Читать книгу Die Tage von Gezi - Martin Niessen - Страница 20
Marc
ОглавлениеEr wurde wach, weil sein Mobiltelefon auf dem Nachttisch vibrierte. Marc schaute auf seine Armbanduhr, die er – eine seiner Angewohnheiten – nie ablegte. Es war bereits halb zehn. Er tastete nach seinem Handy. Die SMS war kurz und bündig: »Gehe jetzt in den Park. Polizei hat versucht, ihn zu stürmen. Kommst du?« Keine Ansprache, kein Gruß am Ende. Er musste trotz des Inhalts unwillkürlich lächeln. Die Nachricht war von Mine. Sie waren gestern mit einigen ihrer Freunde erst einen Kaffee trinken gegangen, dann noch einen und noch einen, bis er Hunger bekam. Mine und – wie hießen die drei anderen, zwei Frauen, ein Mann, noch: Meltem, Serap und Yaşar? Namen, vor allem so fremd klingende, waren für ihn Schall und Rauch – schleppten ihn daraufhin in ein kleines Restaurant in einer Seitengasse der Istiklal Straße, wo sie auf Holzschemeln an einem klapprigen Tisch mit Spinat, Käse, Hackfleisch oder verschiedenem Gemüse belegte Pide aßen, pizzaartige Teigfladen. Dazu tranken sie Ayran. Er kam sich vor wie ein Blitzableiter, so sehr fluchten die drei jungen Türken über ihren Premierminister. Dass er ihnen den Alkohol verbieten wolle – beim letzten Efes-Festival habe es schon keinen mehr gegeben, obwohl Efes, der größte Bierbrauer der Türkei, der Hauptsponsor des mehrtägigen Musikfestivals sei. Dass er den Bars und Restaurants untersagt habe, Tische und Stühle rauszustellen, nur weil er da mal mit dem Auto nicht durchgekommen sei. Dass er Kultureinrichtungen schließen lasse, wie das Emek-Theater, dafür aber an jeder Ecke Einkaufszentren und Moscheen aus dem Boden schössen. Richtig in Rage redeten sich die drei, nachdem sie das Etablissement gewechselt und in eine Bar auf dem Dach eines mehrgeschossigen Altbaus umgezogen waren, wo eine Flasche Rakı bestellt und zügig in Angriff genommen wurde. Marc hatte zunächst geduldig zugehört, was ihm bei der wummernden Punk-Musik, die dort in konzerttauglicher Lautstärke gespielt wurde, zunehmend schwerer fiel, weil der türkische Schnaps die Zungen seiner Tischnachbarn derart lockerte, dass sich ihr Englisch in ein nuscheliges Kauderwelsch verwandelte und seine Auffassungsgabe sich gleichzeitig deutlich verlangsamte, bis er irgendwann nicht mehr folgen konnte und begann, in der Gegend herumzustarren, worauf Mine, Meltem und Erol plötzlich mehr miteinander als auf ihn einredeten und dabei – natürlich – ins Türkische verfielen. Gewohnheitsgemäß schaute Marc auf die Uhr. Kurz nach halb eins, Zeit zu gehen. Schließlich wollte er am nächsten Morgen recht früh am Dolmabahçe-Palast sein, im Idealfall noch vor den ersten Tourbussen. Er hatte sich unter heftigem Protest seiner Trinkgenossinnen und -genossen verabschiedet und war zur Theke gegangen, wo er die Flasche Rakı bezahlte, weil die Studenten ihn trotz heftiger Gegenwehr schon zum Essen eingeladen hatten, wobei ihm erneut auffiel, wie teuer doch Alkohol im Vergleich zu so vielen anderen Dingen war.
