Читать книгу Vollgasfußball - Martin Rafelt - Страница 7
Klopp und das große „Wie“
ОглавлениеDas Ergebnis dieser analytischen Herangehensweise und zugleich wichtigste Säule von Klopps Erfolg ist, dass er weiß, wie man gut Fußball spielt. In der öffentlichen Diskussion ist das ein Faktor, der normalerweise völlig unter den Tisch fällt. Es wird davon ausgegangen, dass jeder weiß, wie das grundsätzlich geht. Aber das ist eben nicht der Fall. Das Fußballverständnis der meisten Menschen – in beobachtender und aktiver Rolle – ist von simplen dogmatischen Heuristiken geprägt, die sich über Jahrzehnte verselbstständigt haben und die von Verständlichkeit leben, nicht von Qualität. Viele Leute verstehen eigentlich gar nicht, wie Fußball fundamental funktioniert und wie seine Facetten aussehen, sondern sie kennen eine bestimmte Spielweise.
Das beste Beispiel dafür ist die Manndeckung mit Libero, die in Deutschland jahrzehntelang praktiziert und nicht hinterfragt wurde – bis irgendwann am ausbleibenden Erfolg klar wurde, dass es Spielweisen gibt, die besser sind. Auch die 4-4-2-Raumdeckung, die aktuell den Welt- und vor allem Jugendfußball prägt, ist nur eine einzelne, einigermaßen simple Art und Weise, mit der Komplexität des Spiels fertig zu werden. Beide Varianten setzen auf anspruchslose Orientierungen, die selbst für den untalentierten Fußballer nicht zu schwierig sind: Bei der Manndeckung suche ich mir einen einzelnen Gegenspieler, verfolge ihn und ignoriere das restliche Spiel mehr oder weniger. Bei der Raumdeckung halte ich mich an meine Position und reagiere auf das Spielgeschehen mehr oder weniger erst dann, wenn es in meiner unmittelbaren Nähe ist. In beiden Fällen blende ich einen großen Teil des Spielgeschehens aus, um der Komplexität des Spiels Herr zu werden.
Auffällig dabei ist auch, dass die großen, festen Regeln des Fußballs meist die Defensive betreffen. Weil die Offensive so sehr von den individuellen Fähigkeiten der Spieler abhängt, ist sie taktisch weitestgehend „unerforscht“. Offensive Maßnahmen beschränken sich meist auf die Betonung bestimmter individueller Mittel („mehr Flanken“) und unspezifische Rhythmusvorgaben („schneller spielen“). Genauere taktische Vorgaben lassen sich wegen der Dynamik und Komplexität des Spiels auch tatsächlich schwer so gestalten, dass sie anwendbar und effektiv sind. Trotzdem wird immer wieder von unterschiedlichsten Leuten betont, dass Fußball ein simples Spiel sei. Bei einem Spiel, in dem sich 22 Spieler völlig frei auf einem riesigen Feld bewegen, wodurch quasi unendlich viele Situationen entstehen können. Doch wenn das Spiel wirklich so einfach wäre, dann wäre Spielintelligenz sicherlich kein so seltenes Gut unter Fußballern. Spielern würde es auch viel leichter fallen, unbekannte Positionen zu spielen, und kreative Momente wären häufiger. So ist es aber nicht.
Beginnend vor etwa zehn Jahren hat sich das Fußballverständnis zwar rapide weiterentwickelt und verändert, und so werden zum Beispiel die Lehrinhalte des DFB ständig überarbeitet. Trotzdem wird immer noch wenig Augenmerk darauf gelegt, was die handwerklichen Umstände von Sieg und Niederlage sind. Das ist innerhalb des Fußballs teilweise so und im öffentlichen Verständnis ganz extrem. „Die können es doch eigentlich!“, wird gerne gesagt. Es wird also angenommen, dass die Frage, was auf dem Feld zu tun ist, wie man gut spielt, keine Frage ist. So, als ginge es nur darum, die Lösungen umzusetzen, und nicht darum, die Lösungen zu finden. Diese Herangehensweise ist falsch und führt immer wieder zu Ratlosigkeit bei der Erklärung von unerwarteten Erfolgen oder Misserfolgen.
Ich beginne dieses Buch mit diesem Verriss der Zustände im Fußball, weil dies fundamental für das Verständnis ist, was herausragende Trainer ausmacht. Wer eine Mannschaft formen will, die guten Fußball spielt, braucht eine genaue Vorstellung davon, was diesen guten Fußball ausmacht. Er muss genau wissen, wie es geht. Er muss nach schlechten Spielen herausfinden können, was die Mannschaft genau falsch gemacht hat. Er darf sich nicht hinter einer emotionalen Ursachenforschung verstecken, wenn es konkrete handwerkliche Defizite bei seiner Mannschaft gibt. Es gibt zahlreiche weitere Faktoren, die die Qualität eines Trainers bestimmen, doch das Verständnis für das Spiel ist das Fundament. Und um die Qualität eines Trainers zu verstehen und zu beurteilen, muss man dementsprechend ebenfalls auf diesen Faktor blicken.