigen, wenn wir unser Ziel erreicht haben.« [Recep Tayyip Erdoğan]

»Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!« [Motto der Protestbewegung]

Die Tage von Gezi

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