Marc legte das Handy zurück auf den Nachttisch, bekam beim Aufstehen einen leichten Schwindelanfall und bemerkte auf dem Weg zur Dusche, dass sein Schädel brummte, was sich erst – aber auch nicht vollständig – legte, als er unten im Frühstücksraum den üblichen Cappuccino und ein Glas frischen Orangensaft, dessen Säure ihm allerdings aufstieß, getrunken hatte. Und das mit dem frühen Aufstehen hatte auch nicht wirklich funktioniert, er hatte offensichtlich vergessen, sich den Wecker zu stellen. Wenn es im Dolmabahçe bereits zu voll ist, mache ich halt etwas anderes, dachte er sich und tippte eine Antwort an Mine in sein Mobiltelefon: »Hi Mine. Geht es dir gut? Will jetzt erst einmal in den Dolmabahçe-Palast. Melde mich später. LG, Marc«. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da kam die Antwort. Wie schnell manche Leute auf diesen winzigen Tastaturen herumtippen konnten, war ihm ein echtes Rätsel. »Okay. Solltest danach aber kommen. Muss wild gewesen sein. Mine«.
Marc kämpfte mit sich. Sollte er doch lieber in den Gezi-Park? Istanbuls Sehenswürdigkeiten rannten schließlich nicht weg. Er machte sich wirklich Sorgen um diese temperamentvolle Türkin mit den großen Augen und dem breiten Lachen. Doch er entschied sich anders. Von einer Frau, die kaum mehr als halb so alt war wie er, aus einem völlig anderen Kulturkreis kam und Muslima war, sollte er wohl besser die Finger lassen. Außerdem hatte er die letzten beiden Tage zum größten Teil im oder zumindest thematisch mit dem Gezi-Park verbracht, dabei war er doch, verdammt noch mal, im Urlaub! Er würde später mit Mine telefonieren. Ohne in die bereitliegenden Zeitungen zu schauen, verließ er Frühstücksraum und Hotel, um durch die kleinen Gassen hinab zur Tramhaltestelle in Karaköy zu gehen und von dort nach Kabataş zu fahren.
Sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt zu bewegen war wirklich einfach. Er hatte eine »Istanbul Kart«, die sowohl in der Straßenbahn als auch in der Metro, in Bussen und auf Fähren galt. An entsprechenden Lesegeräten wurde der zu entrichtende Betrag von der Karte abgebucht, aufladen konnte man sie an Automaten oder kleinen Kiosken, die es nahezu überall gab. Sehr praktisch. In Kabataş, der Endhaltestelle, stieg er aus und ging die restlichen zweihundert Meter zum ehemaligen Sultanspalast und Amtssitz Kemal Atatürks zu Fuß, an der Valide Sultan Moschee, die im Volksmund nur Dolmabahçe Moschee hieß und direkt am Bosporus lag, und dem Beşiktaş-Stadion auf der anderen Straßenseite vorbei. Der Parkplatz vor dem Haupteingang des Palastes war schon voller Touristenbusse und Marc konnte bereits aus einiger Entfernung die Schlangen an den Kassen und der Sicherheitsschleuse sehen. Abschrecken lassen wollte er sich davon nicht, der Dolmabahçe gehörte schließlich zum Pflichtprogramm für Istanbul-Besucher, und besser würde das mit den Besuchermassen ohnehin nicht. Im Gegenteil, es war Donnerstag und am bevorstehenden Wochenende kamen zu den ausländischen Touristen auch noch die türkischen. Also stellte er sich an und war erstaunt, dass er ob der sicher fünfzig Meter langen Schlangen innerhalb einer Viertelstunde sein Ticket gekauft und die Sicherheitsschleuse passiert hatte. Das Angebot von Guides, die ihm auf dem Weg zum Eingang des Palastes vielsprachig ihre Dienste anpriesen, lehnte er dankend und auf seinen dicken Reiseführer verweisend mit einem lockeren »Yok, sağ ol, abi« ab. Als eine junge Frau mit schwarzer Hornbrille daraufhin laut loslachte und ihm in akzentfreiem Englisch »Abla, Sir, abla! I am a woman!« hinterherrief, war er kurz irritiert, bis ihm einfiel, dass »abi« ja Bruder hieß. Er drehte sich um, grinste und baute das neu Gelernte direkt in seinen Wortschatz ein: »Teşekkürler, abla!« Vielen Dank, Schwester. Er erntete ein zufriedenes Grinsen und ging weiter.
Drei Stunden wanderte er durch das sechshundert Meter lange Gebäude, das Sultan Abdülmecid I. Mitte des 19. Jahrhunderts bei zwei armenischen Architekten in Auftrag gegeben hatte, staunte über Protz- und Verschwendungssucht in mehr als zweihundertachtzig Zimmern und fast fünfzig Sälen, stand beeindruckt in der über und über mit Gold verzierten Halle, in der die Herrscher über das Großreich Diplomaten empfingen, bewunderte die für die damalige Zeit äußerst fortschrittlichen Toiletten mit Wasserspülung in den mehr als siebzig Badezimmern und Hamams, fühlte sich im zweitausend Quadratmeter großen Muayede Salonu mit seiner sechsunddreißig Meter hohen Kuppel und dem viereinhalb Tonnen schweren, größten Kristallkronleuchter der Welt klein wie eine Ameise und stand für einen kurzen Moment vor Atatürks Sterbezimmer mit der großen türkischen Flagge auf dem Bett und der um fünf Minuten nach neun angehaltenen Uhr, jenem Moment des 10. November 1938, als der als »Vater der Türken« verehrte Staatsmann für immer die Augen geschlossen hatte, bevor er von den nachdrängenden Besucherhorden weitergeschoben wurde.
Nach so viel Gold und Großmannssucht brummte sein Schädel noch mehr und Marc setzte sich im Garten vor dem Haupttor in ein Café, dessen Terrasse direkt am Bosporus lag. Er bestellte einen mittelsüßen Türkischen Kaffee und starrte auf die vorbeifahrenden Schiffe. Ein weißer Kreuzfahrtriese, der gerade in Karaköy abgelegt hatte, lief mit tiefem Horn tutend ins Marmarameer aus, Fähren kreuzten zwischen Europa und Asien, Container- und Frachtschiffe fuhren wie an einer Perlenkette aufgereiht, allerdings mit ausreichendem Abstand voneinander, den Bosporus hinauf. Die Meerenge war aus Sicherheitsgründen Einbahnstraße und nun war die Richtung Schwarzes Meer dran. Fast zwei Stunden saß er so da, schaute stumpf auf glitzerndes Wasser und weiße Schiffsrümpfe und ließ sich Tee bringen, bis die Lebensgeister zurückkehrten und sich in Form eines Hungergefühls meldeten. Er zahlte, ging zurück nach Kabataş und nahm die Füniküler hoch zum Taksim-Platz. Er hatte den unterirdischen Bahnhof gerade über die lange Treppe verlassen, als ihn irgendetwas nach rechts gehen ließ. Zum Gezi-Park. Er musste grinsen. Diese jungen Leute mit ihrem auf ihn ein bisschen naiv wirkenden Engagement für ein paar Bäume hatten es ihm offensichtlich angetan. Besonders Mine, mit ihren wilden Locken, den großen Augen, in denen immer irgendein Funkeln war, und den vollen Lippen, die stets geöffnet waren, weil Mine entweder redete oder lachte und ihre sehr weißen, sehr ebenmäßigen Zähne entblößten. Hey, du alter Sack, sie könnte fast deine Tochter sein!, ermahnte er sich, noch immer grinsend. Er registrierte, eher unterbewusst, dass von allen Ecken des Platzes große Gruppen zumeist junger Leute Richtung Park zogen. Und plötzlich hatte er wieder dieses Kribbeln in der Nase. Tränengas! Im Laufen nestelte er sein Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigte ihm fünf Anrufe in Abwesenheit und den Eingang von drei Kurznachrichten an. Der erste Anruf war von halb elf, da hatte er gerade mit der Besichtigung des Dolmabahçe begonnen, der letzte war vor knapp zwanzig Minuten eingegangen, die SMS waren in der Zeit dazwischen gekommen. Absender und Anrufer waren ein und dieselbe Person: Mine. Er verfluchte sich, weil er sein Telefon auf stumm geschaltet hatte, drückte auf die Rückruftaste und rannte die Stufen zum Park hoch. Die Leitung war besetzt. An den Absperrungen standen mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten, deutlich mehr als in den beiden Tagen zuvor. Erst jetzt registrierte er die Mannschaftsbusse, die zu beiden Seiten des Parks abgestellt waren. In deren Schatten saßen noch mehr Polizisten, tranken Wasser aus kleinen Plastikflaschen, die meisten rauchten, manche wirkten erschöpft, als hätten sie einen ziemlich harten Einsatz hinter sich. Einige hatten dickläufige Gewehre auf den Knien liegen. Er kannte diese Art Waffen. Sie waren zum Abschießen von Gasgranaten.
Dass er ungehindert den Park betreten konnte, wunderte ihn. Lag es daran, dass er, groß und blond, offensichtlich ein Tourist war? Oder hatten die Polizisten sich dem Druck der Massen gebeugt? Im Park war die Menschenmenge auf mehrere Tausend angewachsen, die auf freien Flächen Zelte aufbauten, in Gruppen zusammenstanden oder auf dem Boden hockten. Fast alle sprachen aufgeregt miteinander. Was, konnte er nicht verstehen. Er sah, dass mehrere Männer Pflaster im Gesicht trugen oder Verbände um den Kopf, im Gras entdeckte er Reste von zerrissenen Zeltplanen und Plakaten, dazwischen schwarze Klumpen, die sich bei näherem Hinsehen als zusammengeschmolzene Synthetikstoffe entpuppten. Als seien Zelte angezündet worden. Oh Mann, dachte er, das muss wirklich heftig gewesen sein. Aber wie sollte er in diesem Chaos Mine finden? Er drückte auf Wahlwiederholung. Diesmal bekam er die Nachricht, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Eine gute Stunde irrte er durch den Park, auf der Suche nach Mine, versuchte immer wieder, sie telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg. Entweder hatte sie ihr Handy ausgeschaltet oder der Akku war leer. Er sprach ein paar junge Leute an, die im Gras saßen, und erfuhr so, dass die Polizei am frühen Morgen, gegen fünf Uhr, das Camp der Parkbesetzer gestürmt und unter dem Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas geräumt hatte. Mehrere Menschen seien dabei verletzt, andere verhaftet worden. Die Zelte der Demonstranten habe man niedergerissen oder einfach abgefackelt. Danach habe sich die Polizei wieder zurückgezogen. Seine Sorge um Mine wuchs. War sie nach der Rakı-Sause in der Bar noch in den Park zurückgegangen oder doch nach Hause? Alle paar Minuten betätigte er die Wahlwiederholungstaste, schickte Kurznachrichten mit der Bitte, sich zu melden. Aber er bekam keine Antwort. Mines Telefon blieb abgeschaltet. Von den drei anderen, die gestern dabei gewesen waren, hatte er keine Nummern, und auch sonst fiel ihm keine Möglichkeit ein, Kontakt zu Mine aufzunehmen. Er kannte ja noch nicht einmal ihren Nachnamen. Es dämmerte bereits, als Marc aufgab. Er merkte, dass der Hunger ihm mittlerweile ein Loch in den Bauch bohrte, schließlich hatte er an diesem Tag noch rein gar nichts gegessen. Er verließ den Park und ging Richtung Nevizade, einer Bier- und Fressmeile in der Nähe der Istiklal Straße. Bei gegrillter Dorade, die er ziemlich lustlos und nicht sehr geschickt zerteilte, sodass er ständig Gräten ausspucken musste, und einem frisch gezapften Bier, mit dem die Kopfschmerzen und die leichte Übelkeit, die ihn den ganzen Tag begleitet hatten, verschwanden, und ohne einen Blick für das rege Treiben in der engen Gasse wählte er sich in das WLAN-Netz des Restaurants ein und suchte im Internet nach Informationen über den Polizeieinsatz am Morgen. Er fand ein paar kurze Meldungen von Nachrichtenagenturen und auf einem Videoportal einige wackelige Filmschnipsel, die ein aus seiner Sicht ziemlich überzogenes und brutales Vorgehen der Polizei zeigten, was nicht gerade dazu angetan war, ihn zu beruhigen. Von Rakı ließ er an diesem Abend die Finger.