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28. Mai Mine

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»Wegen der paar Bäume?«

Vedat schaute auf Mine herab, die auf dem Fußboden saß und das kleine Zweimannzelt, ihren Schlafsack und eine Regenjacke in ihren Rucksack packte.

»Außerdem ist der Park total hässlich, da liegen nur Müll und Penner herum!«

Er schien irgendwie sauer zu sein. Aber sie war es auch. Gerade hatte sie ihm erzählt, dass sie im Istanbuler Gezi-Park mit einigen Freunden gegen das Abholzen von Bäumen protestieren wolle. Der Park im Zentrum der Stadt sollte dem Nachbau einer Osmanischen Kaserne mit Ladengeschäften weichen. Studenten ihrer Uni hatten eine Demo gegen die Pläne der Stadtverwaltung organisiert. An der wollte sie teilnehmen. Vedats Desinteresse in dieser Sache machte sie wütend.

»Warum willst du das nicht verstehen? Es geht nicht darum, ob der Park schön oder hässlich ist. Es geht darum, dass er eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu ist. Und Einkaufszentren haben wir wahrlich genug. Ganz im Gegensatz zu Bäumen!«

Ihre großen braunen, fast schwarzen Augen unter der wilden Mähne dunkler Locken blitzten, als sie kurz zu ihm hochschaute und dann weiter Campingausrüstung und ein paar frische Klamotten in den Rucksack stopfte. Klar, Vedat hatte es wahrlich nicht immer leicht mit ihr. Wenn Mine sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es gegen jeden Widerstand durch. Sie wusste, dass sie aufbrausend und ihm gegenüber manchmal auch ungerecht sein konnte, dass mit ihr, wenn sie sauer war, nicht gut Kirschen essen war. Aber so war sie nun mal. Meist zuckte Vedat irgendwann mit den Schultern und gab klein bei. Auch dieses Mal schlug er nach ihrem Ausbruch einen versöhnlichen Ton an.

»Musst du da denn gleich übernachten? Es reicht doch, wenn du tagsüber demonstrierst und abends zurückkommst. Ich mache mir einfach Sorgen. Der Park ist, wenn es dunkel ist, nicht sicher.«

Sie schaute wieder hoch. So leicht wollte sie es ihm nicht machen, dafür war ihr die Sache zu wichtig.

»Ich bin ja nicht allein da. Außerdem kannst du ja nach Dienstschluss nachkommen. Ein bisschen mehr Engagement für die Natur würde dir auch nicht schlecht zu Gesicht stehen!«

Um Vedats Lippen spielte trotz der harschen Worte ein Lächeln.

»Ist ja gut, du kleine Kratzbürste.«

Auch sie musste nun lachen. Genau deswegen hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war ein sehr humorvoller, zurückhaltender Mann, der ihr von Anfang an äußerst respektvoll begegnet war und bis heute ziemlich klaglos ihre Ecken und Kanten akzeptierte. Vedat war keiner dieser Machos, die sich erst verständnisvoll gaben und beim dritten Date schon den Herrn im Haus rauskehrten. Seit elf Monaten waren sie verheiratet, eine echte Liebesheirat, keine von den Familien ausgehandelte, wie es vielfach noch immer der Fall war in der Türkei. Ein knappes Jahr vorher hatten sie sich kennengelernt, über drei Ecken, über Freunde von Freunden, in einem der Musik-Clubs, die die Seitengassen der Istiklal Straße im Herzen Istanbuls zwischen Taksim-Platz und Galataturm zum Treffpunkt der Jugend der Stadt und der Welt machten. Sie hätten sonst nie zusammengefunden, so unterschiedlich, wie sie waren, genauer gesagt: ihre Herkunft war.

