Читать книгу Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation? - Martin Schaub - Страница 10
1.3 Theoretische Rahmung III: Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
ОглавлениеDie erwähnte Geschichtskultur stellt die dritte theoretische Erweiterung dar. Geschichtskultur bezeichnet die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit Vergangenheit und Geschichte umgeht.[21] Definitorisch prägend ist Rüsen, der an der Deutungsfunktion von Kultur in modernen Gesellschaften anknüpft.[22] Schönemann nimmt das Modell von Rüsen auf, kritisiert daran jedoch die anthropologische Verengung sowie die fehlende Historisierung der Dimensionen und gibt dem Modell in zweifacher Hinsicht eine wesentlich neue Richtung. Erstens definiert er vier geschichtskulturelle Dimensionen mit kommunikationstheoretischem Fokus, um das Konzept operationalisierbar zu machen.[23] Er unterscheidet die institutionelle Dimension (Rahmen geschichtskultureller Praxis wie Schulen, Archive, Museen etc.), die professionelle Dimension (spezifische Akteure wie Lehrpersonen, Wissenschaftler, Künstler etc.), die mediale Dimension (Vermittlungsformen wie Buch, Film, Lied etc.) sowie die adressatenspezifische Dimension (Adressaten geschichtskultureller Phänomen wie Schichten, Ethnien, Berufe etc.). Demantowsky nimmt diese Differenzierung auf, plädiert jedoch gleichzeitig dafür, dass die institutionelle Dimension den anderen heuristisch übergeordnet sei: die Institutionalität der Geschichtskultur sei ihr eigentliches, ihr empirisch evidentes Dasein.[24] Die vorliegende Studie läuft dieser Hierarchisierung entgegen, indem sie auch nach empirischer Evidenz im Diskurs fragt sowohl in der medialen als auch in der adressatenspezifischen Dimension.
In einem zweiten Schritt grenzt Schönemann die Kategorie der Geschichtskultur, die «Aussenseite des gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins», ab von derjenigen des individuellen Geschichtsbewusstseins, unterscheidet also ein kollektives Konstrukt von einem individuellen.[25] Mehrere Modelle liegen vor, welche die Eigenschaften des Geschichtsbewusstseins generell beschreiben, insbesondere die strukturanalytischen Modelle von Jeismann und Pandel, das genetische Modell von Borries’ sowie der funktionstypologische Ansatz von Rüsen.[26] Pandel strukturiert das als mentale Struktur bezeichnete Geschichtsbewusstsein in sieben Doppelkategorien, Doppelkategorien deshalb, weil er jede Kategorie antagonistisch auffächert. Den drei Basiskategorien Temporalbewusstsein (gestern – heute – morgen), dem Wirklichkeitsbewusstsein (real – fiktiv) und dem Historizitätsbewusstsein (statisch – veränderlich) stehen die fünf sozialen Kategorien gegenüber mit Identitätsbewusstsein (wir – sie), politischem Bewusstein (oben – unten), ökonomischem Bewusstsein (arm – reich) sowie moralischem Bewusstsein (richtig – falsch).[27] Rüsen seinerseits zielt darauf ab, manifestiertes Geschichtsbewusstsein in Form erzählter Geschichten funktionstypologisch zu ordnen. Dabei unterscheidet er vier Typen des historischen Erzählens, den traditionalen, den exemplarischen, den genetischen und den kritischen, mit je unterschiedlichen Erinnerungsleistungen, Kontinuitätsvorstellungen, Kommunikationsformen, Identitätskonstruktionen und Sinnbildungsmustern.[28] Von Borries visualisiert Rüsens Sinnbildungstypen in Form eines Spiralmodells, das die Typen in eine Entwicklungslogik stellt, entlang der Faktoren der Flexibilisierung und Individualisierung historischen Denkens.[29] Das Modell führt vom traditionalen über das exemplarische hin zum genetischen Erzählen, jeweils in einer affirmativen und einer kritischen Ausprägung, und entspricht damit der von Rüsen selbst angeführten Sonderstellung der kritischen Sinnbildung.[30] Im vorliegenden Projekt folgt die Analyse der geschichtlichen Vorstellungen der Rütli-Besuchenden einerseits dem funktionstypologischen Modell von Rüsen und andererseits dem strukturanalytischen nach Pandel.
