Читать книгу Vollgasfußball - Martin Rafelt - Страница 19
Fehleranalyse
ОглавлениеIn diesem Zusammenhang ist wichtig, wie Klopp der Öffentlichkeit Spiele beschreibt. Er fokussiert sich bei Gegentoren auf die taktischen Aspekte und erklärt die Partien häufig nicht so sehr über die Zeitpunkte der Tore, sondern eher durch die Dominanzverhältnisse. Wann war meine Mannschaft gut im Spiel, wann hatten wir keinen Zugriff? Vor allem: Warum war das so? Dabei ist er sehr konkret. Welche Abläufe haben funktioniert, welche waren weshalb nicht passend? Auch legt er das Geschehen auf dem Feld immer wieder neben den Plan, mit dem seine Mannschaft ins Spiel ging.
Letzteres bezieht sich dann meist auch auf die Eigenheiten des Gegners, womit er die taktische Vorbereitung auf das Spiel unterstreicht. Generell beziehen sich seine Punkte häufig nicht nur auf Aspekte der eigenen Mannschaft, sondern auf die Wechselwirkungen mit dem Gegner. Hier erkennt man erneut Klopps Kompetenz, das Spiel als Ganzes zu begreifen und analysieren zu können. Es ist auch nicht zu unterschätzen, wie viel Disziplin dies erfordert: Da man als Trainer die ganze Woche lang nur am Spiel der eigenen Mannschaft werkelt und nur darauf unmittelbaren Einfluss hat, neigt man stark dazu, sich auch während des Spiels zu sehr darauf zu fokussieren. Das Augenmerk auf das gegnerische Spiel vernachlässigt man dann leicht. Elf zusammengehörige Referenzpunkte lassen sich auch leichter überblicken als 22 Referenzpunkte, die gegeneinander agieren. Deshalb neigen viele Trainer dazu, Erklärungsansätze innerhalb des eigenen Teams zu suchen, ohne die Gesamtstruktur des Spiels ausreichend zu berücksichtigen.
Das alles heißt erst einmal, dass er nicht in die Defensive geht und sich für negative Ergebnisse entschuldigt oder für positive Ergebnisse feiert. Stattdessen strebt er nach der Deutungshoheit über das Spiel und unterstreicht seine inhaltliche Autorität. Andere begründen das Ergebnis aus ihrer subjektiven Rolle als Beteiligter heraus, Klopp erklärt das Spiel von einem objektiveren Standpunkt aus. Zu Zufällen bewahrt Klopp meistens eine kühle Distanz. Er nutzt Fehler des Schiedsrichters oder unglückliche Situationen nicht in großem Maße als Erklärung oder Entschuldigung für die Leistung seiner Mannschaft. Er nennt solche Aspekte zwar meist kurz, ohne aber näher darauf einzugehen, und betont dann vielmehr die mannschaftliche Leistung. Zuweilen spielt er die Zufälle sogar herunter, um die Mannschaftsleistung hervorzuheben.
„Our play was shit, so the linesman couldn’t believe our goal.“
Klopp nach einer Niederlage mit Liverpool gegen Newcastle, bei der der Ausgleichstreffer fälschlicherweise wegen Abseits aberkannt wurde
Die Einordnung der taktischen Leistung ist der wesentlichste Aspekt der Klopp’schen Fehleranalyse. Interessant dabei ist, dass er einen hohen Maßstab anlegt. Er ist meist erst dann zufrieden, wenn man taktisch klar überlegen und nahe am Optimum war; ansonsten legt er den Finger eher auf die Defizite seines Teams. Diese Anspruchshaltung spiegelt seine Arbeitsweise und seine Anforderungen an die Mannschaft wider.
Bei diesem Lob für Klopps Spielanalysen muss man jedoch einschränken, dass er all diese positiven Punkte nicht hundertprozentig konstant umsetzt. Gerade in den schwächeren Phasen zwischen 2013 und 2015 rutschte er hier und da in „klassischere“ Erklärungsansätze. Zum Teil lag das daran, dass es wirklich außergewöhnliche Spielverläufe und Situationen gab. Möglicherweise war es hier und da auch eine absichtliche Strategie, um sich massentauglicher, gewissermaßen populistischer zu verkaufen und den öffentlichen Druck etwas aufzufangen. Die fehlenden Fortschritte weisen aber darauf hin, dass sich zugleich tatsächlich auch der Fokus seiner Arbeit etwas verschob. In ähnlicher Weise zeigen seine schon angesprochenen Ausraster am Spielfeldrand, dass er seine Emotionen nicht immer komplett im Griff hat.
Seine Herangehensweise ist außerdem gar nicht mal (mehr) so außergewöhnlich. Gerade in den letzten Jahren ist ein taktischer Fokus in der Spielanalyse zumindest in der Bundesliga weitestgehend Usus geworden. Das ist zum Teil ein kultureller Wandel, vor allem aber eine Folge der gestiegenen Qualität auf den Trainerbänken. Die substanziellen Aussagen auf Pressekonferenzen werden aber meist nicht in den Fernsehsendungen gezeigt, die sich stattdessen auf Kurioses oder Aussagen zu Schiedsrichterentscheidungen fokussieren.
Der differenziert taktische Stil der Problemanalyse ist in einem weiteren Sinne bedeutsam. Es ist nicht nur so, dass Klopp auf taktische Dinge schaut, er fokussiert sich dabei auch auf möglichst grundlegende Aspekte im strategischen Sinne. Das heißt, er schaut bei einem Gegentor nicht nur auf die Momente unmittelbar vor dem Treffer, sondern er schaut vor allem darauf, wie diese Momente entstanden sind. Bevor er einen Spieler für individuelles Verhalten kritisiert, stellt er die Frage, ob die Mannschaft die Situation nicht schon in den Sekunden zuvor hätte verhindern können.
Klopp ist zudem in der Bewertung von Fehlern sehr gut. Er erkennt, ob es für einen Spieler sehr schwer war, ein verlorenes Einsgegen-eins zu gewinnen, oder ob er sich tatsächlich schlecht angestellt hat. Er kann gut beurteilen, wie schwierig der gegnerische Angriff zu verhindern war. Er kann akzeptieren, dass man auch mal ein Kopfballduell verliert, wenn der Gegner mit mehr Geschwindigkeit ankommt. Er ist Realist und reagiert auf Misserfolge seiner Spieler nicht verurteilend und abwertend, sondern analytisch und konstruktiv. Er weiß, dass er seinen Spielern nicht beibringen kann, jeden Zweikampf zu gewinnen. Deshalb fokussiert er sich darauf, dass jeder Zweikampf abgesichert wird.