Sie, die Jura-Studentin aus bürgerlichem Haus, geboren und aufgewachsen im Nobelviertel Nişantaşı mit seinen internationalen Modeboutiquen und exklusiven Cafés, nicht weit vom Taksim-Platz entfernt. Die Eltern Professoren an verschiedenen Istanbuler Universitäten, der Name des Vaters, der als einer der angesehensten Radiologen im Land galt, schmückte zudem eine teure Privatklinik. Sie hatten mit Religion nicht viel am Hut, ein Wochenendhaus auf den vorgelagerten Prinzen-Inseln, wo man dem Smog und der Hektik der Stadt entkommen konnte, und ein Ferienhaus bei Bodrum an der Mittelmeerküste. In Mines Elternhaus traf sich Istanbuls Bürgertum – Ärzte, Architekten, Juristen, Künstler – zu ausgedehnten Abendessen, bei denen Rotwein und Rakı flossen, der anishaltige Schnaps, mit Wasser und Eis getrunken, worauf er sich milchig verfärbte und deswegen »Löwenmilch« genannt wurde. Mine hatte schon in jungen Jahren mit am Tisch gesessen, wenn in illustrer Runde über Gott, die Welt und große Politik diskutiert wurde.

Und er, der hochgewachsene und gut aussehende Polizistensohn aus Kasımpaşa, ausgesprochen höflich, die Sprache geschliffen und ohne den in Istanbuls Arbeitervierteln verbreiteten harten Einschlag des Ostens, der noch mit seinen Eltern, zwei Schwestern und der Großmutter väterlicherseits zusammen in einer Vierzimmerwohnung in jenem einst heruntergekommenen Stadtteil am Goldenen Horn wohnte, der erst in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren hatte, weil der derzeitige türkische Premierminister Erdoğan dort aufgewachsen und plötzlich Geld für die Restaurierung alter Häuser und für gläserne Neubauten vorhanden war. Seitdem hatte der Fußballclub von Kasımpaşa ein schickes neues Stadion und 2012 sogar den Aufstieg in die Süper Lig, die höchste Spielklasse, geschafft. Trotzdem war Kasımpaşa traditionell geblieben, um nicht zu sagen: konservativ. Die meisten Frauen trugen Kopftuch, die Männer ließen unaufhörlich die Holzkugeln der Tesbih, der Gebetskette, durch ihre Finger gleiten, Töchter heirateten früh und Söhne traten in die Fußstapfen ihrer Väter. Und so war auch Vedat der Familientradition gefolgt und Polizist geworden.

Mine wusste, dass ihre Eltern nicht sonderlich glücklich über die Wahl ihrer einzigen Tochter, aber gleichzeitig zu liberal eingestellt waren, als dass sie wirklich versucht hätten, ihr die Beziehung zu Vedat auszureden oder gar zu verbieten. Sie äußerten allerdings – und nicht nur einmal – die Befürchtung, dass es nicht gut gehen würde mit einer Professorentochter und einem Polizistensohn, zu verschieden seien die Lebensumstände und -vorstellungen. Allerdings wussten sie auch nicht von entsprechenden Negativ-Beispielen im Verwandten- oder Bekanntenkreis zu berichten, denn solche Verbindungen waren in der Türkei auch zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend rar. Auf dem Land und in religiösen Familien heirateten noch immer – und gar nicht selten – Cousins Cousinen und bei den säkularen städtischen Eliten blieb man gerne unter sich. Standesdünkel aber hätte Mine ohnehin nicht akzeptiert, von Eltern, die am Tisch mit ihren Freunden rotweinselig von Gleichheit und Brüderlichkeit fabulierten, von Religions- und Meinungsfreiheit als unveräußerlichen Menschenrechten. Eltern, die die Spaltung der türkischen Gesellschaft in einen religiösen und einen kemalistisch-laizistischen Teil als Damoklesschwert über dem Land betrachteten, um sich im nächsten Satz Sorgen um die ungleichen Geburtenraten und den Kurs der AKP-Regierung zu machen. Mine aber hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt, außerdem war sie bereits volljährig, als sie Vedat kennenlernte. Und so musste sie auch nicht mit Auszug drohen oder damit, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen, um letztendlich deren Segen für ihre Hochzeit mit Vedat zu erhalten.

Die Tage von Gezi

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