Jeismann hatte bereits Ende der 1970er-Jahre als Erster ein strukturanalytisches Modell von Geschichtsbewusstsein entworfen, das auf drei unterscheidbaren Dimensionen der Erkenntnisleistung basiert, auf Analyse, Sachurteil und Wertung.[31] Dieses Konzept erweiterte er in der Folge und definierte Geschichtsbewusstsein als Reifegrad, der sich ganz wesentlich durch Reflexivität auszeichne.[32] Defizitäre historische Vorstellungen, welche diesen Grad nicht erreichen, bezeichnete er als «Geschichtsverlangen», «Geschichtsbild» und rein vergangenheitsbezogenes «historisches Verstehen». Das «Geschichtsbild», also eine im Vergleich zu geschichtswissenschaftlichen Darstellungen und Konzeptionen defizitäre Vorstellung, hat er an anderer Stelle definiert als eine individuelle und kollektive, gefestigte Gesamtvorstellung von Sinn, Wesen, Verlauf und Ziel der Geschichte.[33] Im Kontrast zu geschichtswissenschaftlichen Narrativen seien diese Vorstellungen, so Rolf Schörken, einerseits faktenarm und selektiv, andererseits urteilend, deutend, emotional.[34] Damit deckt sich auch Demantowskys Definition, die zusätzlich auf die narrative Abrufbarkeit hinweist, die gerade im vorliegenden Projekt von besonderer Bedeutung ist.[35] Vergleichbare Eigenschaften geschichtlicher Vorstellungen hat auch die Conceptual-Change-Forschung festgestellt. Als besonders wirkmächtig haben sich geschichtsbezogene implizite Theorien resp. Alltagstheorien erwiesen.[36] Diese lebensweltlich geformten Konzepte weisen typische Merkmale auf, die sie von wissenschaftsförmigen Inhalten unterscheiden, so beispielsweise die Personalisierung von Kollektiva und Strukturen (grosse Männer und Frauen) resp. Reduktion historischer Sachverhalte auf grosse Personen, monokausale Erklärungen, linear-eindimensionales Denken, die Personifizierung abstrakter Kategorien, die Stereotypisierung sozialer Ordnungsschemata, ein dominierender Gegenwartsbezug, der sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft prägt, sowie die Verkürzung der Vergangenheit auf ein allgemeines «früher». Solche Merkmale impliziter Theorien dürften auch in den geschichtlichen Vorstellungen nachweisbar sein, wie sie im vorliegenden Projekt erhoben werden. Im Fall des Rütlis beziehen sich diese Vorstellungen auf die mit dem Ort zusammenhängenden Mythen. Für die Analyse zu berücksichtigen ist daher der Umstand, dass sich die Merkmale mythischer Narrative und subjektiver Theorien teilweise überschneiden, wie beispielsweise der generalisierende Vergangenheitsbezug oder die stereotypisierenden, sozialen Konstellationen.[37]
Dass geschichtskulturelle Institutionen, Professionen, Medien und Publika das individuelle Geschichtsbewusstsein beeinflussen durch spezifische Basisnarrative, scheint offensichtlich, gerade auch im Bereich der nationalen historischen Sinnbildung, in dem das vorliegende Rütli-Projekt zu verorten ist. Demantowsky sieht in den Basisnarrativen erzählerische, nicht einem konkreten Autor zuordenbare Grundmuster geschichtskulturellen Zeitgeistes, der sich wahrscheinlich besonders gut anhand schulischer Geschichtslehrwerke analysieren lasse.[38] Davon unterscheidet er Meisterzählungen, die sich durch «wirkmächtige, aber gleichwohl auktoriale Erzählmuster» auszeichneten.[39] Beide gelte es, «in ihrer jeweiligen Genese, Morphologie, Funktionalisierung und Wechselwirkung» zu analysieren. Was Demantowsky mit diesen Analysekategorien andeutet, verdeutlicht und präzisiert Béatrice Ziegler, indem sie den Umgang mit Geschichte grundsätzlich als machtdurchdrungenen Prozess versteht, der interessengebundene Deutungen hervorbringt.[40] An die Stelle des Zeitgeistes setzt sie wirkungsmächtige Akteure, allen voran den Nationalstaat und seine Repräsentierenden, die Narrative zu prägen und durchzusetzen vermögen. Dies trifft besonders auf individuelle Vorstellungen zu, ja sogar auf persönliche Erinnerungen. Denn sogar solche Erinnerungen zeugten, so Ziegler, nicht von der vermeintlich selbst erfahrenen Vergangenheit, sondern vielmehr von deren Wirkung und der Verarbeitung, unter den Bedingungen der gesellschaftlich vermittelten kommunikativen Situation und den gesellschaftlich mächtigen Diskursen. Dazu trete die ebenfalls sozial bedingte und gerichtete Aufforderung an Individuen, sich zu erinnern – eine Aufforderung, die formal und inhaltlich wirke, das heisst Regeln des Erzählens und Grenzen des Aussprechbaren miteinschliesse. Dieses zwar sozial geprägte, aber dennoch individuelle Erinnern unterscheidet Ziegler vom Gedenken, das sie als kollektiven, machtbestimmten Umgang mit Vergangenheit bezeichnet.
Diese begriffliche Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung – wie die gesellschaftlich mächtigen Diskurse die individuellen Erinnerungen und Vorstellungen prägen, bleibt empirisch schwierig zu fassen. So ist die Wirksamkeit schulischer oder medialer Wissensvermittlung, die auf Derivaten wissenschaftlicher Erkenntnis basiert, mehrfach in Frage gestellt worden.[41] Empirische Nachweise, wie implizite Theorien entstehen resp. wie sie durch geschichtskulturelle Akteure, Institutionen oder Medien geschaffen und beeinflusst werden, stehen noch aus. Diese Lücke zu füllen, kann nicht das Erkenntnisziel des vorliegenden Projekts sein, der Nachweis solcher Abhängigkeiten wäre viel zu komplex und konzeptionell-methodisch kaum zu bewältigen. Vielmehr geht das vorliegende Projekt von Schönemanns Kategorisierung von individueller und kollektiver Vorstellung aus und fächert beide Kategorien möglichst breit auf. Auf diese Weise lassen sich zwar keine Interdependenzen nachweisen, jedoch parallele und konstrastierende Eigenschaften und Tendenzen sichtbar